Portugal wird trotz der jüngsten Warnungen des IWF, wonach die bescheidene wirtschaftliche Erholung, die sich dort im letzten Jahr abzeichnete, äußerst fragil ist und bei der geringsten Anhebung des Ölpreises oder der Zinsen auf den internationalen Märkten schnell wieder vorbei sein kann, von der deutschen Regierung und allen möglichen Eurokraten hochgejubelt als „das Krisenland in Südeuropa, das es geschafft hat“. Ein leichter Exportanstieg (plus Mehreinnahmen als Folge eines Tourismusbooms in Lissabon und Porto), ein prekäres (und dahinschwindendes) Handelsbilanzgleichgewicht, erzielt durch massive Kürzungen bei öffentlichen Ausgaben und Gehältern von staatlich Beschäftigten, Sondereinnahmen aus einem Privatisierungsprogramm, das Investitionen von chinesischen Staatsunternehmen und den plutokratischen Eliten Angolas ins Land gebracht hat (auch Immobilienverkäufe haben nach der „Vereinfachung“ der Regeln für die Vergabe von Lizenzen und der Erteilung von speziellen Visa für Großinvestoren deutlich zugenommen) – all das wird in der Regel als Beweis dafür herangezogen, dass eine expansiver Sparkurs möglich und dass das Scheitern der von der Troika in Griechenland durchgesetzten Maßnahmen auf endogene Ursachen zurückzuführen ist, die sich dem Einfluss der Europäischen Zentralbank, der Europäischen Kommission und des Internationalen Währungsfonds entziehen. Vereinfachungen wie diese werden gern von den internationalen Medien aufgegriffen und verbreitet, wie zum Beispiel bei der Verabschiedung des ersten Bailout-Memorandums 2011, als die Portugiesen und Griechen als „faul“ und „über ihre Verhältnisse lebend“ dargestellt wurden, deren Schicksal anderen südeuropäischen Ländern eine Lehre sein sollte.
Selbst wenn wir die mit der Austeritätspolitik einhergehenden massiven sozialen Verwerfungen (20 Prozent der Bevölkerung leben in Armut, die Arbeitslosigkeit hat ein Rekordhoch von 17 Prozent erreicht) und die damit verbundenen Konsequenzen wie die Abwanderung von mehr als 500 000 Menschen (etwa fünf Prozent der Gesamtbevölkerung) außer Betracht lassen wollten, bleibt die Erfolgsstory von Portugal eine Märchengeschichte. Dabei wird systematisch ausgeblendet, dass keines der im Memorandum festgelegten Ziele (nämlich die Reduzierung des Staatsdefizits und der Staatsausgaben) erreicht worden ist und dass erst eine grundlegende Wende eingetreten ist, als die Europäische Zentralbank damit begann, unbeschränkt portugiesische Staatsanleihen anzukaufen, was die Zinsbelastungen senkte und die 2010 einsetzenden unerbittlichen Angriffe von Finanzinvestoren auf verschuldete Staaten in Südeuropa stoppte. Massive Veränderungen im Arbeitsrecht, die zusätztliche Besteuerung der Einkommen von RentnerInnen und Lohnabhängigen, zusammen mit blindlings vorgenommenen Einsparungen im öffentlichen Sektor (betroffen sind vor allem das staatliche Gesundheitssystem und das Bildungswesen, während das Budget der Polizei erhöht wurde) hatten keine sichtbaren positiven Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit und die wirtschaftliche Entwicklung des Landes sowie auf dessen Haushaltsdisziplin. Aber die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank und die Eurogruppe, die sich gegenüber Griechenland als besonders unnachgiebig gezeigt und immer wieder die Notwendigkeit einer weiteren „Anpassung“ betont hat, hatten im Fall Portugal kein Problem damit, lediglich die Daten heranzuziehen, die ihnen politisch in den Kram passen und ihre Legende von Portugal als dem „gewissenhaften Schüler“ der Austertitätslehre stützen.
Der politische Charakter dieser Marketingmaßnahme wird klarer, wenn wir uns noch einmal die zeitliche Abfolge der Ereignisse vergegenwärtigen: Begonnen hat alles mit den unerwarteten Wahlerfolgen von SYRIZA in Griechenland und PODEMOS in Spanien, die das gewaltige Scheitern einer Politik der inneren Abwertung deutlich machten. Hieraus entstand die Notwendigkeit, einen Erfolgsfall zu konstruieren, um das Narrativ, mit dem man die dem Süden auferlegten harschen Sparmaßnahmen der Öffentlichkeit und den WählerInnen in Nordeuropa verkauft hatte, aufrechterhalten zu können. Die besonders unterwürfige Haltung der portugiesischen Regierung hat zum Erfolg dieses Vorgehens beigetragen. Es ist ein Deal, der beiden Seiten nützt, da die mangelnde Popularität und politische Isolation der Regierung (noch vor anderthalb Jahren wurde sie selbst von neoliberalen Hardlinern massiv angegriffen, und kein Minister konnte noch ohne massiven Polizeischutz auf die Straße gehen) nur durch ein weiteres Täuschungsmanöver, bestimmten Versprechungen hinsichtlich des Binnenkonsums, kompensiert werden konnte. Dabei wurden die ergriffenen Maßnahmen als „schmerzhafte, aber notwendige Heilmittel“ präsentiert, die mittelfristig zu positiven Ergebnissen auch für die Verbraucher führen würden, da die europäischen Institutionen und die „Märkte“ irgendwann darauf reagieren müssten. Was für ein Zufall, dass dieser mittelfristige Ausblick mit den Wahlterminen in Portugal korrespondiert (dort finden im kommenden Oktober Parlamentswahlen statt) und mit denen in Spanien (dort wird Ende Dezember ein neues Parlament gewählt), während im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit der Ausgang und die Folgen der überraschenden Neuwahlen in Griechenland zu Beginn dieses Jahres in Form von Konfrontationen und Streitigkeiten innerhalb der Eurogruppe standen.
Der politische Charakter der „Krise in der Eurozone“ tritt immer deutlicher hervor und erweist sich als das, was er von Anbeginn gedacht war: Es geht um ein Programm des neoliberalen
social engineering, wobei Südeuropa als Testfeld für den Rest des Kontinents fungiert. Mit diesem Programm soll die Reichweite neoliberaler Herrschaft ausgedehnt werden. Es stärkt einen bestimmten institutionellen Rahmen, der dazu dienen soll, soziale Beziehungen noch weitreichender zu kommodifizieren, die Marktmacht auszubauen und das Prinzip des Wettbewerbs auf alle Bereiche des Lebens zu übertragen.
Dieser Beitrag wird zum einen das Profil der in letzten drei Jahren unter der „Troika“ in Portugal umgesetzten Austeritätsmaßnahmen näher beleuchten, einschließlich der politischen Steuerung und Flankierung, um erklären zu können, warum sich die politische Situation in Portugal von den Szenarien in Griechenland und Spanien unterscheidet. Zugleich wird die Position vertreten, dass die „Krise in the Peripherie der Eurozone“ zusammenfällt mit einer postnationalen Phase der kapitalischen Restrukturierung in der Region und damit nicht nur als die „Summe von nationalen Fällen“ verstanden werden kann.
