Ausgangspunkt für diesen Beitrag [1] und seinen Titel ist ein Essay, den ich im Juni 2024 veröffentlicht habe. Darin ging es um den Unterschied zwischen einer »Volksfront« und einem Wahlbündnis (oder »Cartel«) sowie um die Frage nach dem »fehlenden Volk« in der Politik der französischen Linken. Der Essay war aus dem Anlass entstanden, dass nach den Erfolgen des rechtsextremen Rassemblement National bei der Europawahl und der darauf erfolgten, unerwarteten Entscheidung Macrons, sofort Parlamentsneuwahlen auszurufen, die linken Parteien in Frankreich trotz ihrer Überraschung intelligent reagiert haben. Womit es ihnen gelang, eine Wahlkatastrophe und einen umfassenden Sieg der Rechtsextremen zu verhindern, der zu einem Regimewechsel hätte führen können: Unter dem Druck der öffentlichen Forderung nach Einigkeit, zogen sie mit einem gemeinsamen Programm in den Wahlkampf und überbrückten die Kluft zwischen der radikalen und der reformistischen Linken. Sie stellten jeweils nur eine*n Kandidat*in pro Wahlkreis auf und nannten diese Strategie »Neue Volksfront«, eine Anspielung auf das antifaschistische Bündnis in den Jahren 1936–1938, das in unserer Geschichte demokratischer Kämpfe und sozialer Errungenschaften markante Spuren hinterlassen hat.
Dort habe ich dargelegt, dass ein Wahlbündnis nur dann etwas verändern könne, wenn es von einer – wie ich es nannte – »Intersektion« heterogener sozialer Bewegungen begleitet und gestützt werde, wie wir es in den vergangen Jahren in verschiedenen Formen erlebt haben: von den Gelbwesten, die gegen die Besteuerung der Nutzung fossiler Kraftstoffe rebellierten, bis zu den ökologischen »Aufständen der Erde« (Soulèvements de la Terre) gegen die Aneignung von Wasserressourcen durch agrarwirtschaftliche Großbetriebe, und von antirassistischen Aufständen in den Banlieus bis zu den Massenbewegungen gegen die neoliberale Reform des Rentensystems unter der Führung der wiederbelebten Gewerkschaften. Dieser Essay hat offenbar die Aufmerksamkeit einiger deutscher Leser*innen geweckt, die sich dadurch an manche der Fragen erinnert fühlten, die hierzulande durch teilweise ähnliche Abläufe beim Aufstieg der neofaschistischen Kräfte, symbolisiert durch die Abkürzung AfD, sowie der Uneinigkeit der traditionellen sozialistischen Linken aufgeworfen werden. Ganz generell waren sie jedoch der Überzeugung, dass ein lebhafter Austausch von Ideen unter europäischen Intellektuellen und Aktivist*innen nötig ist, wenn wir Problemlagen angehen wollen, die einander nicht nur ähneln, sondern tatsächlich miteinander verflochten sind, um auf diese Weise der düsteren Perspektive eines aggressiven Sozialkonservativismus, eines ungezügelten Kapitalismus und autoritärer Politik zu entgehen. Natürlich hatte ich nie angenommen, meine Arbeitshypothesen von vor einem Jahr können eins zu eins auf die Situation in einem anderen Land zu einer anderen Zeit angewandt werden. Vielmehr ging es mir darum, unsere Perspektiven in einer kollaborativen und dialoghaften Weise zu entwickeln, um die Spannungen zu erforschen, welche sich aus dem Umstand ergeben, dass für einen wirksamen Widerstand gegen den weltweiten Aufstieg der extremen Rechten Strategien »von oben« (wie Programme und Kampagnen politischer Organisationen) mit Initiativen und Aktionen »von unten« (also sozialen Bewegungen und ideologischem Wandel in der »Masse« oder der »Multitude«) zusammenkommen müssen. Aber auch die etwas weniger offensichtlichen Spannungen, die sich aus den sich überschneidenden und widersprüchlichen Verwendungen des Begriffs »Volk«[2] ergeben, welche einerseits den gemeinsamen Nenner der populistischen Bewegungen ausmachen, die unsere Gesellschaften in Richtung eines illiberalen, autoritären, antidemokratischen oder neofaschistischen Regimewechsels treiben, und andererseits auch der sozialistischen, demokratischen, revolutionären Tradition, die sich regelmäßig wiederkehrend in Form antifaschistischer Bündnisse oder Volksfronten ausdrückt. Diese Spannungen werden im Zentrum meines Vortrags beziehungsweise meines Diskussionsvorschlags stehen. Zuvor jedoch drei kurze Bemerkungen zur aktuellen Situation.
Drei Aspekte der aktuellen Situation
Zuerst einmal ist die französische »Neue Volksfront« kein Vorbild, sie ist nicht einmal eine Erfolgsgeschichte, bei Weitem nicht. Das bedeutet nicht, dass die Idee insgesamt falsch war, aber es bedeutet wahrscheinlich, dass die inneren wie äußeren Hürden noch größer und vielleicht von anderer Art waren, als wir erwartet hatten. Bei den Parlamentswahlen schnitt das Linksbündnis gut ab und landete vor der extremen Rechten, erhielt aber keine absolute Mehrheit, während die Mitte-Rechts-Parteien, die an der Macht waren, ihre absolute Mehrheit wiederum verloren, was zu einer Regierungsblockade führte. Während der folgenden Monate, in denen Emmanuel Macron mit allen Tricks aufwartete, welche die präsidentialistische französische Verfassung zu bieten hat, und die internationale Situation nutzte, um bei den internen parlamentarischen Spielen die Rolle des Schiedsrichters zu behalten, ist das rein formelle Bündnis der linken Parteien unter persönlichen Rivalitäten und ideologischen Konflikten so gut wie zerbrochen. Um ehrlich zu sein, liegt die institutionelle Linke heute in Scherben, und die Gefahr einer – wie Mario Candeias es nannte – »Faschisierung an der Macht«[3] ist noch größer geworden, denn die konservativen Politiker*innen übernehmen bei den Themen Kriminalität und Migration immer stärker die Schlagworte der extremen Rechten. Für die Volksfront scheint also jede Hoffnung verloren, im besten Fall kann die Idee, die dahinter steht, neu aufgebaut und eingelöst werden.
Zweitens unterscheiden sich die Formen, die politische Konflikte in Deutschland und Frankreich annehmen, sehr stark voneinander, was auf den verschiedenen historischen Entwicklungen über Jahrzehnte hinweg beruht. Doch angesichts der letzten Wahlen in Deutschland sollte ein augenfälliger Unterschied besonders hervorgehoben werden: Zwar gibt es überall in Europa populistische Diskurse (mit ähnlichen Tendenzen bezüglich einer Kritik am Elitismus der Technokrat*innen und der politischen Klasse sowie einer Ablehnung der pro-europäischen und anti-nationalen Orientierung der »offiziellen Linken«), doch nur in Deutschland (wobei man sich eventuell auch die Entwicklung einiger sozialistischer Parteien in Skandinavien genauer anschauen müsste) ist eine politische Bewegung aus einer Spