Bei aller berechtigten Kritik wird in diesen Diskussionen oft vergessen, dass Gewerkschaften selbst eigentlich eine eigenständige soziale Bewegung sind, sie vor allem im Betrieb, aber auch in der Gesellschaft Wirkung entfalten. Transformative Organizing ist ganz klar eher ein Konzept für politische Bewegungen als für Gewerkschaften, zumindest in dem Modell, das Eric Mann (Luxemburg 3/2010, 98ff; rls Standpunkte 29/2011) vorschlägt. Es stellt sich die Frage, wie eine gewerkschaftliche Strategie der Transformation aussehen könnte und welche Folgen das für die Organisierung der Mitglieder wie auch für die Organisation der Gewerkschaft hätte. Ein genaueres Verständnis einer solchen Strategie würde zum einen hilfreich sein, um diese Herangehensweise des Organizing von anderen Gewerkschaftsstrategien zu unterscheiden. Zum anderen könnte diese Unterscheidung Aktiven innerhalb und außerhalb der Gewerkschaftsbewegung dabei helfen, die angewandten Praxen des Organizing besser reflektieren zu können. Eine Unterscheidung von transformativem Organizing und anderen Strategien wird zusätzlich durch den Umstand erschwert, dass der Begriff Organizing manchmal dazu benutzt wird, um Gewerkschaftsstrategien zu beschreiben, die nicht transformierend sind, während wiederum auf Transformation gerichtetes Gewerkschaftshandeln nicht immer Organizing genannt wird.

Organizing und Gewerkschaften in Deutschland

Im englischen Sprachraum bedeutet der Begriff Organizing faktisch so viel wie »der Zusammenschluss der Ohnmächtigen«. Organizing ist einfach das, was Ohnmächtige tun sollen, wenn sie mächtiger werden und etwas verändern wollen. Aus anderen Sprachen entliehene Wörter entwickeln aber in neuen Zusammenhängen nicht selten einen anderen Tonfall, und in Deutschland, wo der Begriff Organizing in Gewerkschaften seit mindestens einem Jahrzehnt gängig ist, wird der Begriff meistens als ein bestimmter methodischer Ansatz verstanden, der eine Reihe von spezifischen Techniken und Methoden einschließt. Durch die Betonung der Methodik anstelle von Politik wird der Begriff im deutschen Sprachraum dann manchmal mit Kommunikationsstrategien, mit Marketing oder mit Mitgliederwerbung verwechselt und kann deswegen für Verwirrung unter Kolleginnen und Kollegen sorgen, die eine transformative Arbeit anstreben. Transformatives Organizing in gewerkschaftlichen Zusammenhängen muss vor allem als ein betriebspolitisches Konzept verstanden werden, mit dem Gewerkschaften im Betrieb Prozesse anstoßen und mit dem Ziel begleiten, dass nicht organisierte Beschäftigte sich zusammenschließen, Konfliktfähigkeit entwickeln und sich selber und ihre Interessen im Betrieb vertreten. Organizing beinhaltet damit eine bestimmte Kritik an Stellvertreterpolitik und die Organizer sehen Emanzipation als ihre Hauptaufgabe an.