Das „Geheimnis des Erfolgs“
Der Betritt Portugals zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1986 bedeutete für die wirtschaftlichen und politischen Eliten, die seit Beendigung des revolutionären Prozesses 1975 das Land regierten, einen Neuanfang. Nach massiven Arbeitskämpfen und der Verstaatlichung der Kommandohöhen des Wirtschaftsapparats (Banken, Versicherungen, Energie und Schwerindustrie) musste das Land zwei Phasen der strukturellen Anpassung unter Aufsicht des IWF durchlaufen (1977 bis 1978 und 1983 bis 1984). Damit einher ging eine Senkung der Löhne, die auf das Niveau von vor 1974 fielen (als Streiks verboten waren und die politische Polizei dafür zuständig war, militante Aktionen der Arbeiterklasse zu unterdrücken). Die Strukturanpassungen bereiteten aber auch den Weg für immer mehr ausländische Investitionen, befördert durch die Bereitstellung europäischer Fördermittel, und für einen Privatisierungsschub, der eine Neuzusammensetzung der portugiesischen Bourgeoisie ermöglichte. Der Lebensstandard verbesserte sich erheblich, immer mehr Menschen hatten Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Konsumgütern, eine allgemeine Zuversicht in Bezug auf die Europäische Union machte sich in verschiedenen politischen und kulturellen Kreisen breit. Ähnlich wie in Spanien und Griechenland zuvor war der europäische Kapitalismus in diesem entscheidenden Moment des Kalten Krieges bereit, einen entsprechenden Preis für die vollständige Integration eines armen südeuropäischen Landes in den ‘Club der reichen Demokratien’ zu zahlen, solange man damit das Aufkommen umstürzlerischer Bewegungen verhindern konnte.
Die vorherrschenden Merkmale der portugiesichen Wirtschaftsentwicklung, die daraufhin einsetzte, prägten das Land noch bis zur Unterzeichnung des Bailout-Programms 2011. Es kam zu einer rasanten Expansion des Bausektors, der eine große Zahl von Ungelernten und Kleinbauern ein Einkommen bot und diese zu Lohnabhängigen machte, während die Deindustrialisierung des Landes fortschritt, was mit Hilfe des Kohäsionsfonds der Europäischen Union finanziert werden konnte (das Gleiche trifft im Prinzip auch auf den Agrar- und Fischereisektor zu). Die Strukturfonds der EU wiederum wurden für eine Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur (zum größten Teil für den Ausbau von Krankenhäusern, Schulen und Straßen) genutzt. Zugleich war man aus politischen Gründen auch daran interessiert, einen Teil der wirtschaftlichen Rückständigkeit des Landes beizubehalten. So konnten sich zum Beispiel industrielle Strukturen herausbilden, die mehrheitlich auf der arbeitsintensiven Herstellung von Fertigwaren und Methoden der Produktion des absoluten Mehrwerts (Niedriglöhne, Produktfälschungen, unbezahlte Überstunden und Kinderarbeit) basieren, zum Teil noch gefördert durch Mittel aus den „Strukturfonds“. Die Profite landeten am Ende auf Bankkonten in der Schweiz oder dienten dem Erwerb von Luxusgütern.
Portugal gehört wahrscheinlich zu den wenigen Ländern dieser Welt, in denen die UnternehmerInnen im Durchschnitt weniger qualifiziert sind als die Arbeiterklasse, wobei als eine weitere Besonderheit hinzukommt, dass Portugal auch der EU-Mitgliedsstaat mit dem größten Mangel an gut ausgebildeten FacharbeiterInnen ist.
[2] Diese Situation ist sowohl das Resultat als auch die Ursache einer historisch bedingten Unfähigkeit, eine Produktion des relativen Mehrwerts aufzubauen, was wiederum das säkulare Bürgertum in Portugal vor die Herausforderung stellte, sich um die Reproduktion der Arbeitskraft und die politische Kontrolle der Arbeiterklasse kümmern zu müssen, was traditionell durch eine Kombination von Repression und Emigration gelang, wobei Arbeitskräfte zum wichtigsten Exportgut des Landes wurden (vgl. hierzu Trinidade 2013). Portugal ist nicht nur ein provinzielles und peripheres Land, sondern auch ein Land, in der die organisierte Arbeiterklasse, was die strategische Perspektive und die Inhalte ihrer Kämpfe anbelangt, tendenziell moderner und kosmopolitischer ist als das Unternehmertum. Mit diesem Strukturmerkmal lässt sich auch erklären, warum sowohl die Linke als auch die Gewerkschaften sich so positionieren und verhalten, als seien sie die am weitesten entwickelte Fraktion des portugiesischen Kapitalismus.
Dieses Modell des Wirtschaftswachstums – das vor allem auf zunehmendem Konsum der Privathaushalte und auf öffentlichen Investitionen basiert und bei dem die größten Unternehmen mehrheitlich eine Rentiersmentalität aufweisen und insbesondere auf Sektoren setzen, die hohe Gewinne garantieren – erwies sich in mehrfacher Hinsicht als anfällig. So wirkte sich etwa die wachsende Konkurrenz aus Osteuropa und Asien negativ auf die Handelsbilanz Portugals aus (die Verbrauchsgüterindustrie wie die Schuh-, Textil- und Bekleidungsproduktion, deren größter Wettbewerbsvorteil die extrem niedrigen Löhne sind, ist seit den 1980er Jahren einer der dynamischsten Sektoren). Im Vorfeld der Einführung des Euro kam es aufgrund der Überbewertung der neuen Gemeinschaftswährung zu einer weiteren Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit der portugiesischen Exporte. Zugleich wurde es für das Finanzsystem wesentlicher einfacher, sich Geld im Ausland zu leihen. Seit dem Konjunktureinbruch zur Jahrtausendwende ist eine Debatte über die vermeintliche Notwendigkeit entbrannt, den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren, die Staatsausgaben zu reduzieren (durch Einschnitte bei den Sozialleistungen und bei den Gehältern im öffentlichen Dienst), alle noch in Staatshand befindlichen Unternehmen zu privatisieren und damit die Gesellschaft/die Wirtschaft ganz allgemein ‘fitter’ und den Staat ‘schlanker’ zu machen. Dass diese Debatte unmittelbar keine entsprechenden staatlichen Eingriffe nach sich zog, hat vor allem mit dem Widerstand der Gewerkschaften, der großen politischen Unbeliebtheit einiger Maßnahmen und der allgemeinen Trägheit des Parteiensystems in Portugal zu tun. Die ökonomische Entwicklung im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts blieb weit hinter den Erwartungen zurück. Im Gegensatz zu Spanien oder Griechenland lag das Wirtschaftswachstum zwischen 2000 und 2010 unter einem Prozent, was es aus der Sicht vieler zu einer Art ‘verlorenem Jahrzehnt’ machte. Außerdem erlebte das Land keine vergleichbare Immobilienblase. Je länger diese Situation anhielt, desto mehr reifte in den inneren Zirkeln der wirtschaftlichen und politischen Macht die Überzeugung heran, dass es keine Alternative zu einem strikten Programm staatlicher Einsparungen und Strukturanpassung gab.
