Seit einigen Jahren sammeln sich weltweit migrationspolitische Initiativen unter der Überschrift »Städte der Zuflucht« oder auch »Sanctuary Cities«. Was genau ist damit gemeint?
Die Begriffe stammen aus dem Alten Testament. Moses fordert die Israeliten auf, Städte einzurichten, die Flüchtlinge schützen. Je nach Übersetzung werden diese als Städte der Zuflucht, Asylstädte oder auch Freie Städte bezeichnet, auf Englisch als Sanctuary Cities, Cities of Refuge oder Asylum Cities. In der Bibel geht es darum, allen, die wegen privater Blutrache um ihr Leben fürchten, eine sichere Zuflucht zu ermöglichen, heute beleben kirchliche und säkulare soziale Bewegungen diese alte Tradition gemeinsam wieder. Sanctuary City betont, dass die Stadt ein sicherer Ort sein soll, dass keine Gefahr der Auslieferung besteht und die Versorgung mit Kleidung und Nahrung gesichert ist. In Stadt der Zuflucht schwingt mit, dass auch der Weg vom Ort der Verfolgung dorthin sicher sein soll. Genau so werden die beiden Begriffe auch heute verwendet. Sanctuary Cities nennen sich Städte, die Undokumentierte, die schon vor Ort leben, vor Deportation schützen wollen. Präsident Trump hat ihnen in den USA gerade den Kampf angesagt (vgl. Lebuhn 2016). Städte der Zuflucht hingegen setzen sich für die Aufnahme von Asylsuchenden aus dem Ausland in ihre Stadt oder Kommune ein, versuchen also legale Fluchtwege bereitzustellen. Beispiele dafür finden sich in Europa, Lateinamerika und Kanada.
Gibt es auch in Deutschland Beispiele für solche Städte der Zuflucht?
Als ich vor über drei Jahren das erste Mal zu dem Thema recherchierte, fand ich deutschlandweit nur zwei Städte, die sich so nannten: Frankfurt am Main und Hannover. Beide sind Mitglied im ICORN, dem Internationalen Städte-der-Zuflucht-Netzwerk. Es wurde in den 1990er Jahren gegründet, als weitreichende Änderungen des Asylrechts die Situation von Geflüchteten verschlechterten. Prominente Autor*innen initiierten das Netzwerk im Rahmen des Internationalen Parlaments der Schriftsteller, um bedrohten Kolleg*innen die Möglichkeit zu geben, mit einem Visum in eine der Mitgliedstädte zu kommen. Mit den Fluchtbewegungen der letzten Jahre ist die Frage kommunaler Immigrationspolitik noch wichtiger geworden. Zunächst ging es um Hilfe und Integration vor Ort. Es entstanden aber auch Initiativen, die Geflüchtete entlang der Balkanroute unterstützten. Als dieser Fluchtweg blockiert wurde, gründeten sich im Sommer 2016 Gruppen, die eine legale Umsiedlung von Asylsuchenden aus Griechenland und Italien in ihre Kommune in Deutschland forderten. Den Anfang machte damals die Stadt Osnabrück mit der Kampagne »50ausIdomeni«. Das ist wichtig, weil die meisten Flüchtenden auf Schlepper angewiesen sind, die sie von einem EU-Staat in einen anderen bringen. Oder auf private Helfer*innen an der Grenze, die damit allerdings eine Verurteilung wegen Menschenschmuggels riskieren, so wie der Bauer Cédric Herrou, der Flüchtende über die italienisch-französische Grenze fuhr.
Und gibt es hier auch Sanctuary Cities?
Momentan wird diskutiert, ob dieses anglo-amerikanische Modell hier umsetzbar wäre. Viele ehrenamtliche Unterstützer*innen treffen bei der Beratung auf abgelehnte Asylbewerber*innen. Wie in den USA bleibt für manche aus Angst vor Abschiebung nur das Abtauchen in ein Leben in der Illegalität. Die Sammelflieger, die seit Dezember wieder Menschen nach Afghanistan abschieben, haben allgemeines Entsetzen ausgelöst – und bei potenziell Betroffenen riesige Angst. Die Bundesregierung will Asylbewerber*innen gemäß der Dublin-III-Verordnung nun auch wieder nach Griechenland zurückschicken. Wegen systematischer Mängel in dortigen Asylverfahren durfte seit 2011 nicht mehr dorthin »überstellt« werden. Die menschenunwürdigen Bedingungen in den Lagern waren ein Grund für die hiesige Mobilisierung. Nun erweitern diese Initiativen ihre Kampagnen, um auch die zu schützen, die bereits in Deutschland leben. Das Vertrauen in den Nationalstaat und die EU ist massiv gesunken. Angesichts neuer Bedrohungsszenarien wird daher – sozusagen als letzter Ausweg – auf die Städte geschaut, in der Hoffnung, hier die Menschen vor menschenrechtswidrigen Abschiebungen schützen zu können.