Transformative Praxis

Gewerkschafter in Deutschland setzen sich seit mittlerweile über zehn Jahren mit Organizing auseinander. Hier gibt es bei mindestens fünf GewerkschaftenOrganizing-Erfahrungen und eine große Bandbreite von Beispielen: von Organizing-Kampagnen in einzelnen Betrieben bis hin zu ganzen Unternehmen und Branchen; Kampagnen, die von einzelnen Gewerkschaftssekretärinnen geleitet werden, bis hin zu Teams von hauptamtlichen Organizern. OrganizingKampagnen finden vor allem im Betrieb statt – nicht nur in komplett unorganisierten, den »weißen Flecken«, sondern auch in teilweise und sogar in gut organisierten. Bei einer Organizing-Kampagne kann eine Vielzahl von operativen Zielen verfolgt werden, von niedrigschwelligen Themenkonflikten über von außen oft banal erscheinende Probleme wie etwa eine fehlende Betriebskantine bis hin zu der Gründung von Betriebsräten oder der Entwicklung und Durchführung von Tarifbewegungen und Streiks. Das, was Organizing über all diese verschiedenen Kampagnenarten und operativen Ziele hinweg verbindet, hat vor allem etwas mit den Konsequenzen einer emanzipatorischen Gewerkschaftsarbeit zu tun: Der Fokus wird auf den Aufbau einer selbstbewussten Basis aktiver Mitglieder im Betrieb gelegt, die ihre Interessen selber vertreten und über die Ziele selber entscheiden. Der Aufbau der Basis ist die längste Arbeitsphase in einer Organizing-Kampagne und sie steht ganz am Anfang. Bis die Organizer eine Basis aktiver Mitglieder aufgebaut haben, gibt es »die Gewerkschaft« als solche nicht. Erst wenn es eine Basis gibt, ist es überhaupt möglich, konkrete Ziele, Strategien und Taktiken einer Organizing-Kampagne festzulegen. Bei einer auf Transformation gerichteten Organisierung fällt die Gewerkschaft nicht einfach in den Betrieb ein und erklärt den Leuten, was sie zu tun haben und welche Politik sie verfolgen müssen, im Gegenteil: Arbeiterinnen und Arbeiter entscheiden für sich selbst und die Gewerkschaft begleitet ihre Entscheidungen kritisch. Die Aufgabe des Gewerkschafters besteht also nicht darin, die Arbeiterinnen und Arbeiter zu vertreten oder die Rolle eines Sozialarbeiters zu übernehmen, der ihre Bedürfnisse bedient. Stattdessen bauen Organizer im Betrieb eine Basis auf, begleiten und beraten diese bei ihren Entscheidungen und Handlungen. Transformatives Organizing im Betrieb fängt mit dem Aufbau einer gewerkschaftlichen Basis an. Diese wächst in einem betrieblichen Konflikt und meistens in dem Moment, in dem sie in einen Konflikt mit der Geschäftsleitung eintritt, bei dem es um ihre eigenen Ziele geht. Hier finden die transformativsten Entwicklungen im Organizing statt. Deswegen bereiten Organizer die Beschäftigten auf den Konflikt und auf die Reaktion ihres Arbeitgebers gründlich vor, damit die Chancen so hoch wie möglich sind, dass Beschäftigte als Gewinner aus einem Konflikt hervorgehen.

Transformatives Organizing und Organisationen

