Kritisiert zu werden kann weh tun und in Konflikten behaupten sich alle unterschiedlich gut. Was so persönlich klingt, betrifft auch die Fähigkeiten, die wir brauchen, um uns an Formen ambitionierter Demokratie beteiligen zu können. Die Utopie einer demokratischen Planung von Wirtschaft scheitert, wenn die Individuen ihre Rollen darin nicht ausfüllen können – wie auch immer sie sich je nach angestrebtem Modell gestalten.

Von Entscheidungen, wer in leerstehende vergesellschaftete Wohnungen ziehen darf, ob der Hinterhof für Autostellplätze genutzt wird oder wie hoch die Mieten sind, sind nicht nur Mieter*innen, sondern auch Verwaltungsmitarbeiter*innen und im weiteren Sinne auch die Stadtgesellschaft betroffen. In einem subsidiären Rätesystem, wie wir es mit Deutsche Wohnen & Co enteignen für die Wohnungsversorgung in Berlin anstreben, sollen möglichst viele Entscheidungen dort getroffen werden, wo die Probleme auftreten (vgl. DWe 2023). Dabei ist mitunter konfrontative Aushandlung zu erwarten.

Doch über welche Fähigkeiten müssen wir verfügen, um uns an Formen der Selbstverwaltung und Mitbestimmung aktiv zu beteiligen? Die Frage ist auch angesichts der autoritären Tendenzen, die wir aus historischen Beispielen ökonomischer Planung kennen, relevant. Bei diesen Überlegungen müssen wir uns Individuen so vorstellen, wie sie gerade sind: mit Mehrfachbelastungen und Sorgeverpflichtungen, mit verschiedenen kulturellen und politischen Verortungen sowie politischen und aktivistischen Vorerfahrungen. Wie lassen sich Menschen zum aktiven Mitmachen materiell, psychologisch und durch Wissen befähigen, damit in den demokratischen Gremien nicht nur die Leute sitzen, die auch heute schon politischen Aktivismus betreiben? Dabei müssen wir das Zusammenspiel mit den möglichen Arbeits- und Abstimmungsverfahren diskutieren, die die Einzelnen in ihren Rollen unterstützen und entlasten können.

Demokratiebildung – eine Bestandsaufnahme

Diese Fragen sind eng mit der Frage der Bildung verbunden. Eine Traditionslinie von Rousseau über Kant zu Dewey verortet die Herausbildung »gute[r] Bürger« in der Schnittmenge von Bildungstheorie und politischer Philosophie und sucht dort nach den Voraussetzungen eines demokratischen Gemeinwesens (vgl. Honneth 2012, 430). Im Neoliberalismus wird Demokratie vor allem als Aushandlungsprozess mit offenem Ausgang verstanden, an dem sich die Bürger*innen beteiligen können sollen. Dabei wird nachgeordnet oder sogar ignoriert, dass Demokratie immer substanzielle Wertvorstellungen voraussetzt – allen voran die Überzeugung, dass alle Menschen gleich sind.

Heute soll die schulische Demokratiebildung auf die aktive Beteiligung an einer parlamentarischen bürgerlichen Demokratie vorbereiten. Die Aktivität wird am Akt des Wählens gemessen, was die bloß regelmäßig Wählenden zu Ausübenden des aktiven, die entscheidungsbefugten Politiker*innen zu Ausübenden des passiven Wahlrechts erklärt. Diese Politiker*innen repräsentieren vermeintlich nicht Interessen, sondern »die Allgemeinheit« oder »das Gemeinwohl« (vgl. Demirović 2009) und sind entsprechend in ihren Mandaten nicht gebunden. Zwar betont die Politikdidaktik die aktive Bürger*innenrolle, allerdings zielt sie damit eher auf eine aktive Inaktivität, etwa im Sinne eines kritischen Publikums, das beobachtet, kritisiert und sich im Zweifel zivilgesellschaftlich einmischt. Folgerichtig ist die Politikdidaktik auf die Fähigkeit der Urteilsbildung fokussiert (vgl. de Moll u. a. 2013, 157) und weniger auf Handlungsfähigkeiten oder gar -routinen. Genau diese benötigen wir aber für eine wirklich demokratische Verwaltung unserer Wohnungen.

