Doch macht sich angesichts der Verhandlungen zwischen der SYRIZA-geführten Regierung und der Eurogruppe Kater-Stimmung und Ernüchterung in der Linken breit: Die
Troika heißt jetzt nicht mehr so, macht aber weiter wie gehabt. Statt eines Schuldenschnitts hat sich die griechische Regierung (vorerst) dazu verpflichtet, die Verbindlichkeiten gegenüber den Gläubigern einzuhalten. Auch wenn es sich nur um eine Brückenfinanzierung handelt, entsteht bei vielen der etwas voreilige Eindruck, dass SYRIZA an ihrem Anspruch, mit der Austeritätspolitik zu brechen, ›gescheitert‹ sei. Nachdem die Austeritätspolitik schon als diskreditiert und die deutsche Bundesregierung als zunehmend isoliert galten, scheint das europäische Krisenregime wie ein Untoter fortzuleben, sich sogar zu reanimieren und die Reihen wieder hinter sich zu schließen.
Für eine abschließende Beurteilung ist es aber noch zu früh. Sowohl diejenigen, die die Austeritätspolitik schon vor ihrem Ende sahen, als auch jene, die nun bereits das Scheitern SYRIZAs verkünden, unterschätzen die Beständigkeit und Konsolidierung des europäischen Krisenregimes. Beide Positionen – oft zwei Seiten der gleichen Medaille – übersehen, dass alles, was in den vergangenen Jahren von der EZB oder unter Stichwörtern wie
Six Pack,
Economic Governance,
Fiskalpakt und neuerdings
Towards a Genuine Economic and Monetary Union diskutiert und umgesetzt wurde, sich längst nicht nur auf kurzfristig ausgerichtete Austeritätspolitik bzw. deren Radikalisierung reduzieren lässt. Vielmehr stellen diese Reformprojekte einen langfristig angelegten Versuch des herrschenden Krisenregimes dar, die Unsicherheiten und Krisentendenzen des finanzdominierten Akkumulationsregimes, d.h. wiederkehrende Blasenbildungen im Finanzsystem, spekulative Angriffe gegen einzelne Staaten und abrupte Kapitalvernichtungen, in den Griff zu bekommen. Damit haben sich diese Politiken in den vergangenen Jahren nicht nur tief in das Gefüge der EU eingeschrieben, sondern sie haben auch die Integrations
muster, also die Vorzeichen, unter denen sich die europäische Integration vollzieht, grundlegend verändert. Austeritätspolitischer Druck wird zunehmend direkt und autoritär ausgeübt, jedoch gleichzeitig durch ein umfangreiches System wirtschaftspolitischer Haftungs- und Stabilisierungsmechanismen ›versüßt‹. Diese Konsolidierung des Krisenregimes erschwert entsprechend einen grundlegenden politischen Bruch einzelner Länder mit der Austeritätspolitik. Die linke Hoffnung, das europäische Krisenregime könne quasi im Handumdrehen gestürzt werden, ist verfehlt: Der Bruch lässt sich nicht von heute auf morgen vollziehen, sondern erfordert einen langen Atem. Will die Bewegung gegen die herrschende Krisenpolitik, die mit SYRIZA und Podemos neuen Aufwind erhält, eine gesamteuropäische Durchschlagskraft entfalten, darf sie die Konsolidierung dieses neuen europäischen Integrationsschubs in ihren strategischen Überlegungen nicht vernachlässigen. Das muss auch in Zukunft bei der Beurteilung der Politiken der von SYRIZA geführten griechischen Regierung und einer etwaigen spanischen Regierung unter
Podemos bedacht werden.
Auf dem Weg zu einer echten Wirtschafts- und Währungsunion – Just more of the same?
Zu den Details der
Economic Governance, des
Europäischen Semesters, des
Fiskalpakts oder des
Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), also der zentralen Vehikel der Krisenbearbeitung auf EU-Ebene, sind in den letzten Jahren viele kritische Analysen entstanden.
