Der CA-TJ Ansatz wurde von Menschen in den Staaten entwickelt, deren Körper ungerechtfertigterweise und grundlos kriminalisiert werden. So großzügig über Täterschaft zu sprechen wie diese es tun, ist in einem deutschen Kontext, mit dem Hintergrund der NS-Täterschaft, ungewohnt und erfährt Widerstand. Als Person, die in beiden Kontexten gewohnt und gearbeitet hat, spüre ich immer wieder den Nachhall der Geschichte bei dieser Arbeit. Kulturen von Scham und Schuld sind Folgen der verfehlten Aufarbeitung der NS-Zeit, und linke Zusammenhänge sind dagegen nicht immun, was oft zu einer Politik der moralischen Hyghiene führt. Wenn Menschen sich sehr um ihre eigenen Korrektheit und moralische Reinheit sorgen, große Anstrengung betreiben um diese aufrechtzuerhalten und sich von den eigenen Fehler existentiell bedroht fühlen, fehlt oft die Bereitschaft, Verantwortung für das eigene Handeln und daraus entstandenen Schaden zu übernehmen.
3) Kollektiver Umgang statt individueller Schuld
Vielleicht kann hier die Position der CA-TJ hilfreich sein, dass Gewalt zwischen Personen nicht das Problem einiger weniger „fauler Äpfel“ ist, sondern Ausdruck eines allgemeinen gesellschaftlichen Symptoms, für das wir alle Verantwortung tragen und das uns alle auf verschiedene Weise berührt. Das Kollektiv ist nicht nur eine Quelle des Problemes, sondern kann auch der Ort der Lösung sein. Die Communities und Individuen, die am stärksten von zwischenmenschlicher Gewalt betroffen sind, sind meist besser in der Lage, auf diese Gewalt angemessen zu reagieren, als externe Vertreter*innen staatlicher Institutionen.
Um solche Projekte und CA-TJ-Ansätze im deutschen Kontext umzusetzen und verständlich zu machen, bedarf es einer beträchtlichen konzeptuellen Vermittlungs- und Transferleistung. Im letzten Herbst hat unser Kollektiv die Broschüre „Das Risiko wagen“ veröffentlicht, für das wir einen zentralen Text zum Thema „Community Accountability“ vom Englischen ins Deutsche übersetzt haben. Dabei haben wir gemerkt, wie schwierig es ist, nicht nur bestimmte Worte, sondern ganze Konzepte auf ein neues Terrain zu übertragen. Zum Beispiel wird der Begriff „Community“ oft mit Irritation empfangen. Oft bekommen wir gesagt, dass es in Deutschland nicht so starke „Communities“ gibt wie in den Vereinigten Staaten. Tatsächlich wurden die selbstständigen, oft über Ethnizität, Herkunft, und race definierten Communities in den USA geschmiedet von einem Siedlerkolonialismus, der auf einem Völkermord beruhte, von Sklaverei, Multikulturalismus und Migration. Er unterscheidet sich daher stark von der Geschichte und den politischen Kategorien hierzulande.
Allerdings merken wir in der Praxis, dass es auch hier oft schon solidarische Zusammenhänge und stabile Infrastrukturen gibt, die aktiviert werden können, in linken Kontexten (Gruppen, Hausprojekte) und in NGOs, im Gemeinwesen- und der Stadtteilarbeit oder in religiösen Einrichtungen. Sie sollten Richtlinien zum Umgang mit Vorfällen sexualisierter Gewalt erstellen und entsprechende Aufklärungs- und Präventionsarbeit leisten, anstatt das Thema als private Angelegenheit zu betrachten und unter den Tisch zu kehren.
In Hamburg macht das Projekt „StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“, inspiriert durch den Austausch mit einer Anti-Gewalt-Organisation in Boston, genau das: Es hilft einer Stadtteileinrichtung, das Thema aufzugreifen und die Community durch Community Organizing und Forschung zu aktivieren. Öffentlichkeitsarbeit und Erwachsenenbildung sorgt für Prävention und die Veränderung von Leitkulturen; Unterstützungsangebote für betroffene Personen und Beratung für gewaltausübende Personen werden aufgebaut, und? schließlich wird mitgedacht, wie das Projekt sich auf lokaer Ebene auch politisch einmischen kann.