In der Didaktik ist seit dem »Pisa-Schock« 2003 der Kompetenzbegriff leitend, der Lernprozesse relativ unmittelbar an ihrer Nützlichkeit für die spätere Lohnarbeit bemisst. Begrüßenswert ist, dass der Kompetenzbegriff den Fokus auf Intelligenz und Begabung zurückgedrängt hat (vgl. ebd., 299), doch er legt zugleich immer schon fest, zu welchen Zwecken das Lernen stattfindet. Demokratiefähigkeit sollte aber zu einem Handeln führen, dessen Ziele und Charakter erst in der gemeinsamen Aushandlung konkretisiert werden. So können wir als Initiative für die Vergesellschaftung zwar die Vision einer demokratischen Verwaltung entwickeln, die ökologische, antirassistische, feministische und weitere Belange einbezieht, doch welche Perspektiven, Themen und Probleme wir dabei verkennen, wird erst in einem noch ambitionierteren und breiteren Aushandlungsprozess in den späteren demokratischen Strukturen deutlich werden. 

Kritik- und Konfliktkompetenz werden­ in der gegenwärtigen kritischen Politikdidaktik als zentrale demokratische Kompetenzen benannt. Ich möchte beiden eine zusätzliche aktive Wendung geben, um so eine vorläufige Vorstellung davon zu entwickeln, welche ­Fähigkeiten wir brauchen, um in tiefer­gehend demokratischen Strukturen tätig zu werden.

Doppelte Kritikfähigkeit

Die kritische politische Bildung baut in jüngerer Zeit auf Theorien radikaler Demokratie auf und fokussiert auf die Kompetenz der »Unterbrechung« (ebd., 302). Die kritisch politisch Handelnden werden in einer politisch minoritären und randständigen Rolle gesehen und sollen zum kritischen Einspruch befähigt und ermächtigt werden. Es geht um die Wahrnehmung und Kritik von Ausschlüssen und Wirkungsweisen von Herrschaft. 

Doch wir stellen uns Mieter*innen oder Arbeiter*innen vor, die weit mehr als kritisches Publikum sein sollen und wollen. In demokratischen Mit- und Selbstbestimmungsstrukturen geht es nicht mehr nur darum, Ausschlüsse zu erkennen und zu skandalisieren, sondern darum, die betreffenden Personen und Themen mit verstärkenden Artikulationsmöglichkeiten auszustatten. Denkbar wäre zum Beispiel in manchen Fällen ein privilegiertes Vetorecht. In der gemeinsamen Praxis müssen wir Ausschlüsse und Hierarchien erkennen, die aus den unterschiedlichen Vorerfahrungen und der Normalisierung bestimmter Rhetoriken und Argumentationsmuster folgen. Kritikfähigkeit muss dann auch in die kollektive kreative Gestaltung und Umgestaltung der eigenen Arbeitsweise und -kultur übergehen.

Der klassische Begriff der Kritikfähigkeit muss nicht nur aktiv gewendet, sondern zusätzlich in einem doppelten Sinne verstanden werden: Die Einzelnen müssen selbst kritikfähig, also kritisierbar werden. Damit Kritik nicht als Verletzung der eigenen Person empfunden wird, benötigen Menschen ein stabiles Selbstwertgefühl. Das hat auch materielle Voraussetzungen. Wer immer am Limit, weil erschöpft oder überanstrengt ist, lässt sich kaum kritisieren, da doch stets im Rahmen der Möglichkeiten das Beste versucht wurde. Kritikfähigkeit erfordert eine Infrastruktur, etwa durch die Übernahme von Kinderbetreuung und anderen Sorgetätigkeiten oder Sitzungsgeld, das die Lohnarbeitslast etwas verringert. Joyce Rothschild-Whitt weist in einer bemerkenswerten Studie von 1979 darauf hin, dass die Beziehungen in kollektivistischen Organisationen den Einzelnen mehr versprechen, dadurch aber zugleich Konflikte und Kritik als gefährlicher empfunden werden (Rothschild-Whitt 1979, 521). Die emotionale Intensität macht es mitunter schwieriger, mit Kritik umzugehen, weil die Kritik besondere Autorität hat. Ein imperatives Mandat kann entlasten, weil es zu bestimmten Positionierungen, Prioritätensetzungen oder Abstimmungsverhalten verpflichtet und den Spielraum für selbstverantwortete Entscheidungen begrenzt. Die Mandatsträger*innen sind dann nicht mehr dafür zuständig, die eigenen Interessen oder diejenigen der anderen zu bestimmen, sondern dafür, die Anliegen ihrer Interessengruppe auch in konfliktiven Entscheidungssituationen zu vertreten.