[1] Was alle diese Reformprojekte auszeichnet, ist zunächst ihre radikale austeritätspolitische Ausrichtung: Durch die Verschärfung ›fiskalischer Disziplin‹ werden Kernbereiche öffentlicher Infrastruktur oder das, was davon übrig ist, zerschlagen und Lohnkürzungen, Deregulierung und Privatisierung durchgesetzt. Gerade in den südeuropäischen Ländern wie Griechenland, Portugal oder Spanien haben sich die sozialen Konsequenzen dieser Politik dramatisch zugespitzt. Tiefe Einschnitte in soziale Rechte, ein massiver Anstieg der Arbeitslosigkeit, die zunehmende Rückverlagerung reproduktiver Tätigkeiten auf Frauen und in den Privatbereich sowie der Aufstieg neo-faschistischer und rassistischer Parteien in etlichen europäischen Ländern gehören inzwischen zum neuen Alltag. Darüber hinaus haben alle diese Krisenmaßnahmen auch grundlegende Auswirkungen auf die politische Architektur der Eurozone und der EU. Sie verlagern bedeutende Kompetenzen wie die Haushaltsplanung schrittweise von den Parlamenten zu den nationalen und europäischen Exekutiven und schwächen damit zunehmend jene Terrains der politischen Auseinandersetzung, die noch vergleichsweise leicht für politische Kräfte von unten zugänglich waren. Damit hat sich die Krise – zynisch gesprochen – auch als ›Chance‹ erwiesen, eine autoritär-neoliberale Agenda globaler Wettbewerbsfähigkeit durchzusetzen, die bereits vor der Krise mit der Lissabon-Strategie auf den Weg gebracht wurde.
Doch gibt es neben der Verschärfung von Austerität und dem autoritären Umbau der EU noch eine
dritte Entwicklung im europäischen Krisenregime, die gerade auch von progressiven Akteuren und Analysen übersehen wird und die sich im aktuellen Projekt der Schaffung einer
Genuine Economic and Monetary Union, also einer ›echten‹ Wirtschafts- und Währungsunion (WWU), besonders verdichtet.
Dieses Projekt wurde ursprünglich 2012 von den vier Präsidenten des Europäischen Rats, der Europäischen Kommission, der EZB und der Euro-Gruppe auf den Weg gebracht und besteht aus drei Hauptelementen, die bis heute zu unterschiedlichen Graden unabhängig voneinander vorangetrieben und realisiert wurden. Um ihre Stoßrichtung zu beurteilen, lohnt ein genauerer Blick auf die Einzelteile des Projekts.
1| Wohl am bekanntesten sind die so genannten Pakte für Wettbewerbsfähigkeit, die auch bereits einige kritische Aufmerksamkeit erfahren haben. Die Grundidee ist hier, die Politik der so genannten
Memoranda of Understanding zwischen der Troika und den Ländern unter dem »Rettungsschirm« ESM auf die gesamte Eurozone und möglicherweise darüber hinaus auszudehnen. In vertraglichen Vereinbarungen mit der Europäischen Kommission würden sich die Mitgliedsstaaten zu »Strukturreformen« verpflichten, die ihre »Wettbewerbsfähigkeit« und ihr Wachstum steigern sollen – wobei klar ist, worauf dies hinauslaufen wird: weitere Kürzungen im Bereich der öffentlichen Infrastruktur, Reduktion von Arbeitskosten, Deregulierung von Arbeits- und Dienstleistungsmärkten etc.. Im Gegenzug sollen vertragstreue Mitgliedsstaaten besondere finanzielle Unterstützungen erhalten, »to
overcome possible social and political difficulties in implementing these reforms«
[2] – wie es im Entwurf der Europäischen Kommission offenherzig heißt. Ein Vertragsbruch soll dagegen mit empfindlichen Strafen bis zu 0,1 Prozent des BIP geahndet werden können.
2| Während die Pakte für Wettbewerbsfähigkeit noch recht eindeutig die oben beschriebene autoritär-neoliberale Austeritätspolitik fortsetzen, weisen die weiteren Elemente in eine andere Richtung. Durch die kontinuierliche Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen sollen die Mitgliedsstaaten Zugang zu einer neu konzipierten »Fiskalkapazität« erlangen. Dabei geht es um »fiskalische Risikoteilung«, d.h. die Abfederung von »länderspezifischen Schocks« durch zusätzliche Mittel der EU, sodass die Auf- und Abschwünge der jeweiligen Wirtschaftszyklen ausgeglichen werden.
[3] Besonders pikant: Die Fiskalkapazität hätte die Möglichkeit, Geld von den Kapitalmärkten zu leihen, was einer Einführung von Euro-Bonds durch die Hintertür gleichkäme.
3| Darüber hinaus sieht der Entwurf für eine ›echte‹ WWU eine weitreichende Re-Regulierung der Bankenaufsicht und -abwicklung in der Eurozone vor – das ist jener Teil des Projekts, der unter dem Stichwort »Bankenunion« bis heute am weitesten gediehen ist.
[4] Sowohl der einheitliche Aufsichtsmechanismus (
Single Supervisory Mechanism, SSM) als auch der einheitliche Bankenabwicklungsmechanismus (
Single Resolution Mechanism, SRM) und der gemeinsame Einlagensicherungsmechanismus (
Single Bank Resultion Fund, SBRF) verfolgen eine ähnliche Stoßrichtung des Risikomanagements und der »Schockabfederung« wie die Fiskalkapazität. Zunächst zielt der im Herbst 2014 in Kraft getretene einheitliche Aufsichtsmechanismus auf eine verschärfte Überwachung der 128 größten bzw. bedeutendsten Banken der Eurozone ab, die zusammen bis zu 85 Prozent der gesamten Bilanzsumme von Privatbanken in der Eurozone umfassen, und verlagert deren Aufsicht von den nationalstaatlichen Behörden zur EZB. Im Gegenzug darf der ESM nun auch einzelne Banken – und nicht mehr ausschließlich Euro-Länder – direkt rekapitalisieren.
[5] Darüber hinaus wurde mit dem 1. Januar 2015 auch die Verantwortung für die Abwicklung zahlungsunfähiger Banken auf die europäische Ebene übertragen. Mit dem einheitlichen Bankenabwicklungsmechanismus wurde ein Abwicklungsfonds eingerichtet, der angeschlagenen Banken besondere Kreditlinien zur Verfügung stellt. Er finanziert sich über Beiträge der Privatbanken, die sich nach einem
ex-ante Risiko-Evaluierungs-System richten. Im tatsächlichen Falle einer Bankpleite greift dann eine festgelegte Beteiligungsordnung, nach der zunächst die Shareholder, dann die Gläubiger und zuletzt sogar große Bankkunden für die Kosten der Abwicklung zur Kasse gebeten werden. Nur wenn dies nicht ausreicht, soll der ESM als letzter Auffangmechanismus in Kraft treten, wobei die dadurch entstehenden Kosten durch Abgaben der Finanzbranche nachträglich wieder ausgeglichen werden sollen.
Dass Merkel und Schäuble wie im Dezember 2014 bekundet einen Austritt Griechenlands aus dem Euro inzwischen anders als 2012 für verkraftbar halten, mag auch einen verhandlungstaktischen Hintergrund angesichts des Aufstiegs von SYRIZA in Griechenland haben. Sie vertrauen aber gleichzeitig darauf, dass ESM,
Economic Governance und nicht zuletzt die Bankenunion ein weitverzweigtes, komplexes und krisenresistentes System von Frühwarn-Indikatoren, Sanktionsprozeduren und Stabilisierungsverfahren sowohl im Hinblick auf potentielle Krisenländer als auch den Bankensektor etabliert haben. Dies allein auf Austeritätspolitik zu reduzieren, würde zu kurz greifen – es ist eben nicht
just more of the same. Jenseits ausgabenseitiger Kürzung und Angriffen auf soziale Rechte liegt der Fluchtpunkt der herrschenden Projekte zur Restrukturierung der EU darin, die Risiken der schockartigen Vernichtung spekulativen Kapitals durch ein weit verzweigtes System von Ex ante-Überwachungsverfahren und Ex post-Stabilisierungsmechanismen beherrschbar und kontrollierbar zu machen. Bemerkenswert ist, dass in diese Rekonfiguration viele ursprünglich linke oder keynesianische Forderungen wie die nach gemeinsamen Haftungssystemen oder die Beteiligung von Shareholdern und Gläubigern Eingang gefunden haben, diese jedoch nur Schritt für Schritt im Gegenzug zur Umsetzung radikaler Kürzungspakete und der institutionellen Absicherung und Überwachung von Austerität implementiert werden. Das Anleihenkaufprogramm der EZB, das im Januar 2015 noch einmal drastisch aufgestockt wurde, geht in eine ähnliche Richtung, indem der Aufkauf von Staatsanleihen an die Bedingung der Fortführung des Austeritätskurses geknüpft wird. Es handelt sich um zwei miteinander verschränkte Säulen der Krisenpolitik – um Zuckerbrot und Peitsche.
