Wie realitätsnah oder -fern sind solche Wahrnehmungen? Wie lässt sich 35 Jahre nach den ersten kollektiven Aufständen die politische Situation in den villes de banlieue oder cités, in der französischen Debatte immer häufiger quartiers genannt, angemessen charakterisieren? Welche Strömungen sind von Bedeutung? Stimmt es, dass dort seit dem Niedergang der Kommunistischen Partei (PCF) die Linke keinerlei Einfluss mehr hat? In einer Banlieue zu wohnen, brachte schon immer eine gewisse Stigmatisierung mit sich: Es sind Orte, die nach mittelalterlichem Recht am Rand einer Stadt errichtetet wurden und lange Zeit unter deren politischer und wirtschaftlicher Vorherrschaft standen. Es waren historisch betrachtet und im wörtlichen Sinne schon immer Orte der Verbannung (lieu au ban) bzw. Orte zweiter Klasse. Seit Anfang der 1980er Jahre, aber verstärkt seit den 1990er Jahren haben sie sich weltweit über wiederkehrende Unruhen sowie gewalttätige Zusammenstöße zwischen jugendlichen Bewohner*innen und der Polizei ›einen Namen gemacht‹ (vgl. Jobard 2015; Robert 2005, 53ff.). Man verbindet mit ihnen in der Regel heruntergekommene Trabantenstädte und Betonsiedlungen, die im Zuge der Industrialisierung an der Peripherie von Großstädten hochgezogen wurden, um dort Arbeiter*innen aus dem ehemaligen französisch beherrschten Territorium in Algerien oder aus Südeuropa unterzubringen, später dann auch immer mehr Großfamilien aus sub-saharischen Ländern. Viele der Banlieues bestehen aber immer noch auch aus den alten Stadtzentren, um die herum sie gebaut wurden, und waren früher einmal in den nächsten Orten zu den jeweiligen Großstädten (Paris, Lyon, etc.) Hochburgen der PCF oder in den weiter entfernten Städten bürgerliche Bastionen, beherrscht von einer Schicht aus lokalen Landwirten und Grundbesitzern. Zu den Banlieues gehören vielerorts auch sogenannte Pavillons, das sind Eigenheimsiedlungen, die sich am Rande der Stadtzentren und der Plattenbauten ausgebreitet haben. Hier finden sich viele wieder, die den teuren Innenstadtquartieren entflohen sind, um sich in den Vororten (zum Teil mithilfe niedriger Zinsen) ihren Traum vom Wohnen in den eigenen vier Wänden zu erfüllen (vgl. Bourdieu 2002). Diese Siedlungen waren schon immer konservativ geprägt, heute wird hier mehrheitlich der Front National gewählt.

Revolten und Angst

Obwohl die Aufstände in den Banlieues in der Vergangenheit eine Reihe von politischen Debatten und staatlichen Maßnahmen zur Folge hatten, ist es nie gelungen, den weitreichenden negativen Auswirkungen der Deindustrialisierung und diverser Wirtschaftskrisen auf diese Gebiete ernsthaft etwas entgegenzusetzen. Diese Quartiere zeichnen sich auch heute noch durch eine überdurchschnittlich hohe Konzentration von sozialen Problemen und Herausforderungen aus, selbst wenn man nicht die wohlhabenderen Regionen, sondern die jeweiligen Städte, an die sie grenzen, als Vergleichsgröße heranzieht.[1] Sie haben einen besonders hohen Anteil an jugendlichen Bewohner*innen (24 Prozent sind unter 14 Jahren alt; in den Stadtzentren sind es um die 18 Prozent), die Armutsquote liegt bei 42 Prozent (in den Stadtzentren: 16 Prozent), der Anteil der Migrant*innen an der Bevölkerung bei 31 Prozent (in den Stadtzentren 11 Prozent) und das Bildungsniveau ist besonders niedrig (nur 20 Prozent der Bewohner*innen haben einen Hochschulabschluss; in den Stadtzentren sind es 44 Prozent; Truong 2016, 52). Alle staatlichen Fördermittel, die in den vergangenen 35 Jahren zum größten Teil als Folge der städtischen Revolte in diese Quartiere geflossen sind, alle sozialpolitischen Maßnahmen und stadtentwicklungspolitischen und Infrastruktur-Programme, die seitdem verabschiedet und umgesetzt wurden, haben es nicht geschafft, die Lebens- und Arbeitssituation eines Großteils der Bevölkerung in den Banlieues nachhaltig zu verbessern. Es sind vor allem gering qualifizierte Männer, die im Zuge der Restrukturierung der Wirtschaft ihre (Fest-)Anstellung verloren und heute kaum mehr eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Besonders hart trifft das Problem der dauerhaften