Welcher Konflikt?

Die Politikdidaktik sieht Konfliktkompetenz als die angemessene Kompetenz im Umgang mit Pluralität – aufseiten der Bürger*innen durch eine Haltung der Toleranz und aufseiten der Parlamentarier*innen in Form von Kompromissbereitschaft. Kompromissbereitschaft gilt im Parlamentarismus als Reifemerkmal für die konstruktive politische Arbeit. Um Konfliktfähigkeit tatsächlich aktiv zu verstehen, müssen wir zunächst klären, mit welchem Konflikt wir es in ambitionierten demokratischen Strukturen zu tun haben. Solange wir uns keine umfassend demokratisierte Wirtschaft, sondern lediglich die Vergesellschaftung von Teilsektoren vorstellen, bleibt die Reibung zwischen verschiedenen Prinzipien eine Quelle von Konflikten: Radikale demokratische Strukturen kollidieren mit den sie umgebenden politisch-parlamentarischen, marktwirtschaftlichen und verwaltungstechnischen Vorgängen unter anderem aufgrund ihrer sehr unterschiedlichen Transparenzansprüche und ihres unterschiedlichen Arbeitstempos. Demokratische Konfliktfähigkeit bedeutet also gerade in Übergangsphasen, Informationsstände einzuklagen und eine eigene Zeitlichkeit durchzusetzen. Letzteres ist entscheidend, um zwischen radikal demokratisch verfassten Strukturen und rationalisiert-bürokratischen Abläufen den Spielraum für eine interne, wirklich demokratische Aushandlung offenzuhalten. Damit haben wir in der Arbeit mit Deutsche Wohnen & Co enteignen reichlich Erfahrungen gesammelt: Die regierenden Parteien und ihre führenden Vertreter*innen versuchen immer wieder, Sprechsituationen zwischen ihnen und einzelnen Aktiven herzustellen, in denen unter der Bedingung der Vertraulichkeit ein Entgegenkommen in Detailfragen angeboten wird. Der Anspruch, Entscheidungen kollektiv und demokratisch zu treffen, wird so vermeintlich zum Hindernis für eine Zusammenarbeit.

Doch welche Konfliktkonstellation ergibt sich innerhalb einer umfassend demokratisierten Wirtschaft oder eines vergesellschafteten Sektors, etwa in der gemeinsamen Vertretung von Mieter*innen, Beschäftigten und der weiteren Stadtgesellschaft? Die frühen theoretischen Auswertungen der Räteerfahrungen bieten hier nur wenig Anhaltspunkte, da sie dem Proletariat einen einheitlichen Willen unterstellten. So schrieb etwa der niederländische Astronom und Rätekommunist Anton Pannekoek (2023 [1946], 70), mit der Vergesellschaftung der Wirtschaft sei das Verschwinden von Politik zu erwarten. Eine interessante Ausnahme bilden einige Texte von Karl Korsch, so »Sozialisierung und Arbeiterbewegung« von 1919. Darin beschreibt er, wie der Interessenwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit abgelöst werde durch den Widerspruch zwischen Produzent*innen und Konsument*innen sowie zwischen den Produzent*innen eines bestimmten Betriebs oder Wirtschaftssektors und der Gesamtheit der Produzent*innen (Korsch 1980 [1919], 90). Bislang habe der Kapitalist »vorgegeben«, die jeweils anderen Interessen zu vertreten. »Durch den Wegfall dieses überflüssigen Zwischengliedes [gemeint ist der Kapitalist] kommt der notwendige und natürliche Interessengegensatz zwischen Produzenten und Konsumenten, Arbeitern und Genießern erst recht zur Geltung.« (Ebd., 90f) Es ist also eine Entfesselung des Konflikts zu erwarten, wenn an die Stelle des verhärteten Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit die Artikulation von lebendigen Bedürfnissen tritt.