[6] So wenig damit die tatsächlichen Ursachen der Krise, insbesondere die dramatische Überakkumulation von Kapital, gelöst werden, so wenig sollte diese Konsolidierung des europäischen Krisenregimes unterschätzt werden. Denn mit dem Projekt Genuine
Economic and Monetary Union wird nun auch deutlich, dass es sich nicht allein um kurzfristige Krisenbearbeitungsversuche, sondern eine langfristige Entwicklungsstrategie der EU von oben handeln könnte – möglicherweise sogar mit Auswirkungen auf die Muster europäischer Integration selbst.
Die Durchsetzung der wettbewerbsstaatlichen Integrationsweise
Das wirft die Frage auf, wie sich die aktuellen Entwicklungen in das weitere Panorama der europäischen Integration einordnen lassen. In der Erforschung der europäischen Integration waren lange Zeit zwei konkurrierende Theorien vorherrschend: Neofunktionalismus und Intergouvernementalismus. Der Neofunktionalismus geht davon aus, dass ökonomische Integration ein Positivsummenspiel ist, in dem alle Beteiligten profitieren. Daraus folgen Anstöße für weitere Integrationsschritte auf politischer Ebene, wobei so genannte Spill-over-Effekte entstünden: Die erfolgreiche Kooperation in einem Politikbereich bringt Kooperation in anderen Politikbereichen in Schwung, eine sich selbst tragende Eigendynamik der Integration gegenüber den Nationalstaaten, die diese ursprünglich initiierten, entfaltet sich. Demgegenüber insistiert der Intergouvernementalismus, dass die Interessen von Nationalstaaten weiterhin ausschlaggebend sind und einen einmal angestoßenen Integrationsprozess wieder rückgängig machen können, sofern er ihren politischen oder wirtschaftlichen Interessen entgegenläuft.
Obwohl beide Ansätze als entgegengesetzte Enden des Diskussionsspektrums zur europäischen Integration gelten, teilen sie doch zentrale Grundannahmen: Sie suchen nach einem allgemeinen, übergreifenden Prinzip der Integration und gehen davon aus, dass sich die europäische Integration im Wesentlichen im Spannungsfeld von nationaler Souveränität und entstehenden supranationalen Institutionen abspielt. Hier liegt der Einsatz der wegweisenden, aber über die kritische Forschung zur EU kaum rezipierten Arbeit Patrick Zilteners
Strukturwandel der europäischen Integration[7]. Ziltener zeigt, dass der Prozess der europäischen Integration nicht linear, sondern vielmehr
diskontinuierlich verlief und keiner singulären, übergeordneten Entwicklungslogik folgt. Zentral seien vielmehr die sich verändernden Entwicklungsformen des europäischen Nachkriegskapitalismus.
Ziltener unterscheidet im Wesentlichen zwei Hauptphasen. Die erste Phase des Integrationsprozesses lässt sich als »keynesianisch-korporatistische Integrationsweise« beschreiben, die bis in die späten 1960er Jahren hinein dominant war, angesichts der divergierenden nationalen Krisenbearbeitungsstrategien in den 1970ern jedoch zunehmend brüchig wurde und in die Krise geriet. Für die daran anschließende Herausbildung der zweiten, neoliberalen Phase einer »wettbewerbstaatlichen Integrationsweise« in den 1980er Jahren waren drei Faktoren ausschlaggebend:
Erstens gewann das europäische Währungssystem mit dem Zusammenbruch von Bretton-Woods 1973 rasant an Bedeutung und bildete sich zu einem entscheidenden Bereich europäischer Kooperation heraus. Hierbei stand die Sicherung der Währungsstabilität im Vordergrund, wohingegen andere Gesichtspunkte wie Wachstum, Beschäftigung oder die langfristige Konvergenz europäischer Ökonomien an den Rand gedrängt wurden.