Erwerbslosigkeit in Frankreich junge Migranten, wie Ingrid Tucci und Olaf Groh-Samberg (2008, 322) festgestellt haben. Zwar seien auch in Deutschland junge Männer türkischer Herkunft die Gruppe, die am stärksten von Arbeitslosigkeit betroffen ist, aber in Frankreich hätten maghrebinische Jugendliche noch größere Probleme als junge Türken in Deutschland, einen Job zu finden. »Insbesondere die maghrebinische Herkunft« stelle »in Frankreich einen zur sozialen Herkunft zusätzlichen Benachteiligungsfaktor« dar (ebd., 323). Die (vor)städtischen Revolten haben zwar die Quartiere zu einem Gegenstand von staatlicher Politik und öffentlicher Aufmerksamkeit gemacht, ohne dass damit aber die sozialen und materiellen Grundprobleme der Menschen, die dort leben, nur annähernd gelöst worden wären. Es wiegen aber auch die Nebenkosten schwer, die damit einhergehen. So ist die grundsätzliche Haltung gegenüber den Banlieues inzwischen von Angst geprägt. Zwar war der Begriff Banlieue schon immer negativ konnotiert, aber nie zuvor gab es eine derart starke Assoziation zwischen Gewalt – sei es als Instrument für kriminelle Zwecke, sei es als politisches Ausdrucksmittel – und der jugendlichen Banlieue-Bevölkerung. Und damit ist das Thema des radikalen Islamismus und seine Verbindung zum Terrorismus, das in jüngerer Zeit die Schlagzeilen beherrscht, noch gar nicht angesprochen. Man könnte fast sagen, dass bestimmte politische Karrieren auf dieser Angst beruhen. Man denke nur an die von Nicolas Sarkozy (von 2002 bis 2007 Innenminister, von 2007 bis 2012 Präsident). Als 2005 landesweit Tausende Jugendliche in den französischen Vorstädten rebellierten, bezeichnete er sie öffentlich als Abschaum und Gesindel, das er am liebsten »wegkärchern« würde. Seinen Sieg in den Präsidentschaftswahlen von 2007 verdankte er nicht zuletzt dem Umstand, dass es ihm gelungen war, dem Front National zahlreiche Wähler*innen mit Law-und-Order-Sprüchen abspenstig zu machen und wieder zurück in das Lager der bürgerlichen Rechten zu holen (Lindner 2017). Angst ist aber nicht nur eine Ressource, die man nutzen kann, um an die Macht zu kommen. Alle, die heute in der Regierungsverantwortung stehen, müssen sich mit dem Thema um sich greifender Ängste in der Bevölkerung befassen. Besonders seit Anfang der 2000er Jahre genießt Sicherheitspolitik in Frankreich höchste Priorität, vor allem in Bezug auf die Banlieues, wo seitdem verschiedene militarisierte Polizeieinheiten und vermehrt sogenannte nicht tödliche Waffen zum Einsatz kommen. Allerdings dienen diese offensichtlich nicht nur zur Abschreckung, sondern sind für eine Reihe von Todesfällen und schweren Körperverletzungen unter jugendlichen Bewohner*innen verantwortlich. Hinzu kommt in Zeiten des »Kriegs gegen Terror« und des »nationalen Notstands« eine wachsende Handlungsfreiheit der Polizei und anderer Sicherheitsorgane (vgl. Jobard 2017 zum gegenwärtigen Ausnahmezustand). Diese scheint ein Grund für eine Zunahme von polizeilichen Misshandlungen und Übergriffen zu sein, die wiederum als eine Art Kettenreaktion mehr gewaltsame Proteste in den Banlieues hervorrufen, womit dann am Ende der harte Kurs vonseiten der Polizei gegenüber den dort lebenden Jugendlichen gerechtfertigt werden kann. Die Kosten dieses Teufelskreises haben in erster Linie diejenigen zu tragen, die zu Opfern von Polizeigewalt werden, aber grundsätzlich alle jungen Männer mit Migrationshintergrund, die sich verstärkt polizeilichen Kontrollen unterziehen müssen, sobald sie sich außerhalb die symbolischen Grenzen ihrer Siedlungen trauen, was bei vielen aufgrund der drohenden Schikanen immer seltener vorkommt, insbesondere in Großraum von Städten wie Paris, Lyon, Straßburg etc. Angst scheint auch das Lebensgefühl derjenigen zu dominieren, die sich die immer teurer werdenden innerstädtischen Quartiere als Wohnort nicht mehr leisten können, aber auf keinen Fall in den Sozialwohnungen der Großsiedlungen leben wollen und deswegen einen hohen Preis zahlen, um sich ein bescheidenes Eigenheim in den Vororten leisten zu können. Befragungen, die seit 2001 im Pariser Großraum (Ile-de-France