1995 erlebte Frankreich den heftigsten Generalstreik seit den 1960er Jahren. In Ihrer Heimatstadt Forbach mündeten wochenlange friedliche Demonstrationen schließlich in einen dreitägigen Gewaltexzess. Die Polizei setzte tausendfach Tränengas ein, viele Streikende wurden verletzt, setzten sich massiv zur Wehr und letztlich auch durch. Das Ganze ist jetzt 25 Jahre her. Was hat Sie dazu bewegt, den Bergarbeiterstreik filmisch zu dokumentieren? Vor etwa 12 Jahren habe ich einen Bergarbeiter kennengelernt, der 1995 an dem Streik teilgenommen und ihn gefilmt hat. Bis dahin hatte er die Bilder, diesen Gewaltexzess, noch niemandem gezeigt, es gab nur einige wenige Fernsehbilder. Daher weiß bis heute kaum jemand, die Forbacher eingeschlossen, was sich damals abgespielt hat. Es gibt nur Geschichten. Anfangs war er mir gegenüber noch sehr vorsichtig, denn er wollte niemanden gefährden. Schließlich könnte die Polizei Demonstrierende identifizieren. Es hat etwas Zeit gebraucht, sein Vertrauen zu gewinnen, aber eines Tages hat er mir den Film gegeben. Zuhause musste ich mir das Video gleich mehrfach anschauen, so beeindruckt war ich. So kam ich zu meinem Entschluss, einen Film darüber zu machen. Nicht nur über den Arbeitskampf, sondern auch, um eine Geschichte zu erzählen, die niemand zu kennen scheint. Schließlich hat mich der Bergbau als Kind geprägt, um 5 Uhr morgens zogen sie durch die Straßen und weckten uns, ich kannte viele, die am Streik teilgenommen haben. Mein Großvater hat sein ganzes Leben in der Mine gearbeitet. Was haben die Streikenden 1995 in Forbach erreicht? Eine außergewöhnliche Abfindung, den „Pacte Charbonnier“. Damit konnten sie mit 80-prozentigen Bezügen in Rente gehen. Und der Staat zahlte ihre Wohnunterkünfte und medizinische Versorgung. Die Bergarbeiter haben sich das hart erkämpft.  Die Mine 2001 zu schließen, war bereits beschlossen, für eine Region, die ein Jahrhundert davon abhing, aber kaum zu fassen. Mit dem Pacte war es möglich, die Kaufkraft in der Region relativ stabil und damit die lokale Wirtschaft am Leben zu halten – seien es Cafés oder Geschäfte. Damals warf die Polizei in Forbach Blendgranaten aus dem Helikopter ab, Szenen wie aus einem Krieg. Ja, das hatte man in Frankreich vorher noch nicht gesehen, so eine extreme Gewalt. Auch ein Gewerkschafter wurde schwer im Gesicht verletzt. Er wollte vor den Arbeitern reden, als ihn eine Blendgranate mitten im Gesicht traf. Daraufhin bereiteten sich die Streikenden auf einen Krieg vor. Da war eine rote Linie überschritten worden. Sie bastelten Molotowcocktails, einige besorgten sich Pistolen. Sonntagnacht verhandelte der Staat im Namen der Mine, denn es war kein privates Unternehmen, das die Mine in Forbach leitete. Man entschied sich angesichts der Eskalation, den Bergarbeitern nachzugeben und den „Pacte Charbonnier“ abzuschließen. So endeten die Auseinandersetzungen letztlich mit einem Erfolg. Andernfalls hätte es wohl wahrhaft einen Krieg mit Toten gegeben. Was hat sich unterdessen in Frankreich abgespielt? Man muss sich vergegenwärtigen, dass zu der Zeit Generalstreik in Frankreich herrschte angesichts der Reformen des Premiers Juppé. Über die frankreichweiten Streiks berichteten die Medien ständig, doch der Streik in Forbach fiel unter den Tisch, wohl auch, weil man diese Gewalt nicht im Fernsehen zeigen wollte, andere Französ*innen nicht zu etwas anstiften wollte, denke ich mir. Man hat nicht alles gezeigt. Was ändert sich aktuell in Forbach? In 20 Jahren wird es keine Bergarbeiter mehr geben, vermute ich. Das wird die Wirtschaft drastisch verändern, es wird kaum noch Kaufkraft geben. Schon heute besteht eine hohe Arbeitslosigkeit. Noch haben die Bergarbeiter dank