Eine auf Transformation gerichtete Organisierung ändert nicht nur den Betrieb, sondern auch die Gewerkschaft, die den Prozess anstößt und begleitet. Viele fortschrittliche Gewerkschaftsfunktionäre begreifen Organizing schon längst als »Organisationsentwicklung von Grund auf«, da in transformativer Organisierungsperspektive die Gewerkschaftsarbeit sich auf die betriebliche Realitäten einstellt und nicht umgekehrt. Dies geschieht durch die Einstellung hauptamtlicher Organizer, durch die Finanzierung neuer Projekte oder einfach durch die Umschichtung von Zeitressourcen in Richtung Organizing oder durch die Koordinierung verschiedener Organisationseinheiten innerhalb eines gemeinsamen Projekts. Organizing kommt dadurch oft eine Querschnittsrolle innerhalb der Organisation zu. Ebenso entwickeln sich oft einzelne Hauptund Ehrenamtliche weiter, die auf diesem Weg aus einer reinen Betreuungsrolle herauskommen und Organizing im Betrieb machen. Die Konfliktorientierung transformativen Organizings verlangt der Gewerkschaft auch die Bereitschaft ab, mit gerade neu organisierten Kolleginnen und Kollegen in einen Konflikt einzutreten. Zugespitzt formuliert gibt es zwei Handlungstraditionen bei Gewerkschaften: Eine, die Beschäftigte an dem Punkt abholt, wo sie stehen, aber die sie nirgendwo hinbringt, und eine andere, die Beschäftigte zu Ergebnissen zwingt, ganz egal, wo sie am Anfang gestanden haben. Eine Praxis des transformativen Organizings fängt mit den eigenen Themen der Beschäftigten an und fordert sie dann heraus, ihre Probleme entweder hinzunehmen oder anzupacken. Das kann aber nicht bedeuten, dass Konfliktführung zu einer Art radikaler Sportart hauptamtlicher Gewerkschafterinnen wird. Organizer begleiten Beschäftigte mit Respekt und mit Blick für die realen Risiken, die betriebliche Konflikte für Beschäftigte bedeuten. Das ist auch politisch wichtig. Am Ende des Konflikts, ob gewonnen oder verloren, müssen Beschäftigte das Ergebnis als Resultat ihres eigenen Handelns verstehen. Nur dann übernehmen Beschäftigte Verantwortung für ihr eigenes Schicksal und beginnen sich selber zu vertreten, anstatt sich von anderen vertreten zu lassen. Die Kritik an Stellvertreterpolitik wird unter kritischen Gewerkschaftern oft nur als Kritik an rechter oder konservativer Gewerkschaftsarbeit verstanden. Ein auf Transformation zielendes Organizing duldet aber gar keine Stellvertreterpolitik – auch wenn sie linksorientiert ist, denn auch diese verhindert, dass Beschäftigte sich selber vertreten und sich dadurch auch politisch weiterentwickeln. Deswegen stößt auch eine Avantgarde-Politik des transformativen Organizing an ihre Grenzen, da bedeutende politische Fortschritte beim Organizing allein durch die Entwicklung einer selbstbewussten und nachhaltigen Basis zu erreichen sind. Der Aufbau einer Bewegung von Beschäftigten, die selbstbewusst und konfliktfähig ist, ist harte Arbeit. Hier gibt es keine tragfähigen Abkürzungen. Transformation findet nicht nur durch Strategie und Taktik im Betrieb statt, sondern auch durch die strategische Auswahl des Betriebs. Wenn Gewerkschaften an die Betriebe, Branchen, Personen- und Berufsgruppen herantreten, die nah an den Kreuzungspunkten gesellschaftlicher Widersprüche liegen, geht Betriebspolitik am leichtesten in Gesellschaftspolitik über. Es ist deswegen kein Zufall, dass Organizing-Kampagnen häufiger in Branchen mit prekär Beschäftigten wie etwa Reinigungskräften, im Einzelhandel oder bei Leiharbeiterinnen geführt wurden oder aber in gesellschaftspolitisch relevanten Bereichen der Beschäftigung wie erneuerbare Energien oder im Gesundheitswesen. Nicht nur die Arbeit, sondern der Ort, an dem die Arbeit stattfindet, erhöht die transformativen Aspekte der Gewerkschaftsarbeit.