Region, mit etwa 10 Millionen Einwohner*innen) durchgeführt werden (Zauberman u.a. 2013), zeigen, dass in dieser Region die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Straftat zu werden, doppelt so hoch wie im Rest des Landes ist. Die Situation der Bewohner*innen in der breiten Peripherie von Paris dagegen, d.h. in den Städten und Orten, die nicht mehr an der Grenze der Stadt liegen sondern schon über 15km entfernt, weicht deutlich davon ab: Sie sind am wenigstens von Straftaten betroffen. Dafür gibt es einleuchtende Gründe: Sie leben meist in gut gesicherten Eigenheimen weitab der größeren städtischen Ballungszentren, gehen wenig aus, bevorzugen Treffen mit Freunden oder der Familie in privaten Räumen und machen selten Gebrauch von öffentlichen Verkehrsmitteln. Trotzdem sind sie es, die sich am stärksten über die angeblich drastisch gestiegene Kriminalität in Frankreich beklagen und diese zu einem zentralen nationalen Problem erklären. Sie gehören nicht nur zu der Bevölkerungsgruppe mit dem größten Unsicherheitsgefühl, sie sind auch diejenigen mit den höchsten Zustimmungsquoten, wenn danach gefragt wird, ob die Todesstrafe wiedereingeführt werden soll und ob den Familien von Jugendlichen, die straffällig geworden sind, die Sozialhilfe gestrichen werden soll. Solche Werte und Wahrnehmungsmuster schlagen sich auch im Wahlverhalten wieder: War der Front National in den 1980er und 1990er Jahre noch vorwiegend in den städtischen Regionen erfolgreich (Jena-Marie Le Pen kandidierte zuerst im 20. Arrondissement von Paris, danach in Marseille), ist er jetzt besonders präsent in den städtischen Peripherien. In der Großstadt wird sozial-demokratisch (Hollande 2012) und vor allem sozial-liberal (Macron 2017) gewählt; dort hat der Front National keine Chance (5 Prozent hat in Paris Marine Le Pen am ersten Wahlgang geholt, gegen 21 Prozent der Stimmen auf nationalem Ebene). In den zwischen zehn und 20 km von der Stadt entfernten sich befindenden Gemeinden sind Sozial-Demokratie und Front National auf dem gleichen Niveau. Ab 20 km von der Stadt entfernt verschwindet die Sozialdemokratie und gewinnt der Front National. Diese Geographie der Protestwahl wurde bei der Präsidentenwahl 2012 beobachtet und hat sich 2017 bis in die ländlichen Gemeinden ausgedehnt: in 19 000 von 36 000 Gemeinden, wo die Wählerschaft im Verhältnis zu den Städten aber gering ist, erreichte Marine Le Pen den ersten Platz im ersten Wahlgang. Für die Bevölkerung in den urbanen Randlagen hingegen ist von einer Reihe von besonderen Bedrohungen auszugehen, die starke Ängste hervorrufen (die Angst vor Deklassierung, die Angst vor Gewalt, die Angst vor den ›Fremden‹ oder einfach die »Ethnisierung des Niedergangs«, wie der Soziologe Masclet dies kennzeichnet (Lindner 2017), was dem Front National in die Karten spielt (Gombin 2015). In den vergangenen zehn bis 15 Jahren hat sich nach und nach, ohne dass davon zunächst größere Notiz genommen wurde, eine neue räumlich zu verortende ›Klasse‹ den Zugang zum politischen System in Frankreich verschafft. Es handelt sich dabei um Angehörige der Mittel- und Unterschicht, die einen beträchtlichen Teil ihres Einkommens und Vermögens in die Anschaffung eines Eigenheims am weiten Rande der großen Städte investiert haben und die nun aus einer halbsicheren Entfernung sowohl mit Angst als auch Abscheu beobachten, was in den Banlieues geschieht. Sie vertreten anscheinend mehrheitlich die Ansicht, der Staat kümmere sich mehr um das Schicksal der Einwanderer*innen als um das der schweigenden Bevölkerungsmehrheit, die sogenannten Verlierer*innen der Globalisierung. Denjenigen, die sich als Interessenvertreter dieser Bevölkerungsgruppe gerieren und die gegen sozialpolitische und integrative Lösungen sowie die sogenannte politische Korrektheit hetzen, räumen die etablierten Medien inzwischen großen Raum ein. Unter anderem wird in reißerischen Fernseh-Talkshows eine rassistische Debatte gepflegt, wonach die meistens (aber nicht nur) von linksorientierten Regierungen ausgegebenen öffentlichen Gelder vor allem der migrantischen Bevölkerung zugutegekommen seien. Dagegen wird das Bild eines lange sich in Geduld übenden wahren französischen Volkes gezeichnet, das lange stillgehalten, aber jetzt mit dem Front National endlich eine Stimme gefunden habe. Diese kleinen Leute, die sich ihr kleines Eigenheim irgendwo in der Peripherie mühsam vom Munde abgespart hätten und nun vielfach mit hohen Schulden dastünden, seien von der Politik über all die Jahre ignoriert und im Stich gelassen worden.