Warum sollte auf städtischer Ebene möglich sein, was auf nationaler oder EU-Ebene verstellt ist?
Ich denke, ein entscheidender Punkt ist, dass hier der Grad der Anonymität im Vergleich zur nationalen Ebene niedriger ist. Wer mit Flüchtenden arbeitet und ihre Biografien kennenlernt, ist weniger verführt, fliehende Menschen bloß als Masse zu sehen. In Osnabrück war es eine Stadtteilinitiative, die Flüchtlinge berät, Sprachkurse und Freizeitaktivitäten anbietet und bei der Wohnungssuche hilft, die die Kampagne »50ausIdomeni« ins Leben gerufen hat. Ehrenamtliche Unterstützer*innen haben sich mit Geflüchteten solidarisiert, die sich um ihre in Griechenland zurückgebliebenen Angehörigen und Freund*innen sorgten, weil diese keinen legalen Weg sahen, nach Osnabrück zu kommen. Innerhalb kurzer Zeit schlossen sich viele lokale Akteure der Initiative an. Der Stadtrat stimmte dem Vorhaben schließlich über die politischen Fraktionen hinweg zu, auch der Oberbürgermeister unterstützte die Kampagne. Das war beeindruckend – es zeugt von einer gut funktionierenden Stadtkultur, von einer Stadtgesellschaft, die mit der Stadtregierung in engem Austausch steht. Hier hat Demokratie funktioniert.
Eine solch positive Einstellung gegenüber Geflüchteten kann man angesichts der Erfolge von AfD, Pegida oder anderen rechten Strukturen derzeit nicht überall voraussetzen.
Natürlich ist die Stadtbevölkerung nicht immer offen gegenüber Immigration. Ich denke aber, dass Nationalismen in lokaler Politik eine geringere Rolle spielen. Hier geht es meist um pragmatische Lösungen vor Ort. Wenn die neu errichteten Flüchtlingsunterkünfte leer stehen, fällt das auf. Manche Kommunen sind geradezu verärgert, dass die angekündigte Anzahl von Flüchtlingen doch nicht eintrifft. Wenn die Bevölkerung in den Gemeinden schrumpft, kann sogar ein Wettbewerb um neue Bewohner*innen entstehen. Das ist auch die Idee von Gesine Schwan, die einen EU-Fonds einrichten möchte, auf den sich europäische Gemeinden mit einem Konzept für die Flüchtlingsaufnahme bewerben können. Das ist ein Projekt im Sinne der Städte der Zuflucht. Schwan setzt auf starke Netzwerke aus staatlichen und zivilen Strukturen, die eine nachhaltige Strategie für die Aufnahme vor Ort entwickeln und so eine ›Nachfrage von unten‹ generieren. Die aktuelle Diskussion der EU hingegen zielt auf ›von oben‹ auferlegte Quoten. Schwan hat auch erkannt, dass die nationalen Regierungen momentan zu große Angst vor ihren rechten Parteien und Bewegungen haben, als dass sie fähig wären, eine humane Migrationspolitik zu gestalten. In den Städten scheint es dagegen Handlungsspielräume zu geben, die ausgelotet und mobilisiert werden (vgl. Orlando in diesem Heft).
Welche rechtlichen Spielräume hätten Städte denn?
Die Steuerung von Einwanderung wird allgemein als Angelegenheit des Nationalstaates betrachtet. Gleichzeitig haben sich in letzter Zeit Praktiker*innen und Wissenschaftler*innen stärker der Rolle der Städte in der Integrationspolitik zugewandt. Sie können die zentralstaatlichen Ebenen beeinflussen, idealerweise indem sie sich mit anderen Kommunen zusammenschließen. Es existieren bereits solche Netzwerke auf deutscher, europäischer und internationaler Ebene. Sie können aber auch direkt vor Ort handeln. Inwiefern sie die rechtliche Autonomie besitzen, eine eigenständige Migrationspolitik zu betreiben, ist noch nicht umfassend geklärt. Der französische Philosoph Jacques Derrida hält eine schrittweise Ausweitung des internationalen Flüchtlingsrechts auf Städteebene für realisierbar. Rechtswissenschaftlich müssten die nationalen, europäischen und internationalen Rechtsordnungen dahingehend überprüft werden. In Zürich wurde von einer lokalen Initiative gerade ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben. Das ist natürlich nicht einfach auf Deutschland übertragbar. Ich habe mir in meiner Dissertation aber etwas Ähnliches für hier vorgenommen.
