Die Art und Weise, wie unsere sozialen Beziehungen organisiert und wie menschliche Tätigkeiten miteinander verbunden sind, produziert eine Dynamik, die niemand kontrolliert, die Ungerechtigkeit, Gewalt und Erniedrigung hervorbringt und nun droht, menschliches Leben gänzlich zu zerstören. In deinem Buch zitierst du Walden Bello, der sagt: »Neoliberalismus ist wie der Lokführer, der in einem alten Westernfilm erschossen wird und mit der Hand am Beschleunigungshebel stirbt. Er ist tot, aber beschleunigt unaufhaltsam weiter bis zur totalen Katastrophe für die Passagiere.« Aber es ist nicht nur der Neoliberalismus: Der Kapitalismus ist das Problem, ein System, in dem die sozialen Beziehungen auf Geld gründen und treibende Kraft die Jagd nach mehr Geld und Profit ist. Wie können wir den Zug anhalten und aussteigen? Wie können wir die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung durchbrechen, die uns dem Abgrund entgegen treibt? Das ist das Problem. Das ist die Frage aller Antikapitalisten, Kommunisten, Sozialisten, Anarchisten, aller Menschen, wie auch immer wir uns nennen wollen. Dein Buch handelt von Demokratie. Um die Hand des Fahrers zu lösen, müssen wir den Kapitalismus – die derzeitige Organisation menschlicher Tätigkeit – herausfordern; aber in deiner Auseinandersetzung mit Demokratie wird Kapitalismus so gut wie nicht erwähnt. Ich sehe deine Protagonisten-Passagiere in einem anderen Licht. Meiner Ansicht nach organisieren sie sich nicht nur, um die Qualität ihres Sitzplatzes im Zug zu verbessern. Sie schlagen gegen die Fenster und schreien, um auszusteigen oder rennen vielleicht alle in die Gegenrichtung in der Hoffnung, dass sie den Zug dazu bringen können, umzukehren. Du sprichst beispielsweise vom Exodus Kollektiv in Luton, das begann, kostenlose Raves in der Marsh-Farm-Siedlung zu organisieren und mit der Zeit in einen mühsamen Bewerbungs- und Administrationsprozess hineingezogen wurde. Schließlich hatte es eine New-Deal-Subvention in Höhe von 50 Millionen Pfund für Gemeinden zu verwalten, was der Entwicklung der Siedlung dienen sollte. Dies führte, wie du sagst, zu wirklichen Verbesserungen. Aber steckt in den Raves nicht etwas mehr als lediglich der Versuch, das Leben im Kapitalismus zu verbessern? Im Rave verbirgt sich ein Schrei nach Verweigerung: ein Einschlagen von Fenstern, ein Laufen in die Gegenrichtung, die Herstellung von sozialen Beziehungen auf einer anderen Basis als Geld. Ich nenne das einen »Bruch« in den kapitalistischen sozialen Beziehungen: ein bewusstes oder nicht so bewusstes Nicht-Einpassen, ein Verneinen-und-Schaffen, eine Verweigerung, mit dem kapitalistischen Strom zu schwimmen, und ein Versuch, das Leben auf einer anderen Basis hier und jetzt aufzubauen. Im Rave gibt es einen Widerspruch zwischen Reinpassen und Nicht-Reinpassen: eine Spannung zwischen »Lasst uns die Jugendlichen von den Straßen holen und dafür sorgen, dass sie eine gute Nacht haben«, und »Lasst uns gegen eine Welt auflehnen, in der das Realitätsprinzip identisch mit Geld ist«. Wie verhalten wir uns zu dieser Spannung? Auf wessen Seite sind wir? In deinen vielen Beispielen wird deutlich, dass der Staat in allen Fällen ein Prozess ist (manchmal mehr, manchmal weniger reaktionsfähig), der diese Situationen aufnimmt und in das herrschende System einfügt. Es geht nicht nur darum, Zugeständnisse zu machen, sondern die Leute in einen Prozess des Entscheidung-Treffens zu bringen. Die, die zuvor ausgeschlossen waren, werden miteinbezogen. Der Staat wird demokratisiert; der Staat wird von den Menschen zurückgefordert. Die, die zuvor Objekte der Politik waren, werden zu Subjekten. Dennoch sind die Subjekte, die aus dem Prozess, den du beschreibst, hervorgehen, sehr begrenzt in ihrer Subjektivität. Sie werden bestenfalls Subjekte der Politik, aber nicht