Zweitens bestand auf Seiten großer europäischer Kapitale das Interesse, die innereuropäische Marktintegration zur Erhöhung der Skalenerträge voranzutreiben, um in der zunehmenden Konkurrenz mit US-amerikanischen und japanischen Unternehmen bestehen zu können. Und
drittens entstand ab 1983 mit dem Scheitern der sozialistischen Wirtschaftspolitik Mitterands in Frankreich ein vergleichsweise homogener Wirtschaftsraum in Westeuropa.
Das zentrale Projekt, um das sich der neue europäische Integrationsschub formierte, war die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes. Als umfassendes Liberalisierungs- und Deregulierungsprogramm riss es die vorhandenen Hindernisse für freien Kapitalverkehr in der Europäischen Gemeinschaft nieder, ohne jedoch gleichzeitig eine gemeinsame europäische Fiskalpolitik neu aufzubauen. Damit entwickelte sich auch ein neues
Muster der Integration: Während die keynesianisch-korporatistische Integrationsweise noch darauf gesetzt hatte, ein System supranational harmonisierter europäischer Standards zu schaffen, verließ sich die neue entstehende wettbewerbsstaatliche Integrationsweise beim Abbau von Handelshemmnissen auf die gegenseitige Anerkennung nationaler Standards – was das Regulationsniveau zwangsläufig auf ein Minimum drücken musste. Anstatt also neue Standards zu setzen, hielt die neue Integrationsweise nationalstaatliche Regierungen davon ab, Handelsbeschränkungen oder andere Selektionsmechanismen zu erlassen. Insofern war die neue Methode der europäischen Integration vor allem eine
negative, was sich auch in die Konstruktion der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) einschreiben sollte: Ihre wirtschaftlichen Leitlinien beschränkten sich lange Zeit auf das strikt monetaristische Statut der EZB
[8] und die Konvergenzkriterien von Maastricht
[9]. Dadurch wurde die klassische Strategie der Währungsabwertung zum Erhalt der nationalen Konkurrenzfähigkeit blockiert.
[10] Vor dem Hintergrund der Liberalisierung der Kapitalmärkte ließ das Korsett der WWU den Mitgliedsländern genau einen Weg offen: den der Austerität, also der so genannten inneren Abwertung in Form von Lohnsenkungen sowie die Teilnahme an der konkurrenzgetriebenen Abwärtsspirale in der Steuerpolitik.
[11] Doch war es kein Korsett, das einzelnen, ›wehrlosen‹ Mitgliedsstaaten von einer übermächtigen Europäischen Gemeinschaft auferlegt wurde. Vielmehr wurden diese auf europäischer Ebene durchgesetzten Entwicklungen in vielen Ländern systematisch mitgetragen und genutzt, um die internen Widerstände gegen eine Politik der neoliberalen Restrukturierung ›über die Bande‹ der europäischen Ebene zu brechen und die Kräfteverhältnisse auf nationalstaatlicher Ebene in ihre Richtung zu verschieben.
Eine neue neoliberale Integrationsweise?
Das Grundmerkmal der wettbewerbsstaatlichen Integrationsweise seit den 1980er Jahren ist also ihr
negatives Integrationsmuster: Vielmehr als um einen frontalen Angriff auf den fordistischen Wohlfahrtsstaat und die keynesianische Wirtschaftspolitik handelt es sich um eine Strategie des
indirekten Drucks auf Steuersysteme, Lohnniveaus und sozialstaatliche Arrangements. Inwieweit diese Integrationsweise aktuell umgebaut wird, lässt sich freilich noch nicht abschließend beurteilen. Aber es lassen sich Tendenzen beobachten, die die Konturen einer Weiterentwicklung, vielleicht sogar eines Bruchs mit dieser Integrationsweise vorzeichnen:
Sicher ist zunächst, dass der Pfad der Austeritätspolitik nicht verlassen, sondern weiter radikalisiert wurde. Bemerkenswert ist hier jedoch, dass diese Politik zunehmend direkt und auf autoritäre Weise umgesetzt wird. Während regelmäßige Verstöße gegen die Maastricht-Kriterien vor der Krise kaum geahndet wurden, wird die Austeritätspolitik nun in einen viel umfassenderen Rahmen von Überwachungs- und Sanktionsprozeduren wie der
Economic Governance, dem Europäischen Semester, dem Fiskalpakt oder den aktuell in der Diskussion stehenden Pakten für Wettbewerbsfähigkeit eingebettet.