Eine neue Utopie für die Stadt?
Ich denke, dass Städte der Zuflucht und Sanctuary Cities in Deutschland nicht utopisch, sondern machbar sind. Sie knüpfen an eine starke Verwaltungseinheit, die Kommune, an. Das Selbstbestimmungsrecht von Kommunen ist im deutschen Grundgesetz verankert. Zudem ist die Bundesrepublik föderalistisch organisiert, die Bundesländer haben auch Gesetzgebungskompetenzen. In rein kommunalen Angelegenheiten können Kommunen eigene Regeln erlassen, zudem wird ihnen durch die Länder häufig die Ausführung von Gesetzen übertragen. Ein Beispiel ist das Aufenthaltsgesetz des Bundes, das regelt, unter welchen Bedingungen Nichtstaatsbürger*innen einen Aufenthaltstitel erhalten oder in welchem Fall sie abgeschoben werden können. Beim Vollzug dieses Rechts haben die kommunalen Ausländerbehörden Ermessensspielräume, die sie zugunsten von Immigrant*innen ausfüllen können.
Wie müsste eine Sanctuary City in Deutschland vorgehen, um Abschiebungen zu verhindern?
Eine solche Stadt müsste die Aufenthaltsrechtsberater*innen vor Ort und idealerweise die zuständige Ausländerbehörde sowie Gerichte und Stadtpolitiker*innen einbeziehen. Wenn diese lokalen Akteure kooperieren, können Spielräume bei der Erteilung von Aufenthaltstiteln und bei der Legalisierung von Menschen ohne Papiere am besten ausgeschöpft werden. Für Stadtstaaten wie Berlin, Hamburg und Bremen gibt es zusätzliche Optionen, weil sie zugleich Bundesländer sind. Sie können ergänzende Verwaltungsvorschriften erlassen, wie das Aufenthaltsgesetz anzuwenden ist. Vorbildlich war hier die sogenannte Senatorenregelung in Hamburg, die von 2008 bis 2016 galt und bestimmte, dass eine Ausreise nach Afghanistan generell nicht zumutbar sei. Aufgrund dieser Regelung haben schätzungsweise 1 000 Personen eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, statt auf Kettenduldungen sitzenzubleiben. Inzwischen hat sich die Hamburger Regierung leider zu einem Hardliner entwickelt, die Senatorenregelung wurde aufgehoben und Abschiebungen werden durchgesetzt, auch nach Afghanistan. Die Länder Schleswig-Holstein, Thüringen und Niedersachsen haben sich zuletzt geweigert, sich an den bundesweiten Abschiebeaktionen nach Afghanistan zu beteiligen. Ein entsprechender Antrag der Linkspartei in der Hamburger Bürgerschaft ist gescheitert. Stadtstaaten und Bundesländern steht es offen, einen eigenen dreimonatigen Abschiebestopp zu verhängen, um dem Abschiebedruck von der Bundesebene vorübergehend zu trotzen. Inwiefern Kommunen, die sich weigern, ihre Stadt-Mitarbeiter*innen an Abschiebungen zu beteiligen, vom Zentralstaat dazu gezwungen werden können, ist nicht abschließend geklärt. In den USA versucht das derzeit Donald Trump, indem er droht, die Zahlungen der Bundesebene an Städte, die sich als Sanctuary Cities deklarieren, zu stoppen. Ich denke aber, dass – unabhängig von Handlungsoptionen auf Verwaltungsebene – bereits die Selbstdeklaration als Stadt, die alle ihre Bewohner*innen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus schützt, in der öffentlichen Debatte derzeit recht wirkungsvoll ist.
Für Städte der Zuflucht sieht die Rechtslage wahrscheinlich noch etwas schwieriger aus, oder?