[2] Solche Medien, die im Namen einer nicht ganz imaginären ›neuen Klasse der Peripheriebewohner‹ sprechen und handeln, haben viel dazu beigetragen, die Weltanschauung des Front National salonfähig zu machen.

Linke Bündnisperspektiven

Die Härte der französischen Polizeikräfte gegenüber den Bewohner*innen der Banlieues sowie die politischen Mobilisierungen gegen die Verlängerung des Ausnahmezustands in Frankreich und die zunehmenden, teils tödlichen Polizeiübergriffe haben allerdings ein ›Gelegenheitsfenster‹ geöffnet, das für ein neues Bündnis zwischen Linken und Aktivist*innen aus den Banlieues genutzt werden könnte. Viele Hoffnungen waren mit der in linken Kreisen Deutschlands recht populären Nuit-Debout-Bewegung verbunden.[3] Zudem haben die Proteste gegen die aufsehenerregende Vergewaltigung eines 22-jährigen jungen Mannes in einer Banlieue im Nordosten von Paris durch Polizeibeamte Anfang Februar dieses Jahres mehr und unterschiedlichere Menschen auf den Straßen zusammengebracht als zu ähnlichen Anlässen in der Vergangenheit. Ist eine neue wirkungsvolle linke Oppositionsbewegung in Frankreich derzeit mehr als reines Wunschdenken? Tatsache ist, dass das Bildungsniveau der jungen Männer in den Banlieues steigt und immer mehr Jugendliche mit Migrationshintergrund in Frankreich studieren und einen Hochschulabschluss erwerben (Truong 2016). Die Universitäten sind hervorragende Orte für den Austausch zwischen Menschen und Studierenden mit ganz unterschiedlichen Horizonten und Erfahrungen, sie könnten sich als Labor für neue politische Kooperationen und Mobilisierungen erweisen. Nuit Debout im Frühling 2016, der »Marche pour la dignité« am 31. Oktober 2015 oder der »Marche pour la justice et la dignité« am 19. März 2017 (beide in Paris), all das waren beindruckende Proteste gegen Rassismus und zunehmende Polizeigewalt, bei denen die Teilnehmenden selbstbewusst für die Anerkennung der Diversität der französischen Gesellschaft eintraten. Ermöglicht wurden diese beeindruckenden Kundgebungen nicht zuletzt durch die Zusammenarbeit von schon seit Langem politisch engagierten Professor*innen, die an Universitäten in den Banlieues unterrichten (insbesondere von Wissenschaftler*innen an der Universität »Paris 8« in Saint-Denis im Umfeld von Professorin Nacira Guénif-Souleimas), mit Vereinen von jungen Hochschulabsolvent*innen. Sie stellen den Versuch dar, ganz alte Forderungen und Anliegen von Jugendlichen aus den Banlieues, die tagtäglich mit Polizeigewalt und Rassismus zu tun haben, mit neueren Anliegen und Debatten (etwa feministischen Forderungen und Themen wie Intersektionalität) zu verbinden. Die Auswirkung der gegen die Staatsgewalt gerichteten Mobilisierungen lässt sich nicht einfach einschätzen. Sie zeigen zweifelsohne aber die Bedeutung der Polizei als Politisierungsinstanz: In Frankreich wird ein wesentlicher Teil der Jugend erst durch das Doppelthema Polizeigewalt und -rassismus sozialisiert. Die Schwere und das Ausmaß der Polizeiübergriffe während den Protesten gegen das Arbeitsgesetz im Frühling hat auch zu mehr Austausch zwischen unterschiedlichen Protestorganisationen und -milieus geführt, die den Platz der Nuit-Debout-Bewegung als Raum der Begegnung nutzten. Dennoch bleibt die Kluft zwischen der Banlieue-Jugend und verschiedenen linken Strömungen so breit, dass Proteste gegen Polizeigewalt noch unzureichend erscheinen, um gemeinsame Ziele und eine übergreifende politische Kultur zu schaffen. Es geht hier um grundsätzliche Einstellungen gegenüber dem Politischen als solche, die kaum versöhnbar sind. Während es in den Reihen der linken Jugend um die Perspektive und Hoffnung eines politischen Wechsels geht, der