Transformative Kultur

Organizer streben eine transformative Arbeit an, weil sie nicht nur verändert, sondern von Dauer ist und dadurch gegenüber jeder kurzfristig orientierten Strategie im Vorteil ist. Mitte der 1990er Jahre überlegte sich die Kleinindustrie-Gewerkschaft unite, ob sie die Beschäftigten einer Fleischverarbeitungsfabrik in Arkadelphia im US-Bundestaat Arkansas organisieren sollte. Die Arbeitsbedingungen im Betrieb waren schlimm genug, aber die Hindernisse gewerkschaftlicher Organisierung waren entmutigend. Der einzige gewerkschaftlich organisierte Betrieb in der Stadt, ein Stahlbetrieb, war ein Jahrzehnt zuvor geschlossen worden, was andernorts zumeist Ressentiments gegen Gewerkschaften mit sich gebracht hatte. Die mehrheitlich afroamerikanischen Beschäftigten wurden seit einigen Jahren mit einer Teile-und-herrscheStrategie konfrontiert, mit der die Arbeitgeber neue Stellen ausschließlich mit lateinamerikanischen Migranten besetzten. Um die Lage weiter zu erschweren, entdeckte der Geschäftsführer, dass die Gewerkschaft Kontakt mit Beschäftigten aus seinem Unternehmen aufgenommen hatte. Alles deutete darauf hin, dass der Betrieb schwer zu organisieren wäre. Trotzdem entschied die damalige Organizing-Leitung, dort eine Organizing-Kampagne zu initiieren. Anders als von der Gewerkschaft erwartet, organisierten sich die Beschäftigten blitzschnell. In den Monaten danach bewiesen sie in vielen Fällen immens hohe Selbständigkeit, Konfliktfähigkeit und Belastbarkeit. Die afroamerikanischen Beschäftigten spielten zweifellos die Führungsrolle in der Kampagne, arbeiteten aber solidarisch mit ihren lateinamerikanischen Kolleginnen und Kollegen zusammen. Erst nach einigen Monaten stellte ein Gewerkschafter vor Ort mindestens einen Grund fest, warum die Beschäftigten der Hühnerfabrik so bewusst gehandelt hatten: Es lag an der, bis zu diesem Zeitpunkt der Gewerkschaft nicht bekannten, Arbeitergeschichte in Arkadelphia. Im Gegensatz zu der oft reaktionären politischen Kultur der Südstaaten hat die Handlungsfähigkeit der Beschäftigten der Hühnerfabrik in Arkadelphia durchaus eine radikalere Geschichte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde ein Ortsverband der »Knights of Labor« in Arkadelphia gegründet. Die Knights of Labor waren einer der ersten Versuche in den Vereinigten Staaten, europäisch-stämmige und afroamerikanische Beschäftigte gemeinsam in einer Gewerkschaft zu organisieren und zu integrieren. Aufgrund dieser Erfahrung konnte später die CIO – der linke Gewerkschaftsverband, der sonst keine breiten Erfolge in den Südstaaten erreichen konnte – eine starke Organisation in einem Stahlbetrieb in Arkadelphia aufbauen. Ein paar Jahrzehnte später waren die Kinder und Enkelkinder der Beschäftigten des Stahlwerkes die Beschäftigten der Hühnerfabrik. Wegen der politischen Tradition ihrer Vorfahren wussten viele dieser Beschäftigten mindestens drei Dinge, die zentral für die OrganizingKampagne von UNITE waren: Erstens, dass der Stahlbetrieb nicht wegen der Gewerkschaft, sondern wegen des Kapitalismus zugemacht wurde; zweitens, dass die Arbeitsplätze im Stahlwerk besser als viele andere in der Region waren, weil Beschäftigte sich dort organisiert hatten, und drittens, dass es sich lohnt, sich nicht von der rassistischen Teile-und-herrscheStrategie des Unternehmern spalten zu lassen. Arkadelphia ist ein gutes Beispiel dafür, dass Gewerkschaftsarbeit, die konfliktorientiert ist, die antirassistisch ist, und die notfalls am Rande der Gesellschaft stattfindet, authentische, nachhaltige Transformationen mit sich bringen kann, die mit kurzfristigen Strategien nicht erreichbar sind. Aktuellere Beispiele eines transformativen Organizings gibt es in vielen Ländern, auch in Deutschland, so etwa bei den Kassiererinnen bei Schlecker in Mannheim, die sich mit Hilfe der Gewerkschaft hbv organisierten und in den darauf folgenden zehn Jahren ständig an Basisstärke und Handlungsfähigkeit in dem Unternehmen gewonnen haben. Auch bei der vielfältigen, experimentierfreudigen Kampagnenarbeit von ver.di in nrw, die nicht nur konkrete Ergebnisse in den Betrieben, sondern auch insgesamt viel an Organisationsveränderung mit sich brachte, treffen wir auf transformatives Organizing; ebenso bei den Bemühungen der ig Metall in den Betrieben der Windenergieanlagenbauer Norddeutschlands, selbstbewusste und konfliktfähige Gewerkschaftsaktive in den Betrieben aufzubauen, die künftig nicht nur betriebspolitisch und tarifpolitisch, sondern auch umweltpolitisch agieren müssen. Eine auf Transformation gerichtete Organisierung bezieht sich auf viele Traditionen und Arbeitsformen, die versuchen, die Kultur im Betrieb sowie in der Organisation nachhaltig zu verändern, sodass – ob in Arkadelphia oder in Mannheim – eine konfliktfähige, sich selbst tragende, emanzipatorische Gewerkschaftsarbeit im Betrieb nicht nur möglich, sondern auch nachhaltig wirksam ist. Die Grenzen politischer Gewerkschaftsarbeit werden unter kritisch denkenden Menschen oft beklagt. Auch wenn Gewerkschaftsarbeit sich häufiger mit konkreten Ergebnissen als mit radikaler Gesellschaftsveränderung befasst, gibt es bedeutsame Unterschiede zwischen transformativen und anderen Strategien, die nicht zu übersehen sind. Im Betrieb muss eine Strategie des transformativen Organizings als Einstieg in die Politisierung der Beschäftigten verstanden werden. Wenn diese einmal erleben, dass sie etwas im Betrieb selber bewirken können, wollen sie weitere Probleme in Angriff nehmen und beheben. Gewerkschaften müssen sich keine Sorgen darum machen, ob Beschäftigte, die sich etwa für eine Betriebskantine engagieren, sich später für anspruchsvollere Ziele wie einen Tarifvertrag einsetzen werden. Ebenso müssen sich Gewerkschaften und soziale oder politische Bewegungen keine Gedanken darüber machen, ob Kolleginnen und Kollegen, die für Veränderungen im Betrieb, im Unternehmen und in der Branche gekämpft haben, gesellschaftspolitisch aktiv werden wollen. Wir streben alle die Emanzipation an, wenn wir glauben, dass diese überhaupt möglich ist.  

Anmerkungen

1 Unter den Begriffen Organizing, Organisierung und Kampagnenarbeit haben ver.di, IG Metall, IG Bau, NGG & Transnet nicht nur theoretische, sondern auch praktische Erfahrungen gesammelt