Ja, das stimmt. Der von Gesine Schwan vorgeschlagene europäische Fonds zur kommunalen Aufnahme von Geflüchteten sieht vor, dass die nationalstaatliche Ebene nicht umgangen werden soll. So hat auch die Stadtregierung in Osnabrück die Geflüchteten unter der Prämisse unterstützt, dass sie über die von der Bundesrepublik bereits beschlossene Relocation-Quote in die Stadt kommen können. Die Stadt sah sich nicht imstande, selbst Aufnahmeentscheidungen zu treffen. Die Verantwortung für die auf EU-Ebene beschlossene Umsiedlung von Geflüchteten aus Griechenland und Italien liegt bei der Bundesregierung und nicht bei den Ländern oder gar Städten. Das Problem ist, dass Deutschland die EU-Vereinbarung nicht – oder nur zögerlich – erfüllt. Nach der abgemachten Quote sollen 27.400 von EU-weit 160.000 Personen innerhalb von zwei Jahren hier aufgenommen werden. Sechs Monate nach dem EU-Beschluss waren aber erst 57 Menschen angekommen. Im November 2016 verkündete die Bundesregierung, monatlich 500 Plätze bereitstellen zu wollen. Diese Entscheidung geht sicherlich auch auf das Konto der Osnabrücker und deren Nachfolgerkommunen. Dennoch: Selbst mit den neuen Versprechungen der Bundesregierung würde es mehr als vier Jahre dauern, bis die zugesagte Zahl aufgenommen wäre. Außerdem ist die Ansiedlung von Personen aus den Hotspots in Griechenland und Italien in eine konkrete deutsche Stadt bürokratisch schwierig. Denn eigentlich werden alle Asylsuchenden nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel per Quote auf die Bundesländer verteilt und dann von der Landesebene den Kommunen zugewiesen. Letztere haben hier praktisch kaum Einflussmöglichkeiten.
Was bleibt den Städten darüber hinaus?
Die kommunalen Ausländerbehörden sind beispielsweise meist einbezogen, wenn Anträge auf Visa bei den deutschen Auslandsvertretungen gestellt werden. Im Rahmen des bestehenden Aufenthaltsgesetzes ist es möglich, dass deutsche Kommunen im Sinne einer Stadt der Zuflucht Menschen im Ausland die legale Einreise mit einem Visum ermöglichen. In der wenig bekannten Vorschrift des § 22 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes ist sogar vorgesehen, dass im Einzelfall auch ein humanitäres Visum zur Einreise erteilt werden darf. Im Klartext heißt das, dass schon jetzt die rechtliche Möglichkeit besteht, legale Zufluchtswege in Kommunen zu schaffen. In diesem Gesetz sehe ich grundsätzlich Potenzial für eine direkte Flüchtlingsaufnahme auf städtischer und kommunaler Ebene.
Dass diese Chance bisher wenig genutzt wird, hat verschiedene Gründe. Einerseits ist die Norm selbst bei spezialisierten Rechtsanwält*innen recht unbekannt. Andererseits tritt bei denen, die das Gesetz entdeckt haben, oft Resignation ein, wenn die Behörden ihr Ermessen nicht wohlwollend ausschöpfen. Da diese Regel keinen Anspruch auf Aufnahme aus dem Ausland begründen soll, kann sie nur schwer gerichtlich durchgesetzt werden. Hier müsste politischer Druck entfaltet werden, durch soziale Bewegungen, die mit den Stadtregierungen zusammenarbeiten. Dann ließe sich die Handhabe der Norm durch die lokalen Ausländerbehörden potenziell ändern. Außerdem ist die Erteilung von Visa auch dann möglich, wenn Privatpersonen Verpflichtungserklärungen abgeben. Dies wird zum Beispiel durch ein zivilgesellschaftliches Netzwerk in Hamburg und Berlin zur Unterstützung von Syrer*innen praktiziert. In Kanada wird so fast die gesamte Flüchtlingsaufnahme organisiert.
Viele Möglichkeiten sind also offenbar noch wenig bekannt?
Auf der Ebene der Städte oder Kommunen liegen auf jeden Fall ungenutzte Potenziale, eine demokratischere und liberalere Migrationspolitik voranzubringen, bei der es um mehr als Integration geht. Wie sich dies im Wechselspiel von Theorie und Praxis weiter ausgestalten und verallgemeinern lässt, muss sich zeigen – inwiefern sich Städte der Zuflucht und Sanctuary Cities in die aktuellen Rechtssysteme eingliedern lassen, vor allem aber, wie sie im Sinne Derridas die bestehenden Systeme untergraben, übertreten oder herausfordern können.
Das Gespräch führte Barbara Fried