Doch lässt sich diese Strategie eben nicht allein auf kurzsichtige Austeritätspolitik reduzieren, die sich nur immer weiter in der Krise verfängt, die sie ursprünglich bekämpfen wollte – auch wenn viele ihrer KritikerInnen dies gerne so sehen würden. Sie setzen auch an den Symptomen und Krisentendenzen der Überakkumulationskrise an, ohne diese grundlegend lösen zu können. Nicht aus Unfähigkeit, sondern angesichts der bestehenden Kräfteverhältnisse sind weitergehende Umverteilungsmaßnahmen blockiert: Am eigenen Ast wird nicht gesägt. So steht weiterhin eine wachsende Ballung von überakkumulierten Finanzkapital immer geringeren realen Verwertungsmöglichkeiten gegenüber – ein Widerspruch, der sich mit zunehmender Sprengkraft im Platzen immer neuer spekulativer Blasen wie jener der New Economy oder zahlreicher Immobilienblasen in den 2000ern entladen hat. Doch kann auch eine Symptombekämpfung zur Folge haben, dass das umfassende System von Frühwarn-Indikatoren, Überwachungsverfahren, Haftungsmechanismen und finanzpolitischen Interventionen der EZB die ökonomischen Schocks schlagartiger Kapitalentwertungen und die spekulativen Angriffe gegen einzelne Euro-Länder erst einmal für eine Weile kontrollier- und beherrschbar machen.
Das potenziell neue Grundmuster der europäischen Integration liegt also darin, dass das austeritätspolitische Korsett immer sichtbarer und unverhohlener zutage tritt, aber sich mit allerlei Verzierungen und Stickereien präsentiert.
SYRIZA, Podemos und die Handlungsbedingungen progressiver Politik
Was heißt das für die Möglichkeiten progressive Politiken durchzusetzen, die mit dem Aufstieg von SYRIZA und
Podemos wieder einen Platz auf der politischen Bühne Europas erlangt haben?
Die Ursachen der Krise sind ungelöst, auch die beschworene Re-Regulierung der Finanzmärkte blieb mindestens halbherzig,
[12] die Konfrontation mit den Fraktionen des Finanzkapitals wurde weitgehend vermieden. Dass die Austeritätspolitik in Griechenland, Spanien und Portugal soziales Elend, aber kein neues Entwicklungsmodell hinterlassen hat, dürfte inzwischen selbst ihren borniertesten AnhängerInnen dämmern. Angesichts der einbrechenden Wirtschaft in Frankreich, der schwachen Konjunktur in Deutschland und der bis heute verschleppten Bereinigung fauler Kredite in den Bankbilanzen spricht vieles dafür, dass die Phase der Entspannung seit Herbst 2012 schon bald wieder in eine neue Phase der akuten Krise umschlägt, es sich bloß um eine trügerische Ruhe handelt.
[13]
Nichtsdestoweniger könnten die Überwachungsverfahren und Stabilisierungsmechanismen und nicht zuletzt auch die aktuelle Geldpolitik der EZB dazu führen, dass sich der Fokus der Krise noch eine Weile auf andere Weltregionen wie Russland oder die so genannten
emerging markets mit aktuell rückläufigen Wachstumszahlen konzentriert – oder aber die neue Phase der Krise besonders jene Euro-Länder trifft, die versuchen, sich mit progressiven Politikalternativen aus dem Korsett neoliberaler Austeritätspolitik zu befreien. Denn die Verweigerung der ›Peitsche‹ bedeutet dann auch den Entzug des ›Zuckerbrots‹: Werden die austeritätspolitischen Vorgaben von einzelnen Ländern in Frage gestellt, kann nun von herrschender Seite mit dem Ausschluss aus dem »Rettungsschirm« ESM, aus dem gemeinsamen Bankenabwicklungs- und Einlagensicherungsfond oder aus der möglichen »Fiskalkapazität« gedroht werden. Einmal eingeführt, würden die »Pakte für Wettbewerbsfähigkeit« auch für Länder, die nicht von der Troika bzw. »den Institutionen« überwacht