Du organisierst seit mehr als zehn Monaten die Nothilfe in Swisttal – wie kam das?
Ich bin hier aufgewachsen und wohne inzwischen in einer Nachbargemeinde. Eigentlich wollte ich im letzten Sommer nur ein paar Karmapunkte sammeln, wie viele andere. Aber die Situation, die ich vorgefunden habe, war katastrophal und chaotisch: Es gab keinerlei koordinierte Hilfe. Die Bundespolizei, das THW, die Feuerwehr und die Bundeswehr waren zwar vor Ort, aber wenig hilfreich. Die Gemeinde war absolut überfordert. Allein in den ersten drei, vier Tagen kamen allerdings über tausend Helfer*innen. Um ins Dorf zu kommen, brauchte man dreieinhalb Stunden, SMS kamen nur sporadisch durch, Digitalfunk oder Internet funktionierte gar nicht. Als Erstes musste alles aus den Häusern geräumt und abtransportiert werden. Die Straßen waren aber voller Schlamm und Müll. All das musste koordiniert werden.
Und das hast du in die Hand genommen?
Ja, da ich hier aufgewachsen bin, hatte ich einen gewissen Vertrauensvorschuss. Schon nach zwei Wochen haben die Einsatzkräfte den Ort wieder verlassen. Von da an gab es nur noch ehrenamtliche Kräfte. Wir fühlten uns alle alleingelassen, ob Helfer*innen oder Betroffene. In der Situation habe ich die Strukturen zusammengeführt. Das solidarische Netzwerk wurde immer größer, die Leute kamen von überallher, teilweise aus Belgien und Holland. Das war sensationell und hält bis heute an.
Welche Rolle haben vorhandene Strukturen wie Vereine, Verbände oder Kirchen gespielt?
Die katholische Kirche hat uns direkt das Pfarrheim am Dorfplatz zur Verfügung gestellt, wo unser Zelt bis heute steht. Aber alle anderen Vereine konnten sich kaum beteiligen. Von den 1 400 Gebäuden im Ort waren etwa 1 200 bis 1 300 betroffen und damit auch die meisten Vereinsmitglieder. Ab dem 28. oder 29. Juli – also zwei Wochen nach der Flut – war die gesamte Hilfe ehrenamtlich, ob Häuser entrümpelt oder die Straßen freigeräumt wurden.
Wie konntest du von einem Tag auf den anderen alles stehen und liegen lassen und so viel Verantwortung übernehmen?
Ich war Vertriebsleiter einer Werbeagentur. Wir waren vom Stromausfall in der Region betroffen und wurden die ersten paar Tage freigestellt. Danach hatte ich zufällig drei Wochen Sommerurlaub und dann habe ich versucht, den Spagat zwischen meinem Beruf und der Hilfe hinzubekommen. Da kamen so 120 bis 130 Stunden in der Woche zusammen. Im September bekam ich dann ein Jobangebot zur Projektarbeit in der Hochwasserhilfe und seit Oktober bin ich hauptamtlich hier. Meine Freundin würde sagen, dass es trotzdem noch viel zu viele Stunden sind. Wir haben keinen Tag frei und sind rund um die Uhr im Einsatz. Das ist schwierig mit dem familiären Leben unter einen Hut zu bekommen.
Ihr seid eine Art Schnittstelle, bei der alle Informationen zusammenfließen. Ist das richtig?
Genau. Ein wichtiger Punkt war am Anfang, die zahlreichen Hilfsangebote und Spenden zu koordinieren. Wir wurden etwa überschüttet mit Klamotten. Zunächst gab es diesen Bedarf, aber inzwischen könnten wir halb Deutschland mit Pullovern ausstatten.
Gibt es ähnliche Erfahrungen und Strukturen auch an anderen Orten?
Wir sind in NRW eine Ausnahme. In Stolberg bei Aachen gibt es ähnliche Strukturen. Es spricht sich natürlich herum und die Menschen kommen sowohl auf der Suche nach Hilfe als auch mit Angeboten aus einem Umkreis von 30 Kilometern. Inzwischen haben wir weit über 10 000 Helfer*innen vermittelt. Es geht aber nicht nur um die praktische Hilfe: Wichtig ist, dass sich die Leute auf die Unterstützung verlassen können, ob es tatkräftige Hilfe ist oder seelischer Beistand. Wir versuchen das alles zu verbinden. Inzwischen sind auch die Johanniter, das DRK, die Malteser, die Diakonie und die Caritas durch uns gut vernetzt. Teilweise treffen sie sich hier und sprechen ab, wer was übernimmt.
Woran liegt es, dass es euch gelungen ist, ein so gut funktionierendes Netzwerk aufzubauen?
Obwohl ich jetzt für eine Hilfsorganisation tätig bin, machen wir vieles weiterhin ehrenamtlich. Das geht nur, wenn viele Hände zusammenarbeiten. Ich sehe mich wie eine Spinne im Netz, die alles verbindet. Dabei habe ich immer versucht, die Hierarchien flach zu halten, viele einzubinden, aber auch mal eine Pause zu empfehlen. Auch für die Helfer*innen kann es eine sehr belastende Situation sein. Hin und wieder stelle ich aber auch mal unangenehme Fragen in Richtung Kommune, Kreis oder Ministerium. All diese Faktoren spielen eine Rolle. Man muss vertrauensvoll und empathisch sein und wenn nötig auch diplomatisch herangehen. Alleine geht das nicht. Wir sind ein ganzes Team. Dafür braucht es eine gewisse Hartnäckigkeit und, wie mein Vater immer gesagt hat, ein Herz voller Liebe, sonst wird es schwierig.
Gab es Momente, in denen du das Gefühl hattest, dass die Stimmung kippt? Und wie seid ihr beispielsweise mit knappen Ressourcen umgegangen?
Natürlich gab es solche Momente. Es gab beispielsweise hundert neue Waschmaschinen und viele gebrauchte. Da haben einige gefragt, wieso hat mein Nachbar eine neue und ich nur eine gebrauchte? Wir hatten eine Liste für die angefragte Hilfe und haben sie immer streng von oben nach unten abgearbeitet. Und wir haben nie etwas versprochen, was wir nicht halten konnten. Bautrockner waren auch ein Riesenthema. Da haben wir zuerst die Versicherten von der Liste gestrichen und ihnen erklärt, wie sie eigenständig an Trockner kommen können. Es gab natürlich auch Differenzen, oder mal hat der eine dem anderen etwas nicht gegönnt. Aber alle wussten, dass wir sie gleich behandeln. Das war wichtig. Und natürlich haben wir auch geholfen, wenn eine alte Frau in ihrem kaputten Haus stand und Hilfe brauchte, obwohl sie versichert war. Wir mussten dann einfach den gesunden Menschenverstand walten lassen und klar kommunizieren.
Solche Prozesse sind normalerweise schwierig, weil sich nicht alle darüber einig sind, wie man Prioritäten setzt.
Wir haben das im Team besprochen und sowohl die sozialen Aspekte berücksichtigt als auch den Grad der Beschädigung der Häuser. Daraus konnten wir fast immer ein faires Konzept erstellen. Der Dreh- und Angelpunkt ist die Kommunikation.
Die meisten Leute haben weder eine solche Katastrophe jemals erlebt, noch ein derartiges Maß an Solidarität von fremden Menschen erfahren. Hast du das Gefühl, dass sich im Ort die Beziehung der Menschen untereinander nachhaltig verändert hat?
Das hat sie. Ein so gigantisches Ausmaß an Solidarität aus ganz Deutschland hat alle überrascht. Die Flut hat die Menschen zusammengebracht und es ist etwas ganz Neues entstanden. Wenn wir es gemeinsam machen, wird es einfacher – das ist eine wertvolle Erfahrung. Natürlich waren die Umstände nicht so schön, aber die Flut hat die Tatsache freigespült, dass so etwas möglich ist. Inwieweit uns das noch begleiten wird, kann ich nicht sagen, aber ich hoffe natürlich, dass es für eine lange Zeit bleibt.
Wie erklärst du dir, dass staatliche Strukturen auch nach einem halben Jahr noch nicht imstande waren, koordiniert Hilfe zu leisten?
Es gibt keine Bundesbehörde, die das einheitlich in die Hand nehmen könnte. Man muss auch differenzieren: Zum Beispiel sind die 30 Milliarden Euro Wiederaufbauhilfe eine gute Sache. Geld ist aber nicht alles und es muss auch bei den Betroffenen ankommen. Deutschland ist ein sehr bürokratischer Staat. Inzwischen funktioniert es allmählich, aber bis Ende des Jahres wurden einschließlich der kommunalen Förderungen gerade einmal 0,5 Prozent der vorhandenen Gelder ausgeschüttet. Der Katastrophenschutz in Deutschland ist einfach schlecht geregelt, vor allem wenn das Ausmaß der Katastrophe so groß und länderübergreifend ist.
Wie meinst du das?
Der Katastrophenschutz ist in erster Linie auf die Gefahrenabwehr ausgerichtet. Alles, was danach kommt, ist nicht klar geregelt. Die Landrät*innen rufen den Katastrophenfall aus. Das kann und darf niemand sonst. Es führt aber zu Problemen. Beispielsweise war die Polizei in ihren Einsätzen sehr beschränkt, weil selbst in der akuten Phase die Kompetenzen ungeklärt waren. All das müsste durch eine Bundesbehörde geregelt werden, damit einheitlich gearbeitet werden kann.