In einer Veranstaltungsreihe zu »vergessenen Utopien des Wohnens« habt ihr historische Erfahrungen des öffentlichen Wohnungsbaus zusammengetragen, von Schweden über das »Rote Wien« bis zum sozialistischen Jugoslawien. Der Tenor: Eine andere soziale Wohnraumversorgung war möglich. Warum brauchen wir solche Utopien heute?

Andrej Holm: Weil der Markt versagt. Mit leistbaren Wohnungen für Haushalte mit unterdurchschnittlichen Einkommen kann man kaum Gewinn erwirtschaften. Eine stabile soziale Wohnversorgung gibt es deshalb nur außerhalb der Marktlogik. Versuche, den Markt durch strenge Mietengesetze, Förderprogramme und Steueranreize zu zähmen, gelangen immer nur vorübergehend. Sinnvoller wäre es, den Wohnungsbau als Sozialpolitik zu verstehen und die soziale Versorgung über profitwirtschaftliche Kalküle zu stellen. Dann müssen Wohnungen durch öffentliche Investitionen bereitgestellt werden, so wie andere Infrastrukturen auch.


Philipp Möller: Die aktuelle Misere zeigt ja deutlich, dass es so nicht weitergeht. Der Bedarf an bezahlbaren Wohnungen ist sehr hoch, während der Markt versagt. Die Bautätigkeit bricht ein, weil sich Investitionen nicht mehr rentieren. Selbst Liberale fordern da eine verstärkte öffentliche Förderung des Neubaus, wobei das Geld ihrer Ansicht nach in private Taschen fließen soll.

Das ist ja das deutsche Modell des sozialen Wohnungsbaus: Private Bauträger bekommen staatliche Fördermittel und weisen den Wohnraum für 20 bis 30 Jahre als Sozialwohnung aus.

Möller: Genau, dieses Modell ist aber gescheitert, weil mit öffentlichen Geldern am Ende privates Eigentum gefördert wird. Die Alternative wäre: Der Staat nimmt mit direkter Finanzierung und eigenen Baukapazitäten den Wohnungsbau selbst in die Hand. So entsteht öffentliches Wohneigentum, das dauerhaft gemeinwohl­orientiert bewirtschaftet werden kann.

Wie hat denn die Finanzierung in den historischen Beispielen funktioniert?

Holm: Im Prinzip mit Steuereinnahmen, die für Investitionen in den Wohnungsbau genutzt wurden. Im »Roten Wien« waren es Sondersteuern auf Luxusgüter und eine Wohnbausteuer explizit für den Bau von Gemeindewohnungen. In den anderen Ländern wurden Mittel im Staatshaushalt eingeplant. So war es möglich, die Mietzahlungen von den Erstellungskosten zu entkoppeln. Der Bau war Teil der öffentlichen Infrastruktur und musste nicht aus Mietzahlungen refinanziert werden. Wir fänden es ja auch absurd, den Bau einer neuen Bibliothek aus den Gebühren der Nutzer*innen zu bezahlen.

Ein Problem für gemeinwohlorientierte Bauträger sind die explodierenden Bodenpreise. Wie wurde damit in den Beispielen umgegangen?

Möller: Der Staat hat öffentliche Flächen für den Neubau bereitgestellt und besaß durchgreifende Verfügungsgewalt über den Boden. Im Realsozialismus gab es Landreformen, mit denen Großgrundbesitzer enteignet und der Boden vergesellschaftet wurde. Im »Roten Wien« wurden private Bauinvestitionen durch die Wohnbausteuer und die Regulierung des Mietpreises unattraktiv. Das hat die Bodenpreise gesenkt und weitreichende Kommunalisierungen von Bauflächen möglich gemacht.