Daher wäre es weit gefehlt, das Memorandum von 2011 als etwas zu verstehen, was der portugiesischen Regierung von der Troika von außen aufgeherrscht worden wäre. Vielmehr gleichen die dort vereinbarten Maßnahmen und Ziele vielen Vorstellungen, die bereits zuvor im Inland entwickelt worden waren. Als die Ratings zu Griechenlands Kreditwürdigkeit in den Keller fielen, war Portugal der nächste Kandidat, der folgen sollte. Die Staatsschuldenkrise in der Eurozone entpuppte sich dann als die perfekte Gelegenheit für die Eliten in Portugal, mit ihren langhegten Plänen einen Riesenschritt voranzukommen, mit bereits greifbaren Resultaten.
Der jüngste Bericht des IWF entlarvt die Erzählung von Portugal als einer „Erfolgsgeschichte der Austeritätspolitik“ als unwahr. Gerade weil die Organisation eher kein Interesse daran hat, sich am politischen Krisenmanagement in der Eurozone zu beteiligen, und die strategische Perspektive nicht teilt, die den offiziellen Statements aus Brüssel oder Berlin zugrundeliegt, ist sie viel realistischer bei der Einschätzung der gegenwärtigen Situation. Zunächst einmal ist die Privatverschuldung in Portugal einer der höchsten in der ganzen Welt,
[3] und jedes noch so bescheidene Wirtschaftswachstum würde daher zwangsläufig zu einer Erhöhung der Auslandsverschuldung beitragen, weil die Handelsbilanz des Landes in der Vergangenheit fast immer negativ ausfiel, es sei denn das Niveau der Konsumption wurde drastisch durch rezessiv wirkende Maßnahmen gesenkt. Der IWF betont:
„Der wirtschaftliche Aufschwung bleibt moderat, es herrscht eine große Flaute auf dem Arbeitsmarkt, und es gibt weiterhin eine Reihe von materiellen Schwachpunkten, nämlich einen hohen Verschuldungsgrad des öffentlichen Sektors und der Unternehmen sowie eine enorme Auslandsverschuldung. Portugal profitiert gerade von einem allgemeinen konjunkturbedingten Rückenwind, aber mittelfristig sind die Wachstumsaussichten bescheiden. Der Massenankauf portugiesischer Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank hat die Zinsbelastung auf ein Rekordtief gesenkt, was alle verbliebenen finanziellen Bedenken beseitigt hat. [...] Zudem haben der stark abgewertete Euro und die niedrigen Ölpreise zu einer Verbesserung der kurzfristigen Aussichten beigetragen.” (IWF 2015, 2)
Der Bericht des IWF beschreibt nicht nur, wie Portugal im April 2011 kurz vor der Zahlungsunfähigekeit stand, sondern ist auch recht eindeutig in seiner Einschätzung der Gründe für dessen wirtschaftliche „Erholung“. Diese resultiere vor allem aus der Entscheidung der EZB, den Euro auf den Finanzmärkten durch den massenhaften Ankauf von Staatsanleihen aus solchen Ländern zu stützen, die aggressiven Spekulationsangriffen ausgesetzt waren, um damit die Zinssätze zu senken und damit ganz praktisch eine Schuldenumstrukturierung herbeizuführen. Die portugiesische Regierung hat in den letzten Jahren zu relativ niedrigen Zinsen Geld von der EZB geborgt, um damit Kredite zurückzuzahlen, die sie zu wesentlich schlechteren Konditionen zwischen 2008 und 2012 aufgenommen hatte. Ohne diese frühzeitige und inoffizielle Variante einer quantitativen Lockerung wäre ein zweites Memorandum unvermeidlich gewesen (das wahrscheinlich einen geringfügigen
haircut beinhaltet hätte), und die Portugiesen stünden heute an dem genau gleichen Punkt wie die Griechen. Was eine Abweichung vom Skript ermöglicht hat und die Fortschritte Portugals in wirtschafttlicher Hinsicht erklärt, ist ganz schlicht und einfach der Überzeugung von Draghi geschuldet, die in den Memoranden festgelegten Maßnahmen seien sowohl in Griechenland als auch in Portugal gescheitert, und das Risiko einer Ansteckung sei untragbar geworden.
„Die portugiesischen Anleihe-Spreads sind seit Anfang des Jahres 2012 beträchtlich gesunken, wofür vor allem weltwirtschaftliche Faktoren verantwortlich sind. [...] Ein zentraler Grund für ihre rapiden Rückgang hängt mit der berühmten Whatever-it-takes-Rede von Mario Draghi vom 26. Juli zusammen [...].“ (Ebd., 27)
Mit weltwirtschaftlichen Faktoren ist die Zuversicht sowohl der EZB als auch der Finanzwelt gemeint, dass die portugiesische Regierung nicht von dem eingeschlagenen Sparkurs abweichen und weiterhin konsequent die Ziele der Haushaltskonsolidierung und der inneren Abwertung verfolgen würde. Es gab von der portugiesischen Regierung und dem portugiesischen Präsidenten mehrere eindeutige Hinweise darauf, dass die staatlichen Institutionen bereit waren, alle Auflagen der Troika-Vertreter ohne größere Diskussionen zu erfüllen. Der wesentliche Unterschied zur vorherigen Situation bestand darin, dass vom Sommer 2012 an hinter diesem Projekt erhebliche finanzielle Interessen standen, weswegen Portugal einige fiskalpolitische Erleichterungen und ein Minimum an Manövrierfähigekeit zugestanden wurden, nicht zuletzt um die Regierungsfähigkeit des Landes nicht zu gefährden. Ironischerweise war die leichte wirtschaftliche Erholung, die daraufhin folgte, nicht zuletzt einigen Urteilen des portugiesischen Verfassungsgerichts zu verdanken, das trotz überaus scharfer Warnungen der Regierung und der Repräsentanten der Troika mehrere Sparmaßnahmen wie die Kürzungen von Renten und Gehältern von Beschäftigten im öffentlichen Sektor rückgängig gemacht und damit die weitere Schrumpfung des Binnenmarkts verhindert und einen Beitrag zu einer geringfügigen Erhöhung des Bruttoinlandprodukts geleistet hat.