Subjekte gesellschaftlicher Entscheidung. Die Politiken, die sie beeinflussen dürfen, verorten sich im unhinterfragten und unhinterfragbaren Kontext des Kapitalismus, im privaten Besitz und Profit und allem, was damit einhergeht. Du magst dies als einen ersten Schritt zu einer vollständig emanzipierten Subjektivität deuten, zu einem wirklichen Gestalten der Gesellschaft von unten. Das könnte sein, wenn solche Versuche der Demokratisierung als Teil einer Bewegung im-gegen-und-über-den-Kapitalismus-hinaus interpretiert würden, in der die Frage nach dem Bruch zentral ist. Aber ich finde in deiner Darstellung keinen Hinweis, dass es so sein könnte. Am Ende des Buches habe ich das Gefühl, überlistet worden zu sein: Sicher, die Dinge können verbessert werden, aber in deinem Buch scheint niemand zu denken, dass eine andere Welt möglich ist, eine Welt ohne staatliche Subventionen und Bürokraten, ohne Geld und Profit, ohne Kapital. Mein Argument ist genau das Gegenteil. Ich denke, dass es eine tiefe und wachsende Wut gegen die Herrschaft des Geldes gibt. Die Wut drückt sich nicht nur auf den Straßen aus, sondern artikuliert sich in den unzähligen Weisen, auf die Menschen sich weigern, jeden Aspekt ihres Lebens vom Geld bestimmen zu lassen, und versuchen, andere Wege, andere Weisen des Zusammenseins und des Denkens zu finden. Diese Revolten, dieses Veweigern-undSchaffen, sind Brüche in der Logik des kapitalistischen Gefüges, Risse in der Herrschaft des Geldes, Ausbrüche gegen eine Welt der Zerstörung. Das ist die aufregende Seite der Raves: Nicht dass sie der Anfangspunkt für ein besseres »Reinpassen« in die Strukturen des Kapitalismus sind, sondern ihr Potenzial für einen Ausbruch des Nicht-Reinpassens. In eine Gesellschaft des Todes zu passen, bedeutet selbst zu sterben. Lasst uns »nicht reinpassen« und in unserem Nicht-Reinpassen wachsen und zusammenkommen. Das ist sicherlich der einzige Weg, auf dem wir die Frage danach stellen können, wie wir diese Welt aufbrechen und eine andere schaffen können. Wut jetzt, Wut gegen die Herrschaft des Geldes!

Hilary Wainwright

Inspiriert von deinem Buch »Kapitalismus aufbrechen« kann ich sagen: Wir teilen den gleichen Ausgangspunkt, unterscheiden uns aber in den Herausforderungen, die sich von der Praxis aus stellen. Ich teile den Sinn für die Gefahren, mit denen wir konfrontiert sind, und sehe wie du Brüche, die weiter aufbrechen. Ich stimme ebenfalls zu, dass wir Wege finden müssen, unsere gemeinsamen Kräfte zu bündeln, wenn wir die Brüche öffnen und erweitern wollen. Diese Kräfte setzen weder ein Zentrum noch eine totalisierende Vision voraus, sondern berücksichtigen die Multiplizität der verschiedenen Kämpfe und Versuche der Veränderung. Auf Grundlage unserer Übereinstimmung widerspreche ich: Durch das Buch zieht sich die Frage: Gibt es einen Weg, den globalen Kapitalismus und die unzähligen Revolten gegen die täglichen Erniedrigungen zu verstehen; einen Weg, wie wir dieses Dilemma begrifflich fassen können, der uns hilft, uns anzunähern oder zusammenzufinden, um eine andere Welt zu schaffen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zu Marx’ zentraler These zurückgehen, dass Arbeit im Kapitalismus eine doppelte Natur hat. Auf der einen Seite ist Arbeit abstrakte Arbeit, die im Prozess der Warenherstellung für den Markt enthalten ist; objektiviert als Wert und ausgedrückt im Warentausch gegen Geld, aus dem das Kapital seinen Profit zieht. Auf der anderen Seite steht die Dimension der Arbeit, die du »Tätigsein« nennst, die Arbeit, die in der Produktion von Gebrauchswert enthalten ist – konkret und besonders, gesellschaftlich und individuell. Im Kapitalismus stehen, wie du betonst, die beiden Formen der Arbeit in ständiger Spannung miteinander: Kreative, sinnvolle Tätigkeit wird disziplinierter Arbeit zur