Gleichzeitig zeigen sich im Koalitionsvertrag harte wirtschaftsliberale Leitlinien. Er enthält die Absage an weitergehende Umverteilungs- oder sozialstaatliche Sicherungskonzepte. Die geplante Umgestaltung des Bürgergelds zur »neuen Grundsicherung« setzt auf schnellere Sanktionen, Verpflichtung zu »zumutbarer Arbeit« und Leistungsentzug bei Verweigerung (vgl. hierzu Steinhaus in diesem Heft). Die Abschaffung der Vermögenskarenzzeit und die Absenkung von Leistungen für Ausreisepflichtige im Asylbewerberleistungsgesetz markieren einen Paradigmenwechsel hin zu einem restriktiv-repressiven Sozialstaat. Hier werden Spaltungen innerhalb der arbeitenden Klasse vertieft und bestehende Entsolidarisierungstendenzen weiter verstärkt. Für Gewerkschaften ist das eine gefährliche Situation, gerade auch deshalb, weil diese Politik nicht als Frontalangriff daherkommt. Ähnlich wie zu Zeiten der Agenda 2010 wird die Versuchung real sein, durch »konstruktives Mitgestalten« Schlimmeres zu verhindern. Tatsächlich droht vielmehr ein Verlust von Gestaltungsmacht. Gewerkschaften laufen Gefahr, zum Legitimationsfaktor eines disziplinierenden Umbaus gemacht zu werden.
Der Rechtsruck der offiziellen Politik wird flankiert von einer rechtspopulistischen Offensive am Arbeitsplatz. Der Aufstieg der AfD macht auch vor den Betrieben nicht halt (vgl. Dörre 2024). 21,9 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder haben laut einer Nachwahlbefragung der Forschungsgruppe Wahlen AfD gewählt, die damit in der Gunst der organisierten Beschäftigten nur 1,4 Prozentpunkte hinter der CDU lag. Die SPD folgte auf Platz 3 (20,6 %), Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke auf Platz 4 und 5 (10,7 und 10 %; Lelek 2025). In manchen Regionen sind in den Betrieben rechte Gegenmilieus entstanden. Nicht nur im Osten. »Es gibt gewerkschaftlich organisierte Personalräte, die offen zur Wahl der AfD aufrufen.« (ver.di 2025) AfD-Positionen reichen inzwischen bis in das gewerkschaftliche Ehrenamt hinein. Zu dieser Bedrohung der Gewerkschaften von innen kommt der Angriff von rechtsradikalen Gruppen wie dem Zentrum, die seit Jahren bei Betriebsratswahlen in der Automobilindustrie oder der Pflege antreten. Große Erfolge jenseits einzelner Betriebsratsmandate wie bei Mercedes in Untertürkheim, Sindelfingen und Rastatt, BMW und Porsche in Leipzig oder VW in Zwickau kann das Zentrum bislang zwar nicht aufweisen (Detje u. a. 2024). Allerdings könnte sich das bei einer Verschärfung der Krise bald ändern.
Der autoritäre Populismus bietet scheinbar einfache Lösungen für reale Probleme, die gerade auf in prekarisierten, entwerteten oder zuletzt krisenhaften Sektoren wie der Autoindustrie Beschäftigte Anziehungskraft ausüben. Dass diese Scheinantworten nicht funktionieren, tut ihrer Attraktivität aber nicht unbedingt Abbruch, denn Konkurrenzangebote – Neoliberalismus, Gewerkschaften, linke Konzepte – sind im Erfahrungshorizont vieler Abgekoppelter bereits gescheitert. Selbst immer mehr Gewerkschaftsmitglieder haben in zentralen gesellschaftlichen Fragen wie Migration andere Auffassungen als der Funktionärskörper. Letztere reagieren mit Ignorieren, einer demonstrativen Beschwörung der »Einheit aller Demokraten« oder punktuellen Abwehrmaßnahmen. Gewerkschaften werden in abgestiegenen oder vom Abstieg bedrohten Teilen der Arbeiterklasse mehr und mehr als Teil des etablierten politischen Systems wahrgenommen. Hier drohen sie an Bindungskraft zu verlieren. Entscheidend ist, nicht nur defensiv auf autoritäre und rechtspopulistische Tendenzen zu reagieren, sondern dies mit eigenständigen klassenpolitischen Positionen zu tun. Dazu gehört, gesellschaftliche Spaltungslinien zu benennen und offensiv für soziale Gerechtigkeit, demokratische Mitbestimmung und solidarische Perspektiven einzutreten. Vielversprechend sind Ansätze, die den direkten Dialog mit Belegschaften vor Ort suchen – auch dort, wo Meinungen außerhalb des gewerkschaftlichen Mainstreams vertreten werden. Zur Wahrheit gehört auch, dass diese Ansätze angesichts knapper Ressourcen alles andere als einfach umzusetzen sind. Interessant wäre, ob erfolgreiche kämpferische Bewegungen wie die ver.di-Krankenhausbewegung messbare Auswirkungen auf das politische Bewusstsein und Wahlverhalten ihrer Beteiligten haben.
Ausgebremste Transformation
Die sozial-ökologische Transformation wird ausgebremst und aufgerieben: zwischen inkonsequenten politischen Maßnahmen, widerstrebenden Interessen und fehlender strategischer Kohärenz. Hohe Energiepreise, geopolitische Unsicherheiten und ein Ausbleiben strategischer Industriepolitik führen zu Deindustrialisierungstendenzen, insbesondere in zentralen Branchen wie dem Fahrzeug- und Maschinenbau. In Letzterem schrumpfte die Produktion 2024 um acht Prozent (BDI 2024).
