Je unsicherer die Gegenwart, desto drängender das Bedürfnis, sich in der Vergangenheit des eigenen Herkommens zu vergewissern. Um das dreißigjährige Jubiläum der Friedlichen Revolution vom Herbst 1989 zu feiern, gibt es grob gesagt zwei unterschiedliche Ansätze. Der eine reduziert alles auf den 30. Jahrestag des Mauerfalls, der andere begreift den Herbst als Prozess, in dem die Öffnung der Westgrenze ein Meilenstein war, aber nicht der einzige.
Ich halte den zweiten Ansatz für den angemessenen. Die Ereignisse der Friedlichen Revolution/des Umbruchs/des Herbstes 89 auf den Mauerfall zu konzentrieren, ist allerdings das herrschende Deutungsmuster, nicht nur, weil ein Datum, ein Ereignis griffiger ist als ein Prozess, es für den »Mauerfall« Bilder und Reportagen gibt und der Begriff »Mauer« die Qualität eines mythischen Elementes besitzt, also über sich hinausweist. Zudem: Wer vom Mauerfall spricht, hat den Westen schon im Boot. Denn dorthin strömten die Menschen – auch wenn der Großteil nach einigen Stunden wieder nach Hause in den Osten zurückkehrte. An den Mauerfall lassen sich folgerichtig die späteren Stationen des Beitritts wie an einer Perlenschnur reihen: Die Parteien im Osten treten den entsprechenden Westparteien bei (die CDU mit erheblicher Verspätung, aber umso effektiver, nur die SED-PDS blieb sitzen), man wählt die Stellvertreter Kohls im Osten und wählt sie wieder und wieder. Die D-Mark wird eingeführt und gefeiert, der politische Beitritt ist nur ein lauer Nachvollzug der wirtschaftlichen Übernahme des Ostens durch die Währungsunion. Den Rest erledigt die Treuhand. Es wird Bedauern geäußert, vielerorts sei es hart gewesen, was aber der Verweis auf die »marode« Wirtschaft im Osten und die Zwänge der Marktwirtschaft entschuldigt, was ebenfalls stimmig ist, solange man die Unvermeidlichkeit der Einführung der D-Mark samt ihres Umtauschkurses voraussetzt. Damit ist das Geschehen abgehakt, historisch eingeordnet und für die Gegenwart nach dreißig Jahren nicht weiter relevant, schon gar nicht, wenn man im Westen aufgewachsen ist und gelebt hat. Der Mauerfall als das Ende eines Irrweges im östlichen Deutschland, der sich an die zwölf Jahre des Tausendjährigen Reiches anschloss. Die Begleitmusik dazu lieferte leider Willy Brandt mit seinem schiefen Satz, dass nun zusammenwachse, was zusammengehöre, als wäre die deutsche Teilung eine Frage der Natur und keine politische, soziale, ökonomische, kulturelle. Einen noch fragwürdigeren Ausdruck fand diese Ideologie im Abriss des »Palastes der Republik« – ein genauso unsouveräner Akt wie der Abriss des zerbombten Schlosses – und im Bau der Schlossattrappe in Berlins Mitte, die nun Humboldt-Forum genannt werden will. Es ist der Sprung aus Kaiserzeit und Weimarer Republik in die Gegenwart.
Die andere Geschichte ist meine Geschichte und die vieler anderer – ob wir die Mehrheit bilden, weiß ich nicht. Das käme auf den Zeitpunkt der Befragung und deren Formulierung an. Ich selbst musste mir diese Geschichte erst erarbeiten, sie unter der Marmorplatte des offiziellen Geschichtsbildes hervorzerren, wie etwas, das ich einmal verloren und dann vergessen hatte, weil es nicht mehr sichtbar gewesen war. Staunend und fast ungläubig habe ich im Herbst 89 die Veränderungen wahrgenommen, denn was da Tag für Tag geschah, war schöner und befreiender und weitreichender als alles, was ich zu träumen überhaupt gewagt hatte. Der Weg in einen demokratischen Sozialismus schien unvermeidlich, selbst für jene, die ihn nicht für möglich gehalten hatten. Dementsprechend schockartig wirkte der Abbruch dieses Prozesses auf mich. Eben hatten wir noch darüber diskutiert, wie die Betriebe von den dort Arbeitenden übernommen werden könnten, als es mit der Einführung der D-Mark nur noch darum ging, einen westlichen Partner zu finden, um wenigstens einer Rumpfbelegschaft die Weiterbeschäftigung zu ermöglichen. Die Freiheit und Souveränität haben wir Ostdeutsche, die sich damals noch nicht so nannten, selbst erobert und sie mit großer demokratischer Mehrheit in Windeseile an die Bonner Regierung weitergereicht. Das bedeutete: Eine Volkswirtschaft wurde innerhalb weniger Monate auf den Markt geworfen. Das war, wie vorauszusehen gewesen war, ihr Ende. Das Territorium der DDR wurde zu einem staatlich hochsubventionierten Absatzmarkt, ohne dass Konkurrenz hinzugekommen wäre.