Profitmaximierung untergeordnet. Potenziell selbstbestimmte Arbeit steht entfremdeter entgegen. Diese latente Spannung als Revolte zu deuten, die die gesamte Gesellschaft durchzieht, sei der Antrieb, der den gegenwärtigen antikapitalistischen Kämpfen gemeinsam ist. Die »Zukunft der Welt« hänge davon ab, »den einheitlichen Charakter der Arbeit aufzuspalten«. Ich stimme damit überein; die Brüche, die wir 1968 mit dem Paternalismus und der Kommerzialisierung der Nachkriegsordnung gemacht haben, werden bestätigt und weiter getrieben. Aber ein anderes Thema der 68er war die Revolte gegen die eindimensionale, gewählte Staatsbürgerschaft, die auch in den heutigen Kämpfen aufgegriffen wird. Deine Weiterentwicklung von Marx’ Analyse der doppelten Natur der Arbeit hat mich inspiriert, die doppelte Natur der Staatsbürgerschaft zu analysieren. So lassen sich Brüche in den staatlichen Institutionen ausmachen, die wir erweitern können und müssen, wenn wir den Kapitalismus aufbrechen wollen – dem scheinst du nicht zuzustimmen. Meine Argumentation ist wie folgt: Du hast Recht mit deiner Analyse vom dominanten Charakter der staatlichen Institutionen und ihrer Beziehung zur Gesellschaft: Sie trennen und fragmentieren Wirtschaft von Politik, die Versorgung der Gemeinschaft von der Gemeinschaft, Bürger untereinander und von ihrem sozialen Kontext. Deine Beschreibung erfasst aber nur eine, wenn auch die dominante Dimension der Staatsbürgerschaft. Wir können der vereinzelten und abstrakten Natur der Staatsbürgerschaft, welche parlamentarische Institutionen stärkt, das Potenzial von BürgerInnen als gesellschaftlichen Subjekten gegenüberstellen. Dies zeigte sich historisch an den Kämpfen von besitzlosen männlichen Arbeitern und Frauen für das allgemeine Wahlrecht. Ein aktuelles Beispiel wären Bewegungen, die überall auf der Welt für das Versprechen auf politische Gleichheit kämpfen, das eingelöst werden soll, indem enge staatliche Institutionen aufgebrochen werden und die öffentliche Macht direkten Formen der Partizipation unterworfen wird; in den politischen Entscheidungen früher die geheime Domäne der Deals zwischen politischer Elite und Privatwirtschaft. (Das war der Anstoß für viele Experimente in der partizipativen Demokratie, besonders in Lateinamerika.) Wir könnten hier von einer Subjektbürgerschaft oder vergesellschafteten Staatsbürgerschaft versus einer atomistischen Staatsbürgerschaft sprechen. Ein Beispiel für diese vergesellschaftete Staatsbürgerschaft wären die Bewegungen, einige Teile der Gewerkschaften eingeschlossen, die sich auf der ganzen Welt gegen Privatisierung wenden, oft mit alternativen Vorschlägen, wie Dienstleistungen organisiert werden können, die die Vielfalt sozialer Bedürfnisse berücksichtigen. Hier organisieren sich BürgerInnen als Subjekte. Sie öffnen den Bruch zwischen der staatlichen Verwaltung von öffentlichen Geldern und dem Drang des Kapitals nach neuen Märkten und Profitquellen. In vielen solcher Bewegungen verbindet sich die Durchsetzung von Subjektbürgerschaft oder vergesellschafteter Staatsbürgerschaft mit der Revolte gegen abstrakte Arbeit. Die Art und Weise, wie diese Kämpfe organisiert sind, führt mich zu einem zweiten Einspruch. Dies betrifft deine Absage an Institutionen – deinen offensichtlichen Unwillen, die Möglichkeit und Wirklichkeit von Institutionen unterschiedlicher Art in Betracht zu ziehen. Ich würde gern – wie du – an das Fließen, den Tanz, an die Bewegung der Bewegungen glauben, weiß aber, dass das Fließen eine stete Quelle braucht und Bedingungen gegeben sein müssen, um es auf Dauer zu stellen. Das Fließen der Bürgerbewegungen gegen die Privatisierung öffentlicher Güter beispielsweise brauchte den Rückhalt der Gewerkschaft, die zwei Jahrzehnte früher während der Kämpfe gegen die Diktatur gegründet worden war, wie ein Aktivist