Wie ist also nach dreieinhalb Jahren seit seiner Verabschiedung der Einfluss des Memorandums auf die portugiesische Gesellschaft zu beurteilen? Vor allem wenn man berücksichtigt, dass die festgelegten offiziellen Ziele mehrheitlich nicht erreicht wurden, dass die Verschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt weiter gewachsen ist und jeder Ansteig des Ölpreises oder der Zinssätze das ganze Kartenhaus jederzeit wieder zum Einsturz bringen könnte? Eine Antwort ist: Die Staatsschuldenkrise und alles, was daraufhin folgte, ist Bestandteil eines weiterreichenden Projekts der allgemeinen Restrukturierung des europäischen Kapitalismus, eine Reaktion auf die schwindende Wettbewerbsfähigkeit und den Machtverlust der Region, eine gute Gelegenheit, um verschiedene Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die der Aufrechterhaltung des politischen Status quo und dessen, was vom „europäischen Sozialstaatsmodell“ noch übriggeblieben ist, dienen. Dafür hat man sich als Experimenierfeld die schwächsten Stellen des Kontinents ausgesucht. Im „eingebetteten Neoliberalismus“, von dem die Regeln und der instutionelle Rahmen der Eurozone maßgeblich beeinflusst sind, lassen sich schon einige der zentralen Aspekte dieses Vorhabens ausmachen. Die europäische Peripherie ist für seine Protagonisten zu einem idealen Versuchsfeld geworden, spätestens seitdem die Rating-Agenturen mit ihrem Buchstabenkampf, der Abwertung der Kreditwürdigkeit von Staaten von ‘A’ auf ‘EEE’, begonnen haben. Bereits die Osterweiterung der EU steht für die Durchsetzung eines mehr oder minder kohärenten Gouvermentalitätsmodells, das aus folgenden Elementen besteht: Ausbau des Polizeistaats und Forcierung der Kommodifizierung, wobei verschiedene Akkumulationsregime und Modalitäten der Reproduktion der Arbeitskraft nebeneinander existieren können. Als sich sagen wir einmal spätestens im Jahr 2010 die Chance bot, mit der Vergabe von Krediten kurzfristig die Eurozone zu stabilisieren und langfristig weiter in diese Richtung vorzudringen, wurde nicht lange gefackelt. „Der auf die faulen Südeueropäer ausgeübte Zwang, ihren Teil der Lasten zu tragen“, hat sich zum einen in Ländern der Eurozone mit einem ausgeglichenen Haushalt als sehr populär erwiesen, zum anderen zeigte er sich auch als ein wirkungsvolles Instrument, um die Gesellschaften in Südeuropa grundlegend umzubauen, um sie wettbewerbsfähiger und attraktiver für Investoren zu machen, selbst wenn damit massive soziale Kosten und – mindestens genauso wichtig – eine wachsende Unvereinbarkeit zwischen der Demokratie auf der nationalen und Entscheidungen auf der supranationalen Ebene verbunden waren. Hätte man den Ansatz der quantitativen Lockerung in der Eurozone bereits frühzeitig wie in den Vereinigten Staaten angewendet, wären die Kredite, die Banken aus nordeuropäischen Ländern an südeuropäische Länder und deren Banken vergeben haben, ähnlich sicher gewesen, aber dann wäre es auch nicht möglich gewesen, eine solch massive Umstrukturierung der Arbeitsmärkte und einen solch krassen Rückbau wohlfahrtssaatlicher Errungenschaften voranzutreiben, wie jetzt in den Memoranden vereinbart. „Austerität“ ist nicht der einzige Weg, eine Schuldenkrise zu überwinden, aber „Austerität“ hat sich als der wirksamste Weg erwiesen, um in ganz Europe langfristig für eine interne Abwertung zu sorgen. „Austerität“ ist nicht die schmerzhafte Korrektur von internen Ungleichgewichten, eine unbeliebte, aber notwendige Medizin, um eine momentane finanzielle Misere zu überwinden, sondern viemehr das Banner, unter der Europa als politischer und wirtschaftlicher Raum in den kommenden Jahren grundlegend umgestaltet werden wird.
Passos Coelho, Portugals Premierminister, erklärte kurz nach Verabschiedung des Memorandums, seine Regierung habe vor, „noch weit über die Ziele der Troika hinauszugehen“. Damit nutzte die Regierung den Ausnahmezustand aus, den die plötzliche Absenkung der Ratings der Republik in der ersten Jahreshälfte von 2011 geschaffen hatte. Sie verabschiedete eine Reihe von Reformen des Arbeitsmarktes und des Wohlfahrtsstaates, die unter anderen Umständen nicht akzeptiert worden wären. Die Situation hat sich seitdem wieder gewandelt, aber die damaligen Entscheidungen und Vorstöße veranschaulichen auf eine besondere Weise den Zeitgeist der „Austerität“: Günstige „weltwirtschaftliche Einflüsse und Beurteilungen“ gelten als Belohnung für all diejenigen, die sich völlig der Aufgabe verschrieben haben, gegen die Interessen der Beherrschten zu regieren, „koste es, was es wolle“ (diese Formulierung stammt auch von Passos Coelho; er sagte dies, als ihm zwischenzeitlich alle seine Felle wegzuschwimmen drohten). Daran wird heute Erfolg gemessen.
Die Aufrechterhaltung der Ordnung in Lissabon
In allen Kämpfen bedeutet der Sieg der einen die Niederlage der gegenerischen Seite. Kaum jemand würde wohl abstreiten, dass diejenigen, die sich gegen den Sparkurs in Portugal aufgelehnt haben, gründlich gescheitert sind, auch wenn in manchen Fällen einige kleine Siege errungen werden konnten, wie etwa von den Hafenarbeitern, die sich erfolgreich gegen die Umstruktierung ihres Arbeitsplatzes gewehrt haben, oder von den Lehrern im öffentlichen Schulwesen, die gegen die schlimmsten im Memorandum vereinbarten Lockerungen des Kündigungschutzes angekämpft haben. Obwohl die politischen Gegenmobilisierungen und Bewegungen in Griechenland und Spanien viel größer und radikaler waren, hat es auch in Portugal einige bemerkenswerte Momente im Kampf gegen die Austeritätspolitik gegeben, beginnend mit dem internationalen Demonstrationstag am 15. Oktober 2011 und endend im Oktober des darauffolgenden Jahres, als das nationale Parlament zweimal belagert wurde und es auf jeder Demonstration zu Zusammenstößen mit der Polizei kam.
[4] Es ist jedoch erklärungsbedürftig, warum ein Land, das die meisten Merkmale der beiden anderen hier genannten südeuropäischen Staaten teilt, wie etwa eine semiperiphere Position im Weltsystem (vgl. hierzu Arrighi 1985), oder ähnliche ökonomische und politische Entwicklungen in den letzten beiden Jahrhunderten, sich in Bezug auf die Dynamiken des Protests und der gesellschaftlichen Konflikten so deutlich unterscheidet (auch wenn es in gewisser Weise einbezogen ist in die internationalen Zyklen sozialer Kämpfe, die in bestimmten Abständen den Kontinent erfassen). Diese offensichtliche Diskrepanz zwischen Portugal und dem Rest der südeuropäischen Peripherie wird häufig dem Nationalcharakter der Portugiesen zugeschrieben. Angeblich seien diese von Natur aus „sanftmütige Menschen“, die eher dem Fatalismus und der Resignation zuneigen würden als die Spanier und Griechen, die ihren Zorn offener zeigen würden und für ihren beherzten Widerstand bekannt seien (vgl. hierzu Accornero/Ramos Pinto 2015).