werden, bedeuten, dass die Verletzung der Vereinbarungen nicht nur empfindliche Strafen, sondern auch das Wegfallen der finanziellen Unterstützung für die Reformmaßnahmen nach sich ziehen. Das EZB-Anleihenprogramm hat ähnliche Effekte: So beispielsweise, wenn die EZB die Staatsanleihen ›dissidenter‹ Länder nicht mehr als Sicherheiten akzeptiert (wie im Falle Griechenlands bereits geschehen). Oder wenn sie selektiv die Liquiditätszufuhr einzelner nationaler Zentralbanken und daran gekoppelter Bankensysteme abdrehen. In all den genannten Szenarien würde das Wegfallen der expliziten oder impliziten Haftungsgarantien für öffentliche Schulden oder das Finanzsystem dazu führen, dass einzelne Länder als schwächste Angriffspunkte exponiert würden, was als politisches Druckmittel gegen linke Strategien eingesetzt werden kann – und im Falle Griechenlands bereits wird. Der Ausbau gemeinsamer Stabilisierungsmechanismen birgt, solange er an die Erfüllung austeritätspolitischer Vorgaben gekoppelt bleibt, daher immer auch ein Drohpotenzial gegenüber Regierungen, die mit der Austeritätspolitik brechen wollen, und reduziert im Falle Griechenlands als relativ kleiner Euro-Ökonomie gleichzeitig das Gewicht ihres zentralen Verhandlungspfand: die Kosten eines »Grexit« für den Rest der Eurozone. Die durch die Stabilisierungsmechanismen gewonnene brüchige Stabilität kann insofern jederzeit umschlagen in gezielte Destabilisierung einzelner Länder, was den Handlungsspielraum linker Regierungen weiter einengt: Die neuen Integrationsmechanismen machen ein Ausscheren aus dem von ihnen vorgezeichneten Entwicklungspfad ungleich schwieriger. Das bedeutet nicht absolute Handlungsunfähigkeit. In jedem Fall aber sollte die Linke nicht erwarten, dass sich die Austeritätspolitiken in der Form, in der sie sich in der EU im Zuge der Krise weiterentwickelt haben, selbst in eine Sackgasse manövrieren.
Dies gilt vor allem dann, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es keine nennenswerte sozialdemokratische Opposition zu dieser neuen Form europäischer Austeritätspolitik gibt. Es ist kein Zufall, dass sich SYRIZA und
Podemos als Parteien links von der Sozialdemokratie etablieren, sind doch einige zentrale sozialdemokratische und keynesianische Forderungen wie die Ausweitung europäischer Haftungssysteme, die Beteiligung von Shareholdern und Gläubigern bei Bankenpleiten sowie zumindest halbherzige Bekenntnisse zu »demokratischer Legitimität und Rechenschaftspflicht« zum Bestandteil der autoritären europäischen Krisenpolitik geworden – damit aber auch nie zu Elementen eines eigenständigen sozialdemokratischen Gegenprojekts zur Austeritätspolitik. So sehr die europäische Krisenpolitik damit zunehmend auf autoritäre Mittel des Zwangs setzt, so wenig versäumt sie es gleichzeitig, hierfür einen Konsens über die politischen Lager hinweg zu organisieren. Die Logik der Hegemonie wird an den Rändern der Eurozone strapaziert, aber nicht vollständig ignoriert. Zu einem breiten Widerstand gegen die Austeritätspolitik auf gesamteuropäischer Ebene ist es also noch ein weiter Weg, auch wenn der Wahlerfolg SYRIZAs ein erster, vielversprechender Schritt ist. Entscheidend wird also sein, ob sich auch Teile der linken Sozialdemokratie und der Gewerkschaften über Südeuropa hinaus zu einer lange überfälligen Solidarisierung mit SYRIZA durchringen können. Ein Einstiegspunkt hierfür wäre, ein gemeinsames Auftreten beispielsweise gegen die Aushöhlung von Arbeitsrechten und für die Stärkung des Rechts auf Kollektivverhandlungen.