Die Automobilindustrie – jahrelang Wachstumsmotor und Machtzentrum der IG Metall – steht unter Druck: Elektroautos verkaufen sich schlechter als geplant, immens wichtige Absatzmärkte für das deutsche Exportmodell in China und den USA brechen teilweise weg. Vor allem im wachsenden Segment der batterieelektrischen Fahrzeuge (BEV) bedrohen neue, vielfach innovativere Anbieter die dominanten Marktanteile. Sicherlich ist das alles auch Folge einer Reihe von Fehlentscheidungen der Konzernleitungen. Doch die Tiefe der Krise lässt sich nicht allein darauf zurückführen. Die doppelte Transformation aus Dekarbonisierung und Digitalisierung des Produkts Auto geht einher mit einer Verschiebung des Zentrums der globalen Automobilindustrie in Richtung China. 2024 wurden weltweit fast elf Millionen BEV verkauft, acht Millionen davon in China (Fraunhofer ISI 2025). Die politischen Entscheidungsträger*innen in Deutschland ignorieren diese Entwicklung bisher vollständig und zielen auf Steuererleichterungen, Standortprämien, Verbilligung von Energie und Aufweichungen klimapolitischer Vorgaben ab. Alles, nur keine Transformationsstrategie.
Gerade die Industriegewerkschaften IG Bergbau, Chemie, Energie (BCE) und IG Metall tun sich sichtbar schwer in dieser Konstellation. Die programmatischen Forderungen reichen von mehr staatliche Investitionen in Infrastruktur und Innovation über eine Entlastung energieintensiver Unternehmen, die Kopplung öffentlicher Förderungen an Tarifbindung, Standort- und Beschäftigungssicherung bis zu Überlegungen zu Local-content-Regelungen auf EU-Ebene (vgl. IG Metall 2024). Debatten, die über diesen wirtschaftsstandortzentrierten Horizont hinausweisen und auf eine sozial-ökologische Transformation abzielen (siehe z. B. Candeias/Krull 2022), sind in den Hintergrund getreten und erhalten weniger öffentliche Aufmerksamkeit als noch vor drei oder vier Jahren.
Verschwunden sind sie indes nicht. Ein kürzlich gemeinsam von IG Metall und Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) veröffentlichtes Positionspapier ist ein Beispiel für zukunftsorientierte gewerkschaftliche Industriepolitik. In diesem fordern Betriebsräte aus dem Schienenfahrzeugbau, der Stahlindustrie und dem Deutsche-Bahn-Konzern, Beschäftigung entlang der Wertschöpfungskette zu organisieren und für die notwendige Verkehrswende einen branchenübergreifenden Ansatz zu wählen, der notwendige Reformen bei der Deutschen Bahn (mehr staatliche Steuerung) mit klimaneutralen zukunftsorientierten Maßnahmen wie der Schaffung europäischer Leitmärkte für »grünen« Stahl als zentralem Rohstoff für den Schienenfahrzeugbau verknüpft (EVG 2025). Doch Papier ist bekanntlich geduldig. Ob und wie entschlossen beide Gewerkschaften bereit sind, für diese Forderungen zu mobilisieren, wird sich zeigen.
Militarisierung von Politik und Gesellschaft
Seit 2022 steht die bundesdeutsche Politik unter dem Zeichen der »Zeitenwende«. Rüstung wird zum Staatsziel, Aufrüstung zur Daueraufgabe, militärische Logik dringt mehr und mehr in zivile Bereiche vor. Bundeswehr, Polizei und Geheimdienste werden ideologisch und materiell aufgewertet. Parallel dazu verändert sich das gesellschaftliche Klima. Reklamierte die letzte Bundesregierung zu Beginn ihrer Amtszeit noch Fortschritt als zentrales Leitmotiv, wird dieses nun durch Sicherheit ersetzt. Für Gewerkschaften ist das keine Randfrage. In einem Klima autoritärer Sicherheitsrhetorik, wachsender Repression gegen soziale Bewegungen und eines aggressiven Antifeminismus und Antimigrationsdiskurses schrumpfen nicht nur die Handlungsspielräume, sondern auch die gesellschaftliche Anschlussfähigkeit gewerkschaftlicher Positionen – sofern sie nicht selbst ins Fahrwasser einer neuen Logik des Kalten Krieges geraten.
Mit dem Sondervermögen Bundeswehr von 2022 und der Grundgesetzänderung im März 2025 wurde der finanzielle und institutionelle Rahmen geschaffen, um den Sicherheitssektor dauerhaft zu privilegieren. Parallel werden Stimmen lauter, die eine stärkere Rolle von Bundeswehr und Polizei im Innern fordern: etwa in der »Resilienz-Politik«, beim Katastrophenschutz sowie in Schulen (vgl. Bundesregierung 2022). Diese Militarisierung des gesellschaftlichen Klimas bleibt nicht folgenlos: Demokratische Konfliktaustragung wird diskreditiert, Streikrecht und Protest geraten unter Legitimationsdruck, autoritäre Staatlichkeit gewinnt an Boden. Für die Gewerkschaften ist dies doppelt gefährlich: zum einen, weil sie als Akteure kollektiver Gegenmacht selbst zur Zielscheibe werden können, zum anderen, weil sie Gefahr laufen, sich aus vermeintlicher Staatsräson in die Logik des Sicherheitskapitalismus einzupassen.