in der Bewegung für staatliche Wasserversorgung aus Uruguay meinte. Ähnlich ist es mit dem Fließen der Beziehungen in der Open-Software-Bewegung, das von den Rahmenbedingungen abhängt, die die GNU General Public License1 schuf. Es ist wichtig, zwischen zwei Ebenen gesellschaftlicher Existenz zu unterscheiden: nachhaltige soziale Strukturen auf der einen Seite und soziale Interaktion und Beziehungen zwischen Individuen auf der anderen. Während die traditionelle Linke dazu neigte, immer nur in Strukturen zu denken und die menschlichen Wesen als Träger oder Produkte der sozialen Strukturen zu behandeln und so unsere Handlungsmöglichkeiten als wissende Subjekte vernachlässigte, die die Strukturen verändern können, verfällst du in das andere Extrem und unterstellst nur Beziehungen, ohne zu berücksichtigen, auf welche Weise die Strukturen den Individuen sowohl präexistent sind als auch für ihre Reproduktion von ihnen/uns abhängen. Du hast ein Gespür dafür, wie wir unsere eigene Geschichte machen – da wir es sind, die diese Gesellschaft schaffen, insistierst du darauf, dass »wir damit aufhören und anders handeln können«. Aber du berücksichtigst nicht, dass wir Geschichte nicht »unter selbstgewählten Umständen machen«, wie der alte Mann sagte.

John Holloway

Deinen Ausführungen zur doppelten Natur der Staatsbürgerschaft stimme ich zu und widerspreche dir zugleich. Der Staat im Allgemeinen ist eine Form von Organisation, die sich über Jahrhunderte entwickelt hat, um auszuschlie- ßen, zu teilen und zu fragmentieren und die sozialen Unzufriedenheiten so zu reformulieren, dass sie mit der kapitalistischen Reproduktion vereinbar werden. In diesem allgemeinen Rahmen gibt es sicherlich viele, die in die entgegen gesetzte Richtung laufen und diese tradierten Strukturen zu durchbrechen streben, indem sie neue Formen der Organisation und des Handelns schaffen. Viele von uns, die Lehrer in staatlichen Organisationen sind, versuchen es zum Beispiel so: Wir kämpfen im-gegenund-über-den-Staat-hinaus und versuchen eine Welt jenseits von Kapitalismus zu öffnen. Für mich ist das Teil der Bewegung gegen abstrakte, entfremdete Arbeit. Mit deinen Worten: Das ist die Bewegung der »sozialisierten« gegen die »atomisierte« Staatsbürgerschaft. Mein einziges Problem mit dieser Formulierung ist, dass das Wort »Staatsbürgerschaft« den Kampf an den Staat bindet; genau die Form der sozialen Beziehung, die wir versuchen zu durchbrechen – wir müssen über den Staat hinausgehen und deshalb auch über die Staatsbürgerschaft. Der stetige Kampf im-gegen-und-überden-Staat-hinaus ist zentral in unserem Leben (selbst wenn wir nicht beim Staat angestellt sind, kommen wir ständig mit ihm in Kontakt). In diesem Sinne betrachte ich den Staat wie ein gewaltiges Saugen: Er saugt uns ein und zwingt uns zur Konformität mit einer Gesellschaft, die vom Geld bestimmt ist. Oder vielleicht kann man ihn auch als ein gigantisches Fischernetz sehen, das unsere Unzufriedenheiten einfängt und der Logik des Kapitals unterordnet. Diese Unterordnung vollzieht sich über: die verwendete Sprache, das Ausfüllen von Formularen, die unzähligen Arten, wie der Staat uns Geld anbietet, wenn wir das, was wir wollen, nur auf eine bestimmte Weise ausdrücken, und die Kürzungen der Ausgaben. Die Kürzungen sind nicht gegen den Staat gerichtet, sondern notwendig für sein Funktionieren: Er fängt uns ein, indem er uns Ressourcen verspricht, um dann zu sagen: »Entschuldigung, aber die wirtschaftliche Lage lässt nicht zu, euch das zu geben, was wir versprochen haben«. Und dann versuchen wir, uns selbst zu verteidigen, aber natürlich bedeutet Verteidigung, sich innerhalb der staatlichen Logik zu verorten. Der Staat ist die Bewegung von Expansion-und-Kontraktion: Den Staat gegen die Kürzungen zu verteidigen, hat überhaupt keinen Sinn. Kämpfen