Community versus Staat
Seit dem Wahlsieg von Donald Trump bei den US-Präsidentschaftswahlen 2016 werden Diskussionen über sogenannte rebellische Städte oder über einen radikalen Munizipalismus mit neuer Energie geführt. Ihnen liegt meist die Annahme zugrunde, dass der Widerstand am besten auf der lokalen Ebene zu organisieren ist und dies auch der Ort ist, wo sich Vorstellungen von partizipatorischer Demokratie am einfachsten in Community-Einrichtungen verwirklichen lassen. In der deutschen Linken gibt es ein großes Interesse an Community-Organizing-Ansätzen aus den USA und Großbritannien, die viele nach Deutschland importieren wollen. Doch schon den Begriff "Community" richtig zu übersetzen, ist ein heikles Unterfangen. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass das Sprechen über Communities ebenso wie die Rede von Populismus oder vom "Volk" ideologisch aufgeladen ist und von verschiedenen politischen Lagern unterschiedlich definiert und benutzt wird. So geht die multikulturelle und subversive Bedeutung, die dem Begriff Community im US-amerikanischen Kontext zukommt, verloren, wenn man ihn – wie es häufig geschieht – mit dem deutschen Wort „Gemeinschaft“ übersetzt.
[1] Erscheint 2018 auch als Buch bei Edition Assemblage.
https://www.youtube.com/watch?v=op_aSoFmcls Einführung in das Projekt „Was macht uns wirklich sicher?“ (die ersten 4 Minuten)
[2] https://www.prisonpolicy.org/reports/pie2017.html/.
[3] https://www.prisonpolicy.org/blog/2016/08/15/cjrace/
[4] vgl. Nadija Samour, „Einleitung: Was ist staatliche Gewalt“ und „Zwei Beispiele für Rassismus und Repression im deutschen Jugendstrafrecht“ in: Was macht uns wirklich sicher? Toolkit für Aktivist_innen, hg. von Melanie Brazzell, Berlin 2017, S. 15-16, 24-25. Claus Melter, „Koloniale, nationalsozialistische und aktuelle rassistische Kontinuitäten in Gesetzgebung und der Polizei am Beispiel von Schwarzen Deutschen, Roma und Sinti“ in: Rassismuskritik und Widerstandsformen, hg. von Karim Fereidooni & Meral El, Springer 2017, S. 589-612
[5] Ich arbeite mit einem breiten Verständnis von sexualisierter Gewalt und Partner*innen-Gewalt: Diese Gewalt kann in queeren und Hetero-Beziehungen geschehen und sich gegen Menschen aller geschlechtlichen Identitäten richten. Allerdings werden diese Gewaltformen überwiegend von Cis-Männer ausgeübt und richten sich oft gegen Frauen*, Trans* und geschlechlich nicht-binäre Menschen.
[6] Für weitere Barrieren für Migrant_innen und geflüchtete Personen vgl. https://www.transformativejustice.eu/wp-content/uploads/2017/07/toolkit-finished-1.pdf#page=25
[7] https://www.transformativejustice.eu/wp-content/uploads/2017/07/toolkit-finished-1.pdf#page=37
[8] https://www.transformativejustice.eu/wp-content/uploads/2017/07/toolkit-finished-1.pdf#page=38
[9] Zur Ineffektivität eines öffentlichen Register für Sexualstraftäter*innen vgl. http://www.nber.org/papers/w13803 und http://www.ncjrs.gov/pdffiles1/nij/grants/234597.pdf. Über die Wirkung einer Festnahmepflicht bei häuslicher Gewalt und “no drop” Strafverfolgungsrichtlinien auf die von Gewalt Betroffenen vgl. https://www.ncjrs.gov/pdffiles1/nij/222679.pdf, https://www.bc.edu/content/dam/files/schools/law/lawreviews/journals/bctwj/23_1/04_FMS.htm. Zur den Folgen, die Gesetze gegen Menschenhandel auf Sexualarbeiter*innen haben vgl. http://www.thedailybeast.com/the-gops-sex-trafficking-shell-game-how-laws-against-sex-trafficking-end-up-hurting-women, https://www.vox.com/2015/8/28/9220255/alaska-prostitution-sex-trafficking.
[10] https://www.transformativejustice.eu/wp-content/uploads/2017/07/toolkit-finished-1.pdf#page=34
[11] vgl. Jin Haritaworn, Queer Lovers and Hateful Others: Regenerating Violent Times and Places, Pluto Press, London 2015.
[12] vgl. Victoria Law, „Against Carceral Feminism“ in: Jacobin, 17.10.2014. Elizabeth Bernstein, „The Sexual Politics of the ‘New Abolitionism’“ in: differences, 2007, 18(3), S. 128-151.
