Mit mehr als zehn Prozent Arbeitslosigkeit, mit einer hohen Inflationsrate und einer rasch abwertenden Währung kriecht Ungarns Volkswirtschaft seit mehr als drei Jahren vor sich hin. Vorbei sind die Zeiten des Konsumoptimismus, verschwunden die enthusiastischen Experten, deren Analysen kurz nach dem EU-Beitritt des Landes eine Investitionsflut und Wachstumsraten in chinesischem Ausmaß voraussagten. Stattdessen präsentieren ausländische Banken und Investoren Ungarn eine unbezahlbare Rechnung. Aus Wut und Enttäuschung wählten die Bürger 2010 die Sozialdemokraten ab, es wurde ein Erdrutschsieg für Viktor Orbáns rechtspopulistische Partei Fidesz. Seitdem vergeht kaum eine Woche, ohne dass die Regierung einen Schritt weiter Richtung Abbau der Grund- und Sozialrechte geht. Auf die umstrittenen Mediengesetze folgte eine neue Verfassung, die die Macht des Ministerpräsidenten stärkte und seine Entscheidungen praktisch unumkehrbar macht. Auf jede weitere Herabstufung der ungarischen Staatsanleihen durch US-Rating-Agenturen, die die Finanzierung des Defizits erschweren, reagiert Orbán mit einer weiteren Drehung an den Daumenschrauben: Eine tiefgreifende Reform des Arbeitsrechts setzt den Kündigungsschutz so gut wie außer Kraft, verkürzt das Arbeitslosengeld auf drei Monate und verpflichtet die Arbeitslosen zu gemeinnütziger Arbeit. Kurz vor Weihnachten wurde das Gesetzespaket im Parlament durchgepeitscht – unter heftigen, vergeblichen Protesten der Opposition. Zum einen möchte die Regierung mit der Reform ihre rechtskonservative Agenda durchsetzen und den Forderungen von Arbeitgeberorganisationen entgegenkommen. Diese beschweren sich seit Jahren über das angeblich zu komplizierte Arbeitsrecht sowie über die niedrige Beschäftigungsrate, die der Staat durch zu viele Sozialleistungen und falsche Anreize nicht erhöhe. Ausländische Banken und Konzerne – die die Politik der Orbán-Regierung in anderer Hinsicht kritisieren – unterstützen den Abbau der Arbeitnehmerrechte. »Es ist nicht normal, dass ganze Familien von Arbeitslosengeld, Kindergeld und diversen anderen Sozialleistungen leben, statt einen Job zu suchen«, meint Zsolt Kondrát, Chefökonom bei der größten ungarischen Bank in deutschem Besitz (MKB). Zum anderen sind die neuen Arbeitsgesetze Teil der umfassenden Fidesz-Agenda, die eine Neujustierung sämtlicher Institutionen vorsieht. »Die Reform macht die Ausübung des Streikrechts abhängig vom guten Willen der Arbeitgeber oder der Gerichte und stellt dadurch eine erhebliche Einschränkung unseres Spielraums dar. Das neue Arbeitsgesetzbuch ist definitiv gewerkschaftsfeindlich«, erklärt Károly György, Leiter der Abteilung für Internationale Kooperation beim Landesgewerkschaftsverband MSZOSZ. »Als wir letztes Jahr von diesen neuen Plänen der Regierung erfahren haben, konnten wir es kaum glauben«, erinnert sich Péter Kónya. Der 42-jährige Mann trägt einen hellbraunen Pullover und sitzt an seinem Schreibtisch im Haus des Verbands der Unabhängigen Gewerkschaften. Er redet langsam und überlegt. »Danach haben wir verstanden, dass sie es ernst meinen, obwohl die sogenannten Verhandlungen mit den Arbeitnehmervertretern ein schlechter Witz waren«, fährt er fort. »Im Herbst haben wir angefangen, uns mit vereinten Kräften dagegen zu organisieren. Die Reform konnten wir nicht verhindern, aber wir geben nicht auf.« Bis vor kurzem war Kónya Oberstleutnant und vertrat 15 Jahre lang die Interessen der Beschäftigten der ungarischen Armee, Polizei und Feuerwehr. Gegen Kürzungen im öffentlichen Sektor und Erhöhungen des Renteneintrittsalters ist 2011 sein Gewerkschaftsverband mehrmals auf die Straße gegangen. Doch wie alle anderen Protestaktionen hatten sie keinen Erfolg. »Die Regierung ist keinen Zentimeter zurückgewichen und wir haben langsam verstanden, dass wir nur gemeinsam, als große Plattform überhaupt eine Chance haben, Einfluss zu nehmen«, sagt Kónya. In seinem Büro warten mehrere Kollegen von anderen beruflichen Verbänden auf einen Bus, mit dem sie gleich zur nächsten Veranstaltung fahren. Es war die Idee einiger weniger Gewerkschaftsvertreter, noch vor der Ankündigung der jüngsten Arbeitsrechtsreformen eine Sammelbewegung zu gründen, die die Kräfte von Arbeitnehmerorganisationen und kleineren, aber sehr aktiven Bürgerinitiativen vereinen soll. »So ist die Protestplattform Szolidaritás entstanden, die jetzt landesweit, in allen wichtigen Städten und Landkreisen vertreten ist. Auf diese Art und Weise können wir viel mehr Bürger erreichen und mobilisieren, als durch klassische Aktionen einzelner Gewerkschaften, die die Regierung immer wieder als Verteidigung des Eigeninteresses abtut.