Holm: In Amsterdam wurde der Bau der Wohnungen von den Bodenpreisen entkoppelt. Fast 90 Prozent des Bodens gehören der Stadt und werden fast nur im Rahmen von Erbbaurechtsverträgen vergeben. So kann die Stadt selbst bestimmen, wie hoch die Kosten für die Nutzung sind. In vielen sozialistischen Ländern wurden Grundbesitz und Gebäude voneinander getrennt, teilweise auch die Besitzstruktur von den Nutzungsrechten der Wohnanlagen. Beim jugoslawischen socially owned housing wurden die Wohnungen von Konsortien aus Vertreter*innen der Stadtverwaltung und selbstverwalteten Betrieben errichtet. Eine Auftrennung von Eigentums-, Besitz- und Nutzungsrechten sichert die soziale Nutzung der Wohnanlagen durch mehrere Instanzen ab. Eine einseitige Veränderung der Bewirtschaftungsstrategien ist dann quasi unmöglich.

Wurden die Wohnungen direkt und ausschließlich vom Staat errichtet?

Möller: Es gibt Paradebeispiele für eine direkte staatliche Trägerschaft wie das council housing in Großbritannien und den Gemeindewohnungsbau im »Roten Wien«. Hier organisierten die Gemeinden den Neubau und die Verwaltung in eigener Regie. In den Niederlanden gab es neben kommunalen Wohnungsbaugesellschaften auch gemeinnützige und politisch ausgerichtete Wohnungsbauvereine, von liberalen und sozial­demokratischen bis hin zu katholischen und protestantischen. In keinem der Beispiele war der Staat der alleinige Akteur. Es gab immer auch Möglichkeiten für privates Engagement, selbst in den realsozialistischen Ländern. In Rumänien und Jugoslawien wurde der private Bau von Eigenheimen vor allem in ländlichen Regionen gefördert, denn der staatliche Wohnungsbau blieb wie fast überall ein urbanes Phänomen und konnte nicht den gesam­ten Bedarf abdecken. Eine Kommodifizierung der Eigenheime war jedoch ausgeschlossen. So blieb der Boden in Jugoslawien im Besitz der Gesellschaft und nur Gebäude waren Privateigentum. In Rumänien durfte eine Familie nur ein Haus besitzen; wer weitere Immobilien erbte, musste sie verkaufen. Privater Wohnungsbau zum Zwecke des Verkaufs war verboten.

»Die Mieten waren utopisch niedrig. Sie lagen zwischen vier und zehn Prozent des Durchschnittseinkommens.« Andrej Holm

Wie sahen die Mietpreise aus?

Holm: Aus heutiger Sicht utopisch niedrig. In fast allen Fällen waren die Mietkosten von den Bau- und Finanzierungskosten unabhängig. Sie lagen meist zwischen vier und zehn Prozent eines durchschnittlichen Arbeitseinkommens. Es wurde nicht gefragt: Wie hoch muss die Miete sein angesichts von Baukosten und Finanzierungsbedingungen? Sondern: Wie müssen wir Bau und Finanzierung organisieren, damit die Miete so niedrig sein kann? In den klassischen Begrifflichkeiten der Wohnungswirtschaft waren das »kosten­deckende Bewirtschaftungsmieten«. Sie sollten vor allem Verwaltung, Instandsetzung und Mieterservice finanzieren und Rücklagen für Modernisierungen bilden.

An wen richteten sich die Programme? Gab es wirklich Wohnraum für alle?

Möller: Alle Programme hatten diesen Anspruch. Das gelang aber in sehr unterschiedlichem Maße und hing davon ab, ob der staatliche Wohnungsbau den Bedarf decken konnte und wie hochwertig die Wohnungen waren. Am breitesten war die Versorgung wohl in den Niederlanden und in Schweden. Das schwedische Eine-Million-Wohnungen-Programm erreichte in den 1970er-Jahren seine Zielmarke und produzierte sogar einen Überschuss. In den hochwertigen Neubauten in Amsterdam gab es bis in die 1980er-Jahre eine hohe soziale Mischung. In Jugoslawien gab es zwar auch hochwertigen öffentlichen Wohnungsbau, doch der Bedarf konnte nie annähernd gedeckt werden, sodass die Wohnungen den bürokratischen Eliten und Facharbeiter*innen vorbehalten blieben.