[13] Jasbir Puar, Terrorist Assemblages: Homonationalism in Queer Times, Duke University Press, Durham 2007.
[14] Sara R. Farris, In the Name of Women’s Rights: The Rise of Femonationalism, Duke University Press, Durham 2017.
[15]Diese Begriff, den Claude Denis geprägt hat und den viele indigene Aktivist*innen und Denker*innen benutzen, beschreibt eine weiß-dominierte Mainstream Politik.
[16] https://www.transformativejustice.eu/wp-content/uploads/2017/07/toolkit-finished-1.pdf#page=36
[17] von „Can the Subaltern Speak?“ in: Marxism and the Interpretation of Culture, hg. von Cary Nelson & Lawrnece Grossberg, University of Illionois Press 1988.
[18] Judith Butler, Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus, Campus 2013.
[19] Kiyomi Fujikawa, persönliches Interview, 9. April, 2014.
[20] This Bridge Called My Back: Writings by Radical Women of Color, herausgegeben von Cherríe Moraga und Gloria Anzaldúa, war einer der wichtigsten frühen Veröffentlichung von Frauen of Color im US-amerikanischen Kontext zum Thema Intersektionalität.
[21] INCITE! Women, Gender Non-Conforming, and Trans People of Color Against Violence, „Community Accountability Fact Sheet“ in: Law Enforcement Violence Against Women of Color and Trans People of Color: A Critical Intersection of Gender Violence and State Violence. An Organizer’s Resource and Toolkit. Redmond, WA, 2008, S. 69–70.
[22] Zu den Methoden der restaurativen Justiz gehört, betroffenen Personen die Möglichkeit zu bieten, mit Tätern und anderen Opfern zusammenzukommen und über die Folgen des Geschehenen zu sprechen. Damit stellen sie eine gute Alternative zum Strafrechtssystem dar, weil diese Herangehensweise in vielen Fällen eher ihren Bedürfnissen entspricht. Es gibt aber auch Gründe, die in Fällen von sexualisierter Gewalt in Familien oder Partnerbeziehungen dagegensprechen, dass sich betroffene Person und Täter an einem Tisch zusammensetzen – etwa ein extremes Machtgefälle zwischen den Beteiligten oder die Gefahr einer erneuten Traumatisierung.
[23] Für Beispiele, wie diese Prinzipien in der Praxis aussehen können, siehe meinen Artikel in der analyse & kritik.
[24] Vgl. Creative Interventions Toolkit: A Practical Guide to Stop Interpersonal Violence, Northwest Network „It takes a Village People! Advocacy, Friends & Family, and LGBT Survivors of Abuse“ Broschüre
[25] The long tradition of Black women focusing on love (and self-love) in their politics can be found in the work of June Jordan, bell hooks, Patricia Hill Collins, and Alexis Pauline Gumbs. Gumb's recent anthology (together with Mai'a Williams and China Martens) Revolutionary Mothering: Love on the Front Lines <http://secure.pmpress.org/index.php?l=product_detail&p=746> centers love and life-giving by women and queer folks of color in order to reframe debates about care-work. This approach is visible in the political praxis of Southerners of New Ground (SONG) <http://southernersonnewground.org>, which recently organized its second "Black Mama's Bail Out Action" <http://southernersonnewground.org/2017/05/a-labor-of-love/>, a campaign that raised money to bail Black mothers (defined broadly, not biologically) out of jail in protest of the cash bail system in the U.S. Another example is the unionization of care workers. Organizer Ai-jen Poo described the New York campaign of what later became the National Domestic Worker's Alliance (NDWA) in the article "Organizing with Love" <http://www.leftturn.org/Organizing-with-Love>. The NDWA partnered with generative somatics <http://www.generativesomatics.org/>, an organization focused on transformative body and healing work, for their leadership training program <https://dornsifecms.usc.edu/assets/sites/242/docs/sol-transforming-lives-executive-summary-4.pdf>. Such somatics and spiritual aspects of movement building have been detailed in the report "Out of the Spiritual Closet" <http://movementstrategy.org/directory/out-of-the-spiritual-closet/>
[26] z.B. Organisationen wie Philly Stands Up und Support New York
[27] Vgl. 6. Ausgabe von ROAR Magazine, „The City Rises“, 2017.
[28] Connie Burk: „Think. Re-Think. Accountable Communities“, In: The Revolution Starts at Home: Confronting Intimate Violence within Activist Communities, hg. von C.-I. Chen, J. Dulani, & L. L. Piepzna-Samarasinha, South End Press, Brooklyn, 2011. S. 265–80.