Im Falle der Vergesellschaftung von Wohnraum lässt sich gleich eine ganze Reihe von Interessenkonflikten antizipieren, etwa zwischen dem Interesse der Mieter*innen der vergesellschafteten Wohnungen an möglichst niedrigen Mieten und dem Interesse der Wohnungssuchenden an höheren Mieten, die Neubau ermöglichen oder auch Wohnungen für Obdachlose oder Geflüchtete finanzieren könnten. Das Interesse an niedrigen Mieten kann zudem mit dem gesamtgesellschaftlichen Ziel der energetischen Modernisierung und dem Interesse der Mitarbeiter*innen der Wohnungsverwaltung an höheren Löhnen und kürzerer Arbeitszeit kollidieren (vgl. DWe 2023).

Neue Konfliktfähigkeit

Was macht vor diesem Hintergrund Konfliktfähigkeit der Einzelnen aus? Sich nicht zu fügen oder gerade sich willentlich fügen zu können? Ist Konfliktfähigkeit eine Form der Durchsetzungs- oder eigentlich der Kompromissfähigkeit? Prinzipiell die eigene starke Interessenvertretung zu ermöglichen, dafür sprechen laut Michael Albert (2006, 100) mindestens drei gute Gründe: Letztlich kennt und versteht man doch die eigenen Interessen am besten. Außerdem kann man sich nicht zu jedem Zeitpunkt in alle anderen gut hineinversetzen. Zuletzt irrt man sich in der Einschätzung anderer Interessenlagen – auch bei gutem Willen. Albert fragt auch, wie Strukturen aussehen könnten, die diesen Problemen begegnen, und weist darauf hin, dass Individuen und Interessengruppen sich umso weniger selbst zurücknehmen müssen, je mehr das Verfahren bereits ihre jeweilige Betroffenheit berücksichtigt. Es müssen also Strukturen und Verfahren gefunden werden, die den Konflikten Orte »außerhalb« der Individuen geben, sodass sie guten Gewissens ihre eigenen Interessen vertreten können. Denkbar sind gewichtete Stimmabgaben oder bei besonders ungleicher Betroffenheit auch Exklusiventscheidungen durch bestimmte Gruppen (vgl. ebd., 93). Die eigenen Interessen stark und auch gegen andere Interessen artikulieren zu können, stellt als Konfliktresistenz gerade auch in radikaldemokratischen Strukturen eine Machtressource dar. Sie ist nicht nur eine charakterliche und biografisch erworbene Disposition, sondern erfordert starke Netzwerke und Allianzen. 

Für Albert ist ein weiteres wesentliches Merkmal der Konsensbildung, dass sich im Vorfeld einer Entscheidung alle über die Interessen aller anderen informieren. Diese »partizipatorische Vorbereitung« sei zu unterscheiden von einer »Forderung nach Einstimmigkeit« (ebd., 95). Die notwendigen »Informationstechniken« für die Vorbereitung auf strittige Konsensentscheidungen könnten auch für andere Abstimmungsverfahren wertvoll sein. Für die längerfristige Effizienz von Entscheidungsverfahren ist es sinnvoll, die Komplexität der anderen Positionen wirklich zu verstehen, da sonst in jedem Konfliktfall Entscheidungen durch die gleichen Missverständnisse gelähmt werden.

Eine neue Konfliktfähigkeit müsste also gerade auch die Metafähigkeit umfassen, über angemessene Entscheidungsverfahren für unterschiedliche Konfliktkonstellationen zu entscheiden, etwa darüber, ob ein Mehrheitsvotum in einer strittigen Frage wirklich langfristig Bestand haben kann. Nur wenn Mandatsträger*innen die Konflikte verstehen und nachvollziehen, lassen sich angemessene Verfahrenslösungen finden und legitimieren. Dafür ist der Aufbau von vielfältigem Erfahrungswissen notwendig. All diese Überlegungen zeigen, dass wir auch ein neues Verständnis und neue Praxen des emanzipatorischen Kompromisses brauchen, denn aktuell haben wir es ständig mit hegemonialen Setzungen zu tun, die uns als Kompromisse verkauft werden.

Im Hinblick auf Entscheidungsstrukturen und -verfahren müssen wir an ambitionierten demokratischen Modellen arbeiten, die Selbstbestimmung und Repräsentation kombinieren, da es immer Individuen und Gruppen geben wird, die sich selbst nicht beteiligen können oder wollen. Die Frage nach den individuellen Fähigkeiten verweist zudem ganz unbedingt auf umfassendere Fragen der Bildung: Wie demokratisieren wir auch die Diskussion, was Bildung für radikale Demokratie umfassen muss? Welche Art der Bildung kann auf welchen Wegen diese Ziele erreichen?