„Alle Programme hatten den Anspruch, breite Schichten der Bevölkerung zu versorgen. Das gelang aber in sehr unterschiedlichem Maße.“ Philipp Möller

Wie wurden denn die Wohnungen verteilt?

Holm: In fast allen Beispielen gab es mehr Wohnungssuchende als öffentliche Wohnungen. Um trotz Mangel eine halbwegs gerechte Verteilung zu organisieren, wurden in den meisten Fällen Wartelisten erstellt, teilweise ergänzt um Punktesysteme, um die Dringlichkeit des Bedarfs zu erfassen.


Möller: Wie Bedarfe definiert und gewichtet wurden, hatte natürlich mit politischen Zielsetzungen zu tun. Im council housing wurden nach den Weltkriegen Veteranen bevorzugt, zu anderen Zeiten waren es Leute, die aus abgerissenen Elendsquartieren umgesiedelt wurden. In Wien werden bis heute Menschen priorisiert, die aus schlecht ausgestatteten oder überbelegten Wohnungen kommen. Umstritten waren die Versorgungskontingente, die in Rumänien, Jugoslawien oder der DDR über Betriebe oder staatliche Institutionen vergeben wurden und Kader bevorzugten.


Holm: Daran sehen wir, dass öffentlicher Wohnungsbau noch keine gerechte Vergabe garantiert. Vielerorts wurden Minderheiten ausgegrenzt, etwa der ungelernte Teil der Arbeiterklasse in Jugoslawien oder Roma-Familien in Rumänien. Eine Wohnversorgung für alle setzt also auch eine weitergehende Demokratisierung voraus.

Heute hat der soziale Wohnungsbau, vor allem die großen Wohnblocks, ja eher ein schlechtes Image und steht für Ghettoisierung und Ausgrenzung.

Holm: In fast allen Ländern waren die modern ausgestatteten Neubauten zunächst eine attraktive Wohnadresse. Die symbolische Abwertung vor allem von Großsiedlungen kam erst, als durch privaten Neubau und Modernisierung Alternativen entstanden sind, die den individuellen Wohnwünschen besser entsprachen. Durch den Rückzug des Staates aus der Wohnversorgung wurden die öffentlichen Bestände von einem Angebot für alle zu einem immer kleineren Versorgungssegment für die, die auf dem Markt keine Chance haben.


Möller: Eine Alternative bietet Wien: Der gemeinnützige und öffentliche Wohnungsbau stellt hier mehr als die Hälfte aller Mietwohnungen und versorgt ein breites Spektrum an Einkommensgruppen. Viele öffentliche Bauten sind von höherer Qualität als die privaten und sehr begehrt.

Die Kampagne Deutsche Wohnen & Co enteignen schlägt ja eine radikale Demokratisierung vor, wenn die Bestände verge­sell­schaftet sind. Gibt es dafür historische Vorbilder?

Holm: Die Mitbestimmung ist der missing link in den historischen Beispielen. In der Logik der fordistischen Wohlfahrtspolitik wurde vor allem auf Masse und paternalistische Versorgung gesetzt. Eine Ausnahme ist das schwedische Modell. Dort handeln die kommunalen Wohnungsunternehmen bis heute mit der Mieter*innengewerkschaft die lokalen Mietsteigerungen aus, die bis in die 1990er-Jahre auch für private Vermieter*innen bindend waren. Das sind aber echte Ausnahmen. Darum haben die Protestbewegungen der letzten Jahre zurecht wieder eine Demokratisierung der Bestände gefordert. Ohne Vergesellschaftung wird diese aber kaum zu haben sein.


Das Gespräch führte Rabea Berfelde.

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