sich in der Umgestaltung der politischen Institutionen verwirklichen sollte, so teilen breitere Teile der Jugend in den Banlieues diese Perspektive nicht. Letztere trauen dem politischen System insgesamt nicht. Es sind dort nicht allein die Migrant*innen, die an der Wahl nicht teilnehmen, sondern auch viele Franzosen: Nicht-Wähler*innen bilden also die überwältigende Mehrheit in diesen Banlieues. In Clichy-sous-Bois, wo die Aufstände 2005 ihren Ursprung hatten, ist der Bürgermeister mit 9 Prozent der Stimmen gewählt worden, in Villiers-le-Bel (schwere Aufstände 2007) mit 9,7 Prozent, in La Courneuve (die von Sarkozy zum Wegkärchern vorgesehen war) mit 8,7 Prozent (Braconnier & Dormagen 2014). Darüber hinaus lehnen die am meisten politisch Bewussten unter den jungen Aktivist*innen die Zusammenarbeit mit linken politischen Organisationen ab, da in ihrem Verständnis diese Organisationen mindestens für zwei unumkehrbare historische Sünden verantwortlich sind. Die Erste ist die aktive Teilnahme linker Regierungen ab 1956 (François Mitterrand als Justizminister) am kriegerischen Wendepunkt des Befreiungskrieges in Algerien. Im kollektiven Gedächtnis der arabischen Arbeiter ist paradoxerweise Charles de Gaulle der Friedensbringer und die Linke Verursacher des Krieges in Nordafrika. Darüber hinaus kursiert immer noch der Verratsvorwurf der 1980er Jahre, als die erste politische Bewegung von Migrant*innen (Marche pour l’égalité et contre le racisme, sofort in »Marche des Beurs« umbenannt, also »Protestzug der Araber«) 1983 von der Sozialistischen Partei durchaus mit Erfolg instrumentalisiert wurde. Ergebnis ist eine permanente Distanz und Misstrauen gegenüber den Kooperationssangeboten der linken Organisationen, welches unter anderem in der grundsätzlichen Nichtteilnahme an Wahlen seinen Ausdruck findet. Nur die abschreckende Figur von Nicolas Sarkozy, dem Rassisten, hatte diese Jugend zur Wahl bewegt (2007 zugunsten der Sozialistin Ségolène Royal), aber schon bei der Parlamentswahl am Monat danach waren die Beteiligungsquoten wieder auf den altes Niveau zurückgefallen. Darüber hinaus verbreitete sich im Laufe der Jahre eine Haltung der religionsinspirierten Abkehr von der mondänen Welt und der durch die individualistische Seelsorge geprägten Lebensführung. Diese entzauberte Beziehung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen, die sich aus Individualismus, Entzug aus der Welt, Suche nach tadelloser Reinheit oder Asketismus, Tugenden der Sunna, dem Ethos des Propheten, zusammensetzt, schließt selbstverständlich keinen Wutausbruch aus (so wie auch bei den Christen der Begriff des heiligen Zornes). So ist der (unreligiöse) Begriff der »Hagra« einer der meist verbreiteten nord-arabischen Begriffe unter den (auch nicht arabischen) Banlieuejugendlichen: ein kollektiver Zorn, der zwar politische Anklänge hat, aber sich dadurch auszeichnet, dass er kompromiss- und bündnisunfähig ist und auch bleiben soll (vgl. Gilles Kepel 2012, 415-452). In Anlehung an Michel Foucault sind die Banlieuerevolten mehr ›Streikaktionen gegen die Politik‹ als politische Aktionen. Diese Streikaktionen in langfristige und wirksame Politik zu transformieren bleibt nach wie vor der Wunsch linker Aktivist*innen, die zum Beispiel in den Kämpfen gegen die Staatsgewalt oder gegen die Präkarisierung der Arbeitsverhältnisse Bündnisse zu schaffen versuchen. Typischerweise trug das Plakat zum Aufruf auf die »Marche pour la Justice et la Dignité« März 2017 den Titel:»Contre le racisme, les violences policières, la hogra, la chasse aux migrants«. Es mehren sich Anzeichen, dass anlässlich von Mobilisierungen gegen die Staatsgewalt, traditionelle linke Protestthemen den politischen Einstellungen (»hogra« oder »hagra«) der jungen Banlieueeinwohner*innen annähern. Universitäten der Banlieuestädte, die Jugendliche aller umliegenden Städten und Gemeinden anziehen, sind Orte für die Enstehung gegen-hegemonialer Diskurse, Orte einer möglichen politischen Überwindung der territorialen Gegensätze, der politischen Selbstermächtigung einer neuen Generation von Migrant*innen und Linken.