Abgesehen von solchen Erklärungsansätzen gibt es andere Hinweise, die uns bei der Beantwortung der Frage weiterhelfen können, wie etwa der, dass Portugal im Gegensatz zu den beiden anderen Ländern im 20. Jahrhundert keinen Bürgerkrieg erlebt hat. Ich bin der Ansicht, dass einige Unterschiede noch besser zu verstehen sind, wenn wir uns etwas näher mit der jüngeren Vergangenheit beschäftigen, insbesondere mit einigen Besonderheiten der politischen Kultur der portugiesischen Linken und damit, wie sie in den letzten 40 Jahren, also seit der Revolution 1974/75 und der damals verabschiedeten Verfassung, politische Konflikte, Auseinandersetzungen und Vorstellungen beeinflusst hat. Die Linke in Portugal – darunter werden im Folgenden vor allem die politischen Parteien verstanden, die üblicherweise als linksradikal bezeichnet werden und links von der Sozialistischen Partei angesiedelt sind – ist auf der institutionellen Ebene besonders stark (vergleicht man die Situation etwa mit der vor ein paar Jahren in Griechenland oder Spanien). Das hängt mit dem Verhältniswahlrecht zusammen. So erhielten etwa nach den Wahlen 2011 Parteien wie die Portugiesische Kommunistische Partei (PCB) mit 7,9 Prozent der Stimmen und der
Bloco de Esquerda (Linker Block) mit 5,17 Prozent der Stimmen ganze 16 respektive 8 Abeordnetensitze im nationalen Parlament. Zudem verfügt die PCP im Süden des Landes traditionell über eine gute Verankerung in den lokalstaatlichen Strukturen. Das versorgt diese linken Parteien mit beträchtlichen finanziellen Mitteln und Ressourcen, mit denen sie eine professionellen Parteiapparat unterhalten können sowie ein Netzwerk von Vorfeldorganisationen, die sich selbst gern als soziale Bewegungen oder zivilgesellschaftliche Initiativen bezeichnen. Deren politische Kultur, die von diesem Status quo geprägt ist, ihn aber auch selbst prägt, ist vor allem darauf ausgerichtet, die Verfassung zu verteidigen (die seit 1976 bereits mehrfach geändert wurde, aber von den meisten rechten Politikern, Unternehmern und Meinungsmachern immer noch für zu weit links gehalten wird) und eine vage Erinnerung an den „25. April“ aufrechtzuerhalten (hierzu gehören sowohl die tatsächlichen revolutionären Ereignisse, die große Erzählung des Antifaschismus und von der Mehrheit der Bevölkerung geteilte Werte wie Gleichheit und soziale Gerechtigkeit). Diese Kultur umfasst eine Reihe von symbolischen, moralischen und ästhetischen Elementen, mit der eine Integration von Protesten in das politische System gefördert wird und mit der zugleich Protestierende dazu verleitet werden, das „Vermächtnis der Revolution“ und der „Errungenschaften des Aprils“ zu verteidigen. Links von dieser Linken gibt es viele kleinere, zum Teil extrem militante Gruppen (zumindest was ihre Rethorik angeht), die untereinander in einem unerbittlichen Wettbewerb stehen, wer von ihnen die schlimmsten Beleidigungen und Vorwürfe parat hat, um die sowohl die größeren linken Gruppierungen und Parteien als auch die anderen mit ihnen konkurrierenden Sektierergruppen anzuprangern. Sie alle teilen einen diffuse marxistische Haltung und sind ausdrücklich antiimperialistisch ausgerichtet, aber keine der Gruppierungen weicht von den zentralen Aspekten der oben skizzierten politischen Kultur der Linken ab. Ihre Kritik gilt ausschließlich den anderen Organisationen und deren Führungsriege, wobei sie sich selbst als die Avantgarde betrachten.
Soziale Bewegungen in Portugal operieren daher ganz oft im Schatten dieser politischen Parteien und tendieren dazu, deren Diskurse zu reproduzieren und deren strategischen Ansätze zu übernehmen, womit sie selten den Bereich verlassen, der aus Sicht der formulierten Wahlziele noch als akzeptabel gilt (das heißt etwa, dass sie davon absehen, Gesetze zu übertreten und die Staatsmacht herauszufordern). Damit bieten sich diese Bewegungen nicht als Orte der Erneuerung von politischen Diskursen, Praxen und Programmen an, sondern verschwinden häufig einfach wieder, sobald der Verdacht auftaucht, sie seien von einer der Parteibürokratien manipuliert. Oftmals bleibt von ihnen nur eine Art Hülle zurück, versehen mit Namen, Logos und „Sprechern“, die hin und wieder eine Pressemitteilung herausgeben, wann immer etwas passiert und in den Medien auftaucht, das mit ihrem Thema (Rassismus, Sexismus, Entlassung von Arbeitern etc.) etwas zu tun hat. Im Unterschied zu den meisten anderen europäischen Ländern hat es in Portugal zum Beispiel im letzten Jahrzehnt keine Studenten- und Schülerbewegung gegeben, obwohl das hiesige öffentliche Bildungssystem völlig unterfinanziert ist, von steigenden Studiengebühren, zunehmender sozialer Selektivität sowie einem wachsenden Einfluss privater Interessen vor allem an den öffentlichen Universitäten und in Forschungseinrichtungen gekennzeichnet ist und die Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen wächst (wenn auch nicht in dem Maße wie in Spanien und Griechenland).
Selbst die Gewerkschaft Confederação Geral dos Trabalhadores Portuguese (CGTP), die der PCP nahesteht, weiterhin einer der mächtigsten Organisationen außerhalb des Staatsapparats ist (auch wenn außerhalb nicht ganz stimmt, weil sie erhebliche Mittel von der EU und der Regierung erhält) und über 200.000 Menschen zu gut organisierten und beindruckend inszinierten Demonstrationen auf die Straße bringen kann, verliert seit Längerem an Mitgliedern. Heute ist sie nur noch im öffentlichen Sektor wirklich einflussreich, weil mit der Deindustrialisierung ein Großteil der militanten Arbeiterschaft in den Vorruhestand geschickt worden ist. Von daher mag es wenig überraschen, dass sich solche sozialen Bewegungen auf bestimmte Anlässe konzentrieren – sie kritisieren vor allem Maßnahmen der Regierung und nehmen eine defensive Haltung ein. Das heißt, sie versuchen im Wesentlichen den Status quo zu verteidigen, der ihnen zuvor noch als nicht hinnehmbar galt und gegen den sie erfolglos opponiert haben. Zudem ist in dem konzeptioneller Rahmen, in dem sie sich bewegen, die Nation der natürliche Bezugspunkt politischer Kämpfe, und die Staatsmacht gilt als das ultimative Ziel und das wichtigste Instrument gesellschaftlicher Transformation. Zur linken politischen Landschaft zählen darüber hinaus einige anarchistische Gruppen und die übliche alternative Kunstszene, die sich mit kritischer Theorie befasst und es vorzieht, am Rande des Geschehens zu bleiben und sich auf eine selbsreferenzielle Poste zu beschränken, eine Haltung, die für die defensive Haltung der Linken typisch ist. Das ungefähr war die Musik, zu der sich alle bewegt haben, bis etwas ganz Neues den Dancefloor erfasste.