[14]
Trotz dieser schwierigen Handlungsbedingungen könnte auch das umfassende System von Überwachungsverfahren und Stabilisierungsmechanismen auf lange Sicht in sein Gegenteil umkippen und eher destabilisierend als stabilisierend wirken. Denn die Konstruktion von Haftungsmechanismen und Konditionalitäten verlagert die Konflikte darüber, welche Risiken kollektiviert und welche Krisentendenzen im Gegenzug nicht aufgefangen werden, zunehmend in die Staatsapparate hinein, politisiert und intensiviert sie. Wie Nicos Poulantzas mit Blick auf ähnliche Prozesse im von ihm beschriebenen »autoritären Etatismus« der späten 1970er Jahre meinte, so entsteht auch mit der Konsolidierung des Krisenregimes in Europa ein mächtiger »Koloss« autoritärer Austeritätspolitik, der sich aber als »Koloss auf tönernen Füßen« erweisen könnte. Sollte sich trotz des Wahlerfolgs von Syriza keine breite gesamteuropäische Bewegung gegen die Austeritätspolitik herausbilden,
[15] können jedoch auch Füße aus Ton länger halten, als befürchtet.
Anmerkungen
[1] vgl. zur Übersicht u.a. Ingo Stützle, 2013:
Austerität als politisches Projekt. Von der monetären Integration Europas zur Eurokrise, Münster, 330ff.
[2] COM 165 final,
http://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/PDF/?uri=CELEX:52013DC0165&from=EN
[3] Auf dem Weg zu einer echten Wirtschafts- und Währungsunion, deutsche Version, 10.
[4] Ausführlich und kritisch hierzu Axel Troost und Rainald Ötsch, Bail-In statt Bail-Out: Bankenunion ohne Biss, in:
Blätter 7/2014, 83–91.
[5] Inwieweit der neue Mechanismus jedoch tatsächlich eine Verschärfung der Aufsicht darstellt, ist mehr als fraglich: zwar schützen die nationalstaatlichen Aufsichtsbehörden ‚ihre‘ Banken traditionell vor zu viel Gründlichkeit, um sie im internationalen Wettbewerb nicht zu benachteiligen; die Aufsicht der EZB könnte hier unparteiischer vorgehen. Doch bleiben Offshore-Aktivitäten nach wie vor kaum berücksichtigt und die Evaluierung der Eigenkapitalbestände erfolgt weiterhin vor allem anhand der von den Privatbanken selbst erstellten Risikobewertungen. Vgl. Thomas Sablowski und Jano Bruchmann, Eine Union für große Banken. Was die Linke von der EU-Finanzregulierung zu halten hat, in:
LuXemburg 1/2014, 42.
[6] So auch Lukas Oberndorfer, Pakt(e) für Wettbewerbsfähigkeit als nächste Etappe in der Entdemokratisierung der Wirtschaftspolitik?, in:
infobrief eu & international 2013.
[7] Patrick Ziltener, Strukturwandel der europäischen Integration. Die Europäische Union und die Veränderung von Staatlichkeit, Münster 1999.
[8] So verpflichtet ihr Statut die EZB auf ein Inflationsziel zwischen null und zwei Prozent, das niedrigste aller größerer Notenbanken weltweit. Weitere Ziele der allgemeinen Wirtschaftspolitik, etwa den Abbau der Arbeitslosigkeit, kann die EZB zwar unterstützen, jedoch anders als zum Beispiel die US-amerikanische Federal Reserve nur unter der Maßgabe, dass dies nicht das vorrangige Ziel der Preisstabilität gefährdet.
[9] Die 1992 durch den Vertrag von Maastricht festgelegten Kriterien sehen vor, dass der Schuldenstand eines Landes nicht mehr als 60 Prozent des BIPs und die jährliche Neuverschuldung nicht 3 Prozent überschreiten darf.
[10] Durch Währungsabwertung werden die Exporte eines Landes im Ausland günstiger, was die exportorientierte Wirtschaft stärkt, Importe jedoch teurer werden lässt.
[11] Costas Lapavitsas et al., 2012:
Crisis in the Eurozone, London/New York, 158f.
[12] Hans-Jürgen Bieling, European Financial Capitalism and the Politics of (De-)financialization, in:
Competition and Change 3/2013, 283–98.
[13] Vgl. Klaus Busch, Crash 2.0.: Europa vor der nächsten Krise, in:
Blätter 11/2014, 17–20.
[14] Der von Gewerkschaften und WissenschaftlerInnen getragene Aufruf
Griechenland nach der Wahl − Keine Gefahr, sondern eine Chance für Europa setzt hier am richtigen Punkt an.
[15] Vgl. dazu
http://blockupy-goes-athens.tumblr.com/.
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