dem Abkommen zwar ihr Gehalt. Doch anstelle zu arbeiten, sitzen sie nun die ganze Zeit zuhause. Viele kommen damit nicht klar, die Scheidungsraten sind hoch, viele greifen zum Alkohol. Auch für die jungen Leute sieht es düster aus. Wer kann, haut ab. Wer in der Region bleibt, hat kaum Perspektiven. Das klingt nach dem Nordfranzösischen Kohlerevier in Nord-Pas-de-Calais nahe Belgiens. Nicht wirklich. Zwar handelt es sich auch um eine Bergbauregion, doch die Geschichte verlief anders. Dort schloss die letzte Mine schon 1990, bei uns erst 2001. Die Menschen waren eher zwei Jahre arbeitslos und konnten anschließend leichter etwas Neues finden. Mir ist jedoch wichtig, die Geschichte meiner Heimat zu erzählen. Allzu oft bezieht man sich auf den Norden, da er Frankreichs Bergbau besser repräsentiere. Wir in der Moselle waren historisch und kulturell immer nah an der deutschen Grenze, die Region ordnen viele Franzosen gedanklich eher Deutschland zu. Das erklärt auch, wieso die Gewalt 1995 kaum Widerhall im Land gefunden hat. Was sich in der Moselle abspielt, ist ein eigener Mikrokosmos. Die Region interessiert den Rest Frankreichs nicht? Ja, das kann man so sagen. Die Leute haben eine Karikatur im Kopf, eine triste Region. Doch sie war mal reich, industriell spitze, dank des Bergbaus. Doch ich habe das Gefühl, das weiß kaum noch jemand. Das liegt auch am lokalen Museum: Dort ist keinerlei Rede vom „Pacte Charbonnier“. Kein Wort darüber, was sich die Bergarbeiter erkämpft haben. Soweit ich weiß, fällt das Wort „Streik“ kein einziges Mal. Die Jugendlichen aus Forbach haben keine Ahnung davon, was sich damals abgespielt hat. Hat das politische Gründe? Klar, wenn ein Museum entsteht, ist immer die Politik im Spiel. Bestimmte Museen in Frankreich, wie der Louvre, haben das staatliche Label „Musée de France“. Auch das Museum in Forbach gehört dazu. Die Geschichte der Gewerkschaften interessiert die Menschen an sich enorm. Warum sie im Museum nicht auftauchen, beschäftigt mich. Das wird auch Teil eines neuen Projektes sein, an dem ich zurzeit arbeite. Mit den Gilets Jaunes gab es zuletzt wieder eine starke Gegenbewegung gegen neoliberalen Sozialabbau. Sind Macrons Reformen heute mit denen 1995 vergleichbar? Klar, es ist die logische Fortsetzung. Juppé wollte massiv einsparen, auf Kosten der Arbeitnehmer*innen: Teurere Arzneimittel, rationalisierte Krankenhäuser, höherer Sozialzuschlag auf Einkommen, Einschnitte bei den Rentenansprüchen. Das betraf auch die Bergarbeiter. Der Sozialabbau setzt sich bis heute unter Macron fort. Juppé war damals nicht erfolgreich, Sarkozy trat jedoch in seine Fußstapfen. Er hat auch damit begonnen, die Krankenhäuser kaputtzusparen. Das hat sich auch in meiner Heimatstadt Forbach deutlich ausgewirkt: Nach den Reformen gab es anstelle dreier nur noch ein Krankenhaus. Seit 10, 15 Jahren haben wir in Frankreich Angst, zur Notaufnahme zu gehen. Wegen der schlechten medizinischen Versorgung befürchten viele, nicht mehr lebendig herauszukommen. Es gibt schlichtweg zu wenig Mittel. Inwiefern betrifft das Frankreich heute? Das zieht sich bis heute, bis zur Coronakrise durch – wir erleben heute in Frankreich die Konsequenzen dieses Sparkurses. Wir haben keine Tests, Masken und keine Industrie, die die notwendigen Materialien herstellen könnte. Besonders dramatisch ist die Situation bei den Beatmungsgeräten. Bei uns beläuft sich die Zahl auf um die 4 000. Für 67 Millionen Franzosen. In Deutschland hingegen stehen an die 30 000 Beatmungsplätze zur Verfügung. Es ist diese medizinische Unterversorgung, die uns den strikten Lockdown von März bis Mai beschert hat. Wie nehmen Sie die Stimmung wahr? Ich glaube, in der Bevölkerung keimt gerade ein enormer Protest. Das wird sich noch entladen, sobald der Lockdown komplett endet. Die Regierung wird sich verantworten müssen. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass die Leute wieder auf die Barrikaden gehen werden. Denn man muss sich ja vor Augen halten, dass die aktuelle Rentenreform Macrons nur pausiert, auf einen späteren Zeitpunkt verschoben wurde. Ich hoffe nicht, dass er das ernsthaft durchziehen will. Nach der Coronakrise und der kommenden Rezession sollte er dem Land nicht noch weiter schaden. Die Coronakrise schadet auch den Kulturbetrieben, eigentlich würden Sie „Grève ou crève“ aktuell auf Festivals zeigen. Den Film zu verbreiten, gestaltet sich schwierig dieser Tage. Alles war zunächst erstmal auf Stand-by wegen Corona. Es freut mich sehr, den Film in den kommenden Tagen online auf dem Champs-Élysées Film Festival zeigen zu können, auch bei einem späteren Festival in Shanghai ist der Film nominiert. Mich bewegt besonders, „Grève ou crève“ in Forbach zu zeigen, dort eine Debatte anzuregen. Dabei ist das Thema kein lokales. Kann man sich der Gewalt bedienen, um für sein Recht einzustehen? Das betrifft uns alle, nicht nur Forbach. Auch die politische Linke hadert mit Gewalt als politischem Mittel. Victur Hugo schreibt in „Les Misérables“: ‚Es gibt akzeptierte Aufstände, die als Revolutionen bezeichnet werden. Und es gibt abgelehnte Revolutionen, die als Aufstände bezeichnet werden.‘ Auch ich stelle mir die Gewaltfrage, daher auch der Titel, Strike or Die. Entscheidend ist doch: Was nährt Gewalt, woher stammt sie? Das ist bedeutender als die Frage der Notwendigkeit. Wenn man den Leuten nicht zuhört und ihnen ihre Würde nimmt, verschaffen sie sich eben Gehör, wie damals in Forbach und den umliegenden Städten. Vor dem dreitägigen Exzess protestierten Männer, Frauen, gar Kinder, lange friedlich. Der Staat jedoch nahm die Forderungen nicht ernst und brach Versprechen. Gewalt stellt sich vielschichtig dar. Haben Sie dafür Beispiele? Vor Kurzem habe ich mit einem Gewerkschafter aus dem Film telefoniert. Seine Frau arbeitete freiwillig im Krankenhaus Forbach während der Covid-19-Krisenzeit. Danach stellte sich heraus, dass die Entschädigung von 250 Euro für ihre Fahrtkosten nicht gezahlt wurde. Auch das ist für mich Gewalt, diese fehlende Wertschätzung. Man sieht sie nicht, aber auch diese Form existiert. Die Ausschreitungen in meinem Film mögen spektakulärer sein. Ein anderes Beispiel: Die Polizei überwachte Jugendliche mit Drohnen in den vergangenen Monaten, ebenso eine Form der Gewalt. Auch zwei Monate zuhause zu bleiben, schränkt Menschen gewaltsam ein. In dem Falle scheint sie notwendig, nicht? Für die Bergarbeiter bestand jedenfalls kaum eine andere Wahl, die Gewalt war das letzte Mittel. Aber auch hier ist der Quell der Unzufriedenheit entscheidend. In Forbach schätzte der Staat eine Mine, die seit über 100 Jahren die Region ernährte, nicht wert. Die Bergarbeiter reagierten gewalttätig, ja, aber die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Schließung brachten sie in existenzielle Nöte. Ob Gewalt manchmal unabdingbar scheint, um sich politisch durchzusetzen, bleibt eine Frage, die mich auch weiterhin beschäftigen wird. Für die junge Generation meiner Heimatstadt ist die Gewalt ein Erbe, das sich gewandelt hat. Zorn ist blinder Wut gewichen. Ich schließe mit einem weiteren Zitat Victor Hugos: ‚Eine Revolution ist eine Rückkehr von der Falschheit zur Realität.‘ Das Gespräch führte und übersetzte Nathanael Häfner. Der Film läuft ab 13. Juni auf dem Champs-Élysées Film Festival.

Anmerkung

[1] Der Film lief 2020 auf der Berlinale. Kontakt zum Verleiher gibt es unter https://www.taskovskifilms.com/