Vier Aspekte sind mir heute besonders wichtig, wenn ich an die Zäsur von 89/90 denke. Zunächst die internationale Wirkung und die teilweise unmerkliche Veränderung von Selbstverständlichkeiten in jedem von uns, womit ich keinesfalls nur die Deutschen oder Europäer meine. Betrachtet man Asien, insbesondere China, Indien oder Vietnam, die arabische Welt, die afrikanischen Staaten, die Amerikas, insbesondere Südamerika und die Karibik – überall hat 89/90 auf eigene Art und Weise stattgefunden oder wurde reflektiert. Das Verschwinden einer sozialistischen Alternative aus vielen Köpfen aufgrund der 89er-Ereignisse habe ich an mir selbst miterlebt, obwohl es mich von heute aus sehr verwundert. Denn die Austreibung des Stalinismus war ja überhaupt erst die Voraussetzung für einen demokratischen Sozialismus. Zweitens konnte erst nach dem Ende des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation der Kapitalismus tatsächlich global werden. Drittens wird nicht nur der Widerspruch zwischen privaten Besitzverhältnissen und gesellschaftlicher Produktion immer deutlicher, sondern auch die Unangemessenheit einer technologischen Entwicklung, die wenige Eigentümer hat, aber alle betrifft. Google, Amazon, Facebook, Microsoft etc. wie auch die avanciertesten Technologien (Quantentechnik, Künstliche Intelligenz) werden privatwirtschaftlich betrieben und sind damit demokratischer Kontrolle entzogen. Viertens war der Osten dem Westen in einem überlegen: Er lebte nicht vom Süden. Im real existierenden Sozialismus wurde die Umwelt im Vergleich zum europäischen Westen eher mehr als weniger ruiniert. Den Dreck, den die Herstellung unserer Produkte verursachte, mussten wir selbst schlucken. Als Otto Schily nach der Volkskammerwahl am 18. März 1990 mit einer Banane in der Hand vor die Kamera trat, wollte er klarmachen: Die Ostdeutschen haben sich für den entschieden, von dem sie sich den größten Wohlstand versprechen. Ganz gleich, ob man ihn dafür kritisierte oder lobte, alle taten so, als würden die Bananen an Rhein und Mosel wachsen. Dass sie zu Preisen importiert werden, die denjenigen, die auf den Plantagen arbeiten, kaum ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen, spielte damals und spielt heute keine Rolle oder ist bestenfalls eine Fußnote wert.Einerseits habe ich die fatalistische Hoffnung, dass die Zuspitzung der Verhältnisse ein Handeln bei Strafe des Untergangs erzwingt – oder eben den quälenden Untergang in Raten. Andererseits gibt es eine unbegründete, wilde, schöne Hoffnung, die glauben möchte, der sanfte Zwang des besseren Arguments könnte sich auch gegen übermächtige Interessengruppen und ihre militärische und zivile Lobby durchsetzen. Ein scheinbar abseitiges Pflänzchen dieser Hoffnung ist die Provenienzforschung, die in den 1980 Jahren schon einmal in der Öffentlichkeit präsent gewesen ist, aber mit 1989 wieder verstummte. Sie rekonstruiert die Umstände und Wege, unter denen die Kunstwerke in unsere bewunderten Museen gelangten – um sie gegebenenfalls an ihre alten Eigentümer zurückzugeben. Es ist das Eingeständnis von Unrecht und Schuld und der Versuch, der eigenen Verantwortung gerecht zu werden und zu heilen, was noch zu heilen ist. Es ist ein hoffnungsvolles Zeichen, dass sich zumindest in diesem Bereich ein Umdenken andeutet, das als Vorbild dienen und damit ein Muster für die ganze Gesellschaft abgeben könnte. Dass die schärfste Auseinandersetzung zu diesem Thema in Deutschland ausgerechnet das Humboldt-Forum betrifft, gibt der Reanimation der Schlossfassade doch noch einen Sinn: Stellvertretend für ihre einstigen Bewohner muss sie mit ansehen, wie deren Untaten der Prozess gemacht wird. Ihr Inneres wird so schnell nicht zur Ruhe kommen.
Dieser Beitrag ist Teil der Reihe: Wer schreibt Geschichte? Rückblicke auf die Wendezeit