Literatur

Bourdieu, Pierre, 2002: Das Einzige und das Eigenheim, Hamburg Braconnier, Céline, Dormagen, Jean-Yves, 2014: La démocratie de l’abstention. Aux origines de la démobilisation électorale en milieux populaires, Paris, 2014 Gombin, Joël, 2015: Le changement dans la continuité. Géographies électorales du Front National depuis 1992, in: Crépon, Sylvain/Dézé, Alexandre/Mayer, Nonna (Hg.): Les faux-semblants du Front National. Sociologie d’un parti politique, Paris, 395‒414 Jobard, Fabien, 2015: Die Aufstände in Frankreich: Politisierungsformen des urbanen Elends, in: Bareis, Ellen/Wagner, Thomas (Hg.): Politik mit der Armut. Europäische Sozialpolitik und Wohlfahrtproduktion ‘von unten’, Wiesbaden, 240-260. Ders., 2017: Ausnahmezustand und Anti-Terror-Recht in Frankreich, in: Bürgerrechte & Polizei, Nr. 112, 42-49 Ders., 2017: Der Notstand in Frankreich – Tragödie oder Farce?, www.rosalux.de/publikation/id/14771/der-notstand-in-frankreich-tragoedie-oder-farce/ Kepel, Gilles, 2012,: Banlieue de la République, Paris Lindner, Kolja, 2017: Die Hegemoniekämpfe in Frankreich. Laizismus, politische Repräsentation und Sarkozysmus, Hamburg Robert, Philippe, 2005: Bürger, Kriminalität, Staat, Wiesbaden Truong, Fabien, 2016) »Jeune de banlieue« chercher emploi, in: Les Grands dossiers des sciences humaines, 44, 52‒53 Tucci, Ingrid/Groh-Samberg, Olaf (2008): Das enttäuschte Versprechen der Integration: Migrantennachkommen in Frankreich und Deutschland, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, 34 (2), 307‒333 Zauberman, Renée/Robert, Philippe/Névanen, Sophie/Bon, David (2013): Victimation et insécurité en Ile-de-France, in: Revue française de sociologie, 54 (1), 111‒153

Anmerkungen

[1] Die folgenden Angaben beziehen sich auf die 1 296 quartiers prioritaires, die in das Programm der politique de la ville einbezogen sind. Die Bezeichnung politique de la ville hat sich in den 1980er Jahren für alle Maßnahmen staatlicher Stadtentwicklung und -planung durchgesetzt, die auf eine Verbesserung der Lebensverhältnisse in den Kommunen und Quartieren abzielen, deren Bevölkerung – gemessen an bestimmten Indikatoren – überdurchschnittlich stark unter sozialen und ökonomischen Problemen leidet. [2] Ein Beispiel für diese Position und Debatte ist das Buch von Christophe Guilluy »La France périphérique« (2014), dessen Untertitel lautet: »Wie das einfache Volk geopfert wurde«. Der Erfolg von Didier Eribons Buch «Rückkehr nach Reims» (in Frankreich bereits 2009 erschienen) ist auch vor dem Hintergrund dieser Diskussionen zu betrachten. [3] Vgl. hierzu die einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin am 27. April 2016 unter: www.rosalux.de/dokumentation/id/14324/nuit-debout-aufrecht-durch-die-nacht-up-all-night/.