um zu handeln (oder für Menschlichkeit oder für Kommunismus), wo auch immer wir sind, im-gegen-und-über-den-Staat-hinaus, ist der antikapitalistische Kampf des täglichen Lebens. Hierbei unterscheide ich zwischen einem situativen Kontakt mit dem Staat, bei dem wir versuchen, über den Staat hinaus zu gehen, weil wir uns schon drinnen befinden – als Angestellte oder Empfänger von Stipendien oder Sozialleistungen – und einem angestrebten Kontakt mit dem Staat, bei dem wir versuchen, hineinzukommen (als gewählte RepräsentantInnen) und ihn in unsere Richtung zu lenken. Im ersten Fall ist der Kampf im-gegenund-über-den-Staat-hinaus unausweichlich. Im zweiten Fall ist die saugende Kraft des Staates so stark, dass wir nicht weit kommen werden, ohne unsere antikapitalistische Perspektive aufzugeben. Als eine »Hit-and-Run«-Aktion mag dies sinnvoll sein – als ein Versuch, schnell etwas zu erreichen und rasch wieder auszusteigen –, nicht aber als ein längerfristiges Unternehmen, bei dem schon bald die antikapitalistische Perspektive zugunsten der Karriere zurückstehen müsste. Zur Frage der Institutionen: Du sagst, dass du zwar auch die Bewegung, das Fließen, den Tanz magst, wir jedoch ein institutionelles Rückgrat brauchen. Vielleicht sind wir jetzt noch Gehbehinderte und brauchen institutionelle Krücken. Aber richtig Laufen zu lernen bedeutet, unsere Krücken wegzuwerfen. Unser Bewegen ist ein anti-institutionelles Bewegen. Möglicherweise müssen wir auf dem Weg Institutionen (oder Gewohnheiten) schaffen, aber wenn wir diese Institutionen nicht untergraben, sobald wir sie schaffen, verkehren sie sich leicht in ihr Gegenteil. Das Fließen der Rebellion ist ein Bewegen, das niemand kontrolliert: Wenn wir versuchen, es zu lenken, werden wir wahrscheinlich feststellen müssen, dass die Bewegung selbst diese Regeln bricht.

Hilary Wainwright

Wir stimmen überein, dass es beim Kampf im-gegen-und-über-den-Staat-hinaus darum geht, eine Welt jenseits von Kapitalismus zu öffnen. Unsere Differenzen betreffen die Frage, inwieweit dem einsaugenden oder entfremdenden Charakter staatlicher Institutionen entgangen werden kann und diese vorsichtig im Kampf für eine Welt jenseits von Kapitalismus genutzt werden können. Bei der Staatsbürgerschaft geht es um Rechte in einer geteilten Gemeinschaft – anfangs war es eine Stadt, dann ein National-Staat, und jetzt sind es möglicherweise internationale Institutionen. Falls es eine Möglichkeit für eine Welt ohne Staaten gibt und der Staat »abstirbt« – wäre das das Ende von Politik und das Ende kollektiver Entscheidungsfindung über Ressourcen, Prioritäten, Regeln, Gesetze, Standards und so weiter, die unausweichlich Machtbeziehungen implizieren? Es wäre das Ende des Staates als eine abgetrennte, herrschende Macht, aber es gäbe immer noch Politik und damit auch eine Art von Staatsbürgerschaft. Zielen wir nicht mit den Formen der Organisation und – ich betone – den selbstbestimmten Organisationen, die wir schaffen, um Entfremdung in all ihren Ausprägungen entgegenzutreten, darauf, eine andere Form der Staatsbürgerschaft zu schaffen? – Eine Staatsbürgerschaft, die, wenn wir Menschen wählen (und wir werden Formen sowohl der Repräsentation als auch der Delegation brauchen), die Macht, die wir ihnen geborgt haben, nicht gegen uns wenden und Politik nicht als eine entfremdete Form präsentieren. Autonome Organisationen – vom Staat und vom Kapital – sind eine Bedingung der Möglichkeit, um den Staat zu kontrollieren und über ihn hinauszugehen. Marx hat das in seiner Analyse des Kampfes für den Achtstundentag im Großbritannien des späten 19. Jahrhunderts veranschaulicht. Er zeigte, wie die organisatorische Fähigkeit der Arbeiter – getrieben von ihrem gemeinsamen Interesse, ihrem Zusammenhalt, ihrer Anzahl, der Abhängigkeit der herrschenden Klasse von