« Beim Namen haben sie sich von der polnischen Solidarnosc inspirieren lassen: »Genau wie unsere Kollegen aus Gdansk verlangen wir nicht nur unsere sozialen Rechte, sondern protestieren gegen eine autoritäre Regierung.« Ein paar Meter von der Suppenküche entfernt sammeln sich auf dem Blaha-LujzaPlatz am selben Nachmittag die Anhänger der neuen Bewegung. Junge Aktivisten, die von ihren Mobiltelefonen aus auf Facebook zur Demo aufrufen, unterhalten sich mit 50-jährigen Arbeitnehmern, die sich an die Zeiten vor der Wende erinnern. »Genossen, hier ist das Ende!«, steht auf den Transparenten, die nicht ohne Ironie die Vertreter der rechtskonservativen Fidesz-Regierung mit den alten staatssozialistischen Parteikadern vergleichen. »Orbán und seine Leute bezichtigen jede oppositionelle Stimme als kommunistisch. Dabei sind es doch sie selbst, die den ungarischen Rechtsstaat Stück für Stück abbauen!«, empört sich Sándor Székely, einer der Szolidaritás-Vorsitzenden. Für den Sommer seien landesweit Protestaktionen geplant. Anfang März, kurz vor dem ungarischen Nationalfeiertag, rief die Plattform zu einer Großaktion vor dem ungarischen Parlament auf. Nicht nur Vertreter von traditionell linksorientierten Organisationen traten auf, auch ehemalige Dissidenten wie der Pfarrer Gábor Iványi, der vor der Wende gegen die KádárRegierung auftrat. Jetzt kritisiert Iványi scharf die Sozialpolitik der Fidesz-Regierung und das neue Gesetz, das Obdachlosigkeit kriminalisiert. Auf dem weiten Platz vor den Rednern versammeln sich fast 10 000 Szolidaritás-Sympathisanten, Gewerkschaftsmitglieder, viele aus dem chronisch unterfinanzierten öffentlichen Dienst, aber auch gut verdienende Ungarn aus dem bürgerlichen Milieu unter den weißroten Fahnen mit unverwechselbarer Schrift gegen die »neue soziale und politische Sklaverei« und die »Abschaffung der Republik«. Mit der neuen Verfassung hat Fidesz selbst den offiziellen Namen des Landes geändert: Es heißt nun nicht mehr »Ungarische Republik«, sondern einfach »Ungarn«. Für die rechtskonservativen Regierenden gehört diese Geste zu einer symbolischer Restauration, wie die jüngsten Versetzungen von Statuen in Budapest. Das Denkmal von Mihály Károly, einem der progressiven Gründer der ersten ungarischen Republik und 1918 für kurze Zeit Ministerpräsident des Landes, musste Ende März den Platz vor dem Parlament verlassen. Jede Spur des Kommunismus und der linksliberalen Tradition sollte aus der Öffentlichkeit entfernt werden. Eine Entscheidung über die Zukunft von Szolidaritás steht zumindest offiziell noch aus. »Im Moment halten wir uns alle Optionen offen, von einer breiten sozialen Bewegung, die mit den Oppositionsparteien zusammenarbeitet, bis hin zur direkten politischen Partizipation als neuer Partei«, erklärt Péter Kónya. Szolidaritás könnte bei den nächsten Parlamentswahlen 2014 als eine Art gewerkschaftsnahe Partei antreten. Die linksgrüne Initiative Politik kann anders sein (Lehet más a Politika, LMP) konnte 2010 schon ein Jahr nach ihrer Gründung mit sieben Prozent der Stimmen ins Parlament einziehen – ungarische Politik kann durchaus überraschend sein. Die Sozialdemokraten von der MSZP haben fast zwei Jahre nach ihrer Wahlniederlage noch immer ein Korruptions- und Glaubwürdigkeitsproblem; eine Fraktion der Anhänger ihres ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány hat sich abgespalten. Eine neue politische Kraft, die für die Rechte der Beschäftigten eintritt, hätte also Chancen. Allerdings wäre Szolidaritás nicht die einzige Bewegung, die eine Art außerparlamentarische Opposition darstellt. Viele kleine Bürgerinitiativen wurden ins Leben gerufen, die Unbehagen mit den Maßnahmen der Fidesz-Regierung ausdrücken. Wer dieser bunten Szene eine kohärente Stimme gibt, kann sich politische Hoffnungen machen – solange in Ungarn die demokratischen Grundlagen noch in Kraft sind.