Die Dinge begannen sich zu ändern, als mehr und mehr Menschen auf die Straßen drängten, getrieben von alten Begehren und Anliegen sowie unmittelbaren Nöten und Notwendigkeiten. Es sollte an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen werden, dass der Sparkurs und entsprechende Anti-Auteritäts-Proteste schon vor der Unterzeichnung des Memorandums mit der Troika im Mai 2011 eingesetzt hatten. Das Memorandum folgte auf drei in den vorangegangenen Jahren verabschiedete sogenannte „Stabilitäts- und Wachstumsprogramme“, die alle ihr Ziel der Haushaltskonsolidierung verfehlt hatten und auf größeren Widerstand in der Gesellschaft gestoßen waren, man denke nur an den Generalstreik von November 2010 oder die bundesweite Großdemonstrationen im März 2011. Allerdings erwiesen sich die Bewegungen, die gegen das Projekt der inneren Abwertung die Menschen auf die Straßen mobilisierten, als zu fragmentiert.
Der Umstand, dass sowohl Lissabon (mit einer Bevölkerung von ungefähr 3 Millionen) als auch Porto (etwa 1,5 Millionen Einwohner) wesentlich kleiner sind als Madrid oder Athen und ihre städtischen Zentren eine urbane Dichte vermissen lassen, wie sie zum Beispiel für Barcelona typisch ist, erklärt unter anderem, warum es zwischen den Massenmobilisierungen aus materiellen und logistischen Gründen relativ schwer fiel, das Fundament der Bewegung zu stärken.
Als die Bewegungen eine Reihe von Erfahrungen gesammelt hatten, etwa verschiedene Elemente des zivilen Ungehorsams in ihre Demonstrationen und Generalstreiks integriert hatten, und die Regierung sich als unfähig erwies, mit diesen Protesten vernünftig umzugehen, und stattdessen versuchte, den Anschein von Normalität und des gesellschaftlichen Friedens aufrechtzuerhalten (ständig wurde fast schon wie eine Art Mantra behauptet, „Portugal sei nicht Griechenland“), gab es kaum mehr Leute, die sich bereit erklärten, als Sprecher dieser Proteste aufzutreten.
Diese Situation hielt an, bis sich schließlich die Bewegung „Que se lixe a Troika!“ („Fuck the Troika“ – QSLT) herausbildete. Ohne die Beteiligung von kleineren militanten politischen Gruppierungen und denjenigen, die in der Regel abfällig als Anarchisten bezeichnet werden, weil sie die Frage nach der Autorität und der Representativität der Bewegung stellen, rief die QSLT zu einem breiten Protest für den 15. September gegen die Austeritätspolitik auf. Dieser Aufruf profitierte davon, dass die Regierung gerade zwei Tage zuvor einen der umfangreichsten Einkommenstransfer von den Arbeitern hin zum Kapital verkündet hatte (mit einer Änderung der Beitragsbemessung für das Sozialversicherungssytem). Damit war im wahrsten Sinne des Wortes die Bühne bereitet für Massenproteste. Damals entschieden selbst die der PCP nahestehenden Gewerkschaften, die bis dato den Widerstand als „unorganisch“ verunglimpft hatten, sich den Protesten anzuschließen (vgl. hierzu
Pinheiro 2014).
Der gute Wille und die Aufrichtigkeit derjenigen, die an den Moblisierungen der QSLT-Bewegung beteiligt waren, stehen außer Frage. Trotzdem haben einige ihrer Anstrengungen und Entscheidungen nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass die Anti-Austeritäts-Proteste, nachdem sie am 2. März 2013 ihren Zenit erreicht hatten (damals beteiligten sich allein in Lissabon rund eine Million Menschen an einem Protestmarsch), sehr schnell in sich zusammenfielen, sodass es manchmal fast so erscheint, als hätten sie niemals stattgefunden. Einerseits kam der QSLT eine Weile die bis dahin beispielslose Fernsehberichterstattung über die Proteste zugute – in einem Land mit einer solch hohen Analphabetenrate darf die Rolle des Rundfunks nicht unterschätzt werden. Plötzlich gingen deutlich mehr Leute auf die Straße als je zuvor, jedoch hat es niemals eine unabhängige Bewegung der Plätze gegeben, die mit neuen Formen der Horizintalität und verbindenden Praxen experimentiert hätte.
Die Verbindungen, die zu linken Parteien existierten, wurden eine Zeitlang sorgfältig verschwiegen, sowohl die Parteizugehörigkeit einzelner Mitglieder als auch die logistische Unterstützung, die die Bewegung von Parteien erhalten hatte (dabei ging es vor allem um die Bereitstellung von Bühnen mit mächtigen Soundsytems, mit denen man alle unliebsamen Stimmen übertönen konnte). Es dauerte jedoch nicht lange, bevor auch auf den Treffen der QLST-Bewegung die spezifisch linke Kultur des „Alle gegen alle“ Einzug hielt und die verschiedenenen militanten Gruppen damit begannen, sich gegenseitig zu beschuldigen, die Übernahme der Bewegung geplant zu haben. Das innere Gleichgewicht des Bündnisses geriert vollends durcheinander, als die Medien zu verstehen begannen, wie eng die Bewegung mit Parteien der Linken verbunden war, und anschließend darüber berichteten. Spätestens als mehrere Bewegungsmitglieder als Kandidaten dieser linken Parteien im Vorfeld von Kommunal- und Europawahlen auftraten, wurde dies zu einem Konflikt.