ihren Stimmen und ihrer Arbeit – sie befähigte, eine autonome Quelle politischer Macht am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft zu entwickeln. Diese Macht wurde genutzt, um Arbeitgeber und politische Parteien zu spalten und die Gesetzgebung dazu zu bringen, die Stunden entfremdeter Arbeit zu reduzieren. Das war ein legislativer Gewinn: ein Gewinn im-gegen-und-potenziell-über-denStaat-hinaus, nicht nur was die Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter angeht, sondern, viel wichtiger: um ihre autonome politische Macht zu verbessern und ihnen mehr Zeit zum Kommunizieren, Debattieren, Lesen, Denken und Organisieren zu geben. Das bringt mich zu den Kämpfen in der Marsh Farm Siedlung: von den Ravern, die sich mit der Polizei auseinandersetzten, den Brauereien und dem Gemeinderat, die sich um eine Alternative zu den kommerziellen Wucherpreisen im Lutoner Stadtzentum bemühten, über die Besetzung eines leeren Hospizes als autonomes Wohngebiet, bis hin zur »Aneignung der Rhetorik« des »New Deal for Communites«-Programms der New Labour Party. Seitens der Anwohner sollte die Kontrolle über die öffentlichen Gelder sichergestellt werden, die für die »Erneuerung« des Gebiets zur Verfügung gestellt wurden. In diesem letzten Kampf wollten sie mit dem Staat nach ihren eigenen Bedingungen verhandeln. Nach 18 Jahren, in denen die Aktivisten der Marsh Farm Siedlung im-gegen-und- über-den-Staat-hinaus waren, sehen sie sich nicht »eingesaugt«, wie du andeutest. Im Gegenteil, sie sehen, dass sie »die öffentlichen Ressourcen von diesen Top-Down-Banditen zurückfordern, und sie einsetzen, um die kapitalistischen Strukturen, welche unsere Gemeinde dominieren, durch effektivere und sozial nützlichere zu ersetzen«. Eine Schlüsselbedingung war das stetige Entwickeln einer autonomen Organisation: sich wachsam allem Druck widersetzen und den »Unterdrücker imitieren«, um es mit den Worten von Paulo Freire zu sagen. Wie du insistieren sie auf »learning by doing«. Du solltest sie treffen. Du würdest sehen, dass die Verbindung zwischen dem Gewinn der Macht über die Subventionen – das ist das minimale demokratische Element innerhalb des Staates und jeder autonomen Organisation – und den Werten und Perspektiven von Menschen, die gegen soziale Ungerechtigkeit am Arbeitsplatz und in den Gemeinden kämpfen, entscheidend für ihre bescheidene transformative Macht ist, ebenso wie bei dem historischen Beispiel der Arbeiter, die für den Achtstundentag kämpften. Die traditionelle sozialdemokratische Herangehensweise an Sozialismus – erst Staatsmacht gewinnen und dann das Kapital kontrollieren – versagt immer, weil sozialdemokratische Regierungen, wenn es um die Produktion von Reichtum geht, immer aufs Kapital angewiesen sind. Sie erkennen nie ihre Verbündeten an: die arbeitenden Menschen als wissende, selbstbestimmte Subjekte, die als Produzenten tätig sind und über die Fähigkeit verfügen, eine andere Wirtschaftsweise zu organisieren. Diese Sichtweise ist in den Institutionen sozialdemokratischer Parteien und Gewerkschaften, so wie sie derzeit organisiert sind, verankert und reduziert die Arbeiter auf ihre Rolle als einfache Wähler, Unterstützer, Lohnbezieher. Die Idee, die Macht zu teilen oder sich mit den Menschen oder Organisationen außerhalb der Parlamente zu verbinden, wird von vornherein verworfen. Politiker sehen sich als die Ingenieure der Veränderung und alle anderen sind von diesem Prozess ausgeschlossen. Wir können nicht stehen bleiben und die Institutionen aufgeben. Wir müssen diese Institutionen dort besetzen, wo wir sie – während wir uns organisieren – transformieren können. Aus dem Englischen von Jasmin Ihrac  

Anmerkungen

1 Von der Free Software Foundation (FSF) veröffentlichte Freie-Software-Lizenz mit Copyleft für die Lizenzierung von freier Software.