Das konnte den Protesten im ersten Moment jedoch noch nichts anhaben. Sie wurden immer intensiver und mündeten am 14. November 2012 in einem besonders kämpferischen Generalstreik, währendessen es vor dem Parlament zu Zusammenstößen mit der Polizei kam, die meherer Stunden andauerten und erst durch einen brutalen Angriff der Bereitschaftspolizei beendet wurden. Neben brennenden Barrikaden und einer langen Spur der Verwüstungen gab es auch zahlreiche Verletzte. Mehrere Personen wurden unter Bedingungen festgenommen, die selbst die IGAI (ein internes Ermittlungs- und Disziplinarorgan der Polizei) als „eindeutig rechtswidrig“ einstufte. In den folgenden Tagen kam es in den Medien zu einer massiven politisch motivierten Meinungskampagne, wobei die Polizei unbearbeitetes Filmmaterial von den Demonstrationen veröffentlichte und denjenigen, die vom politischen Establishment und der Öffentlichkeit als „professionelle Störenfriede“ stigmatisiert worden waren, Hausarrest androhte, darunter vermeintlichte militante Anarchisten mit internationalen Beziehungen zu einer imagiären revolutionären Hydra, die es anscheinend hin und wieder auf die Zerstörung der innerstädtischen Zentren abgesehen hat. Dies schürte überall Paranoia und führte dazu, dass die Initiative von Tausenden von Menschen, die sich mehrere Monate lang dem Gewaltmonopol des Staates widersetzt hatten, auf diejenigen überging, die sich friedfertige und „ordentliche“ Proteste wünschten, was die Bewegung am Ende zu Fall bringen sollte. Es wurden Neuwahlen gefordert, es hieß, man könne den Kampf in die Wahlkabinen verlagern. Die langfristigen Auswirkungen, die diese Beschränkung der Handlungsoptionen auf die institutionelle Ebene in politischer und historischer Hinsicht hatte, dürfen nicht unterschätzt werden. Als die Bewegung damit begann, sich den Sturz der Regierung zum Ziel zu setzen, und sich dieses Unterfangen dann schnell als völlig aussichtslos herausstellte (angesichts ihrer absoluten Mehrheit im Parlament und der ungebrochenen Unterstützung durch den Präsidenten der Republik), kamen sich die meisten Leute ziemlich machtlos vor und hörten auf, daran zu glauben, dass sie mit ihren Aktionen und Mobilisierungen praktisch irgendetwas verändern können. Die Beschränkungen eines solchen Organisationsansatzes, der klassische linke Politik und Straßenproteste zusammenbringt, wurden noch deutlicher, als knapp ein Jahr später die CGTP zu einer Demonstration aufrief, die im Süden starten und über die zentrale Tejo-Brücke in die Stadt Lissabon führen sollte. Als die Regierung dies aus angeblichen Sicherheitsgründen untersagte, sackte die CGTP sofort ein und entschied sich für eine symbolische Geste: Die Brücke wurde im Bus überquert, die Demonstration aber ließ man in Lissabon beginnen.
[5] Die Bewegung gegen die Austeritätsmaßnahmen war von nun an offiziell tot, und alle weiteren Demonstrationen, die noch stattfanden, waren nur der Beweis dafür, dass in Lissabon (und in Porto und in Coimbra) die Ordnung die Oberhand behalten hatte. Von nun an war Politik wieder das, worüber man in der Zeitung liest oder von dem in den Fernsehnachrichten berichtet wird, und nicht mehr die gemeinsame geteilte Erfahrung des Infragestellens der herrschenden Ordnung und des Versuchs, darüber hinaus zu denken. Jetzt, da die Kämpfe auf der Straße vorbei waren, konnte man sich guten Gewissens wieder auf den Wahlkampf und darauf konzentrieren, die parlamentarische Linke zu stärken. Nichts anderes erschien mehr möglich. Wir tanzen immer noch zum Sound dieses Trauermarsches.
Requiescat in pace.
Ein kurzer Nekrolog
All dies hat zu der Situation geführt, in der wir heute stecken. Da man davon ausgeht, Wahlen seien das einzige Mittel, um etwas verändern zu können in einer Situation, in der sich dringend etwas ändern muss, wächst die Nachfrage nach einer Linken, die in der Lage ist, die Macht zu übernehmen und der traditionellen Abfolge von Mitte-rechts- und Mitte-links-Parteien an der Regierung etwas entgegenzusetzen. Es fehlt der Linken in Portugal jedoch eindeutig der Schwung, mit dem sich PODEMOS von den Protesten auf den Plätzen mitten in die spanische Politik hinein katapultiert hat, sie verfügt auch nicht über die Fähigkeit von SYRIZA, sich zugleich an die Straße und an die Märkte zu wenden und dabei ein Ende der Austeritätspolitik in der Eurozone zu fordern. Vielmehr ist sie in eine Falle getappt und hängt weiterhin der Illusion an, der nationale Rahmen sei der geeigneteste, um sich gegen den Neoliberalismus zur Wehr zu setzen, da er zumindest formal demokratisch gestaltet sei im Unterschied zum technokratischen und autoritären Charakter der europäischen Integration. In dieser Hinsicht hat sich der Bloco
de Esquerda (ursprünlich mit einer proeuropäischen Ausrichtung gegründet) ganz offensichtlich den Positionen der PCP (die von Anfang an euroskeptisch war, obwohl sie Ende der 1990er Jahre die Forderung nach einem EU-Austritt aufgegeben hat) angenähert. Beide Parteien sehen einen „geordneten“ Exit als die Voraussetzung für die Umsetzung einer wie auch immer gearteten keynesianistisch geprägten Entwicklungsstrategie an, die ausreichend Arbeitsplätze schafft und das Bruttoinlandsprodukt stark genug wachsen lässt, um wohlfahrtsstaatliche Leistungen finanzieren zu können. Der Ausgang der Verhandlungen zwischen der neu gewählten linken griechischen Regierung und der „Eurogruppe“ hat diese Perspektive gestärkt und eine Reihe von zuvor noch Unentschlossenen davon überzeugt, dass ein „Portuguexit“ unvermeidlich ist, wenn man sich dem Austeritätskurs nicht fügen will. Dies geht einher mit einigen besorgniserregenden Hinweisen auf einen neu aufflammenden linken Nationalismus (der in der Regel als patriotisch bezeichnet wird, um diesen häßlichen Begriff zu vermeiden), der häufig mit der Hervorhebung der besonderen Rolle des „deutschen Imperialismus“ (manchmal wird sogar von einem „nordeuropäischen Imperialismus“ gesprochen) verbunden ist. Darauf weisen zumindest die großformatigen Plakate des Bloco
de Esquerda hin, die überall im Land die Straßen säumen und die (ein Beispiel für das Fehlen jeglichen politischen Takts) ein Bild des portugiesischen Premierministers zeigen, der neben einer lächelnden Angela Merkel steht, die ihm gegenüber den Daumen hochhält.
[6] Das Ganze ist (anscheinend auch sprachlich nicht ganz korrekt) überschrieben mit: „Eine Regierung die Deutscher als die Deutsche ist.“
Keiner der linken Kandidaten, die vorgeben, das Land regieren zu wollen, fühlt sich gemüßigt zu erklären, wie ein Austritt aus der Eurozone kurzfristig zu etwas anderem führen könnte als noch zu mehr Einsparungen und Einschränkungen für die Menschen. Dass die Lebensumstände langfristig irgendwann besser werden, ist auch nicht viel mehr als ein vages Versprechen. Die Gelegenheit, aus der weit verbreiteten Verzweiflung der Menschen Nutzen zu ziehen, ist wohl zu verlockend für die linken Parteien, um sie sich entgehen zu lassen. Und während die europäischen Institutionen ungeniert ihre Missachtung gegenüber den demokratischen Entscheidungen in den südeuropäischen Ländern an der Peripherie zum Ausdruck bringen, scheint es den Linken nicht schwerzufallen, Nationalstolz und soziale Verarmung in ihrem politischen Narrativ zusammenzubringen. Wir sollten uns jedoch in Bezug auf den Ausgang der Wahlen am 4. Oktober 2015 keine Hoffnungen machen. Die Sozialistische Partei (PS) war in den letzten vier Jahren in der Opposition. Von dort aus hat sie mehrere von der Regierung ergriffene Maßnahmen offen kritisiert, ist jedoch eine Antwort schuldig geblieben, was sie beim Verbleib in der Eurozone anders machen würde (ein Austritt aus der Eurozone kommt für sie nicht infrage, da die PS unter allen portugiesischen Parteien die europabgeisterste ist und sehr erfolgreich darin war, das Projekt der europäischen Integration mit der Stabilisierung des demokratischen Systems zu verknüpfen). Die Partei wird sich nun wahrscheinlich als eine Alternative zur rechten Regierungskoalition positionieren können, mit einem Programm der „klugen Austerität“, das auf eine Kombination aus fiskalischer Entlastung und einer effizienteren Nutzung der europäischen Fördermittel setzt. Die PCP wird wahrscheinlich recht ordentlich abschneiden, obwohl sie weit davon entfernt ist, sich zum portugiesischen Äquivalent von SYRIZA zu entwickeln (in den Wahlen zum Europaparlament im letzten Jahre erhielt sie 12 Prozent der Stimmen). Die Partei Bloco
de Esquerda hat sich in den vergangenen Jahren mehrfach gespalten und wird demzufolge wahrscheinlich bei den Wahlen im Oktober eine herbe Niederlage erleiden, nicht zuletzt auch aufgrund eines Phänomens, das als „nützliche Stimme“ bekannt ist. Damit ist gemeint, dass nach links tendierende Wähler am Ende dann doch eher die PS wählen, um einen Wahlsieg der Rechten zu verhindern. Einige der Parteien, die das erste Mal zur Wahl antreten werden, werden wahrscheinlich keinen einzigen Abgeordneten ins Parlament entsenden. Das einzige Positive an dieser Stelle ist, dass die extreme Rechte in Portugal weiterhin überaus schwach ist und bislang nicht dazu in der Lage war, nur einen einzigen Abgeordnetensitz zu erringen, im deutlichen Unterschied zu Griechenland und einer Reihe anderer europäischer Staaten. Da die Regierungskoalition im Wahlkampf mit einem Programm werben wird, in dem das Ziel einer strikten Haushaltskonsolidierung um Versprechungen zur Bekämpfung der Armut und sozialen Ungleichheit ergänzt ist, können wir wohl damit rechnen, dass am Ende die kommende Regierung in Portugal den Kurs der internen Abwertung und des neoliberalen
social engineering fortsetzen wird, während die linke Opposition versuchen wird, das zurückzuobern, was sie in den zurückliegenden Wahlen verloren hat, um das Gewonnene beim nächsten Mal wieder zu verlieren, am Ende eine Quadratur des Kreises. Das Katastrophle an dieser Situation ist: Auf der nationalen Ebene ist die staatliche Souveränität inzwischen derart eingeschränkt, dass Entscheidungen, die wirklich Einfluss auf das konkrete Leben der Menschen haben, kaum mehr möglich sind, es sei denn, die Menschen sind bereit, wesentlich schlechtere materielle Bedingungen zu akzeptieren. Austerität ist, ob nun in einer abgemildeteren oder in einer brutaleren Form, zur einzig möglichen Option nationaler Regierungen geworden. Solange es uns nicht gelingt, diesen Status quo durch den Aufbau einer starken transnationalen Bewegung zu unterlaufen, werden wir weiterhin mit einer Situation konfrontiert sein, in der wir in nationalen Wahlen über die Zusammensetzung nationaler Institutionen bestimmen, die am Ende völlig machtlos sind und sich gezwungen sehen, ein bestimmtes Programm durchzusetzen und all diejenigen zu disziplinieren und zu bestrafen, die sich dagegen auflehnen. Es gibt diesbezüglich noch einiges zu tun im südeueropäischen Versuchslabor des Neoliberalismus, aber abgesehen davon ist an der westlichen Front im Großen und Ganzen eher ruhig.
Dieser Artikel erschien zuerst in einer Langfassung unter dem Titel Portugal: all quiet on the Western front? (cc: by-nc-sa) auf euronomade.info. Aus dem Englischen von Britta Grell
Literatur
Accornero, Guya/Pinto Ramos, Pedro, 2015:
Mild Mannered? Protest and Mobilisation in Portugal in Times of Crisis, in:
West European Politics 3/2015, 491–515
Arrighi, Giovanni (Hg.), 1985:
Semiperipheral development – The politics of Southern Europe in the Twentieth Century, London
Heilig, Dominic, 2015:
Athen ist nur schwer zu exportieren. Die Krise der Linken in Portugal nach der Wahl in Griechenland, Online-Publikation der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin,
http://dominic.linkeblogs.de/wp-content/uploads/2015/02/Portugals-Linke-Kopie.pdf.
IWF 2015:
IMF Country Report No. 15/126 (Portugal), Mai 2015.
Pinheiro, Frederico, 2014: Out of the Trap, in:
LuXemburg Online, April 2014,
www.zeitschrift-luxemburg.de/out-of-the-trap-2/
Trinidade, Luis, 2013:
The Making of Modern Portugal, Cambridge
Anmerkungen
[1] Die blaue Pille nehmen, nimmt Bezug auf den Film
Matrix, in dem es für die Enstcheidung steht, unwissend bzw. ein Opfer der Illusion zu bleiben [Anm.d.Ü].
[2] Vgl. hierzu eine Studie zu Spanien und Portugal unter:
https://www.google.de/?gws_rd=ssl#q=La+Peninsula+Iberica+en+cifras+2009.
[3] Strukturell verbunden mit der hohen Wohneigentumsquote basiert die private Verschuldung auf einem zweifachen Mechanismus: Privathaushalte leihen sich Geld von portugiesischen Banken und diese wiederum von ausländischen Banken (mehrheitlich spanische und französische Banken). Teil der Privatverschuldung sind zudem die hohen Beträge, die sich größere portugiesische Unternehmen geliehen haben, um in den Sektor nicht handelbarer Güter zu investieren. Das entspricht einem gewissen Muster der Akkumulation, die als Rentierökonomie beschrieben werden kann und die für das nationale Bürgertum in Portugal seit Beginn der 1990er Jahre typisch ist.
[4] Vgl. hierzu
https://libcom.org/library/passage-few-thousand-people-through-brief-period-time und http://mondialisme.org/spip.php?article2026.
[5] Es gab, inspiriert durch eine Demonstration in Istanbul, während des Generalstreiks am 27. Juni 2013 den Versuch von einigen Hunderten Aktivisten, die Brücke spontan und ohne Vorankündigung zu überqueren. Sie wurden von der Bereitschaftspolizei aufgehalten und mehrere Stunden lang eingekesselt.
[6] Vgl.
www.esquerda.net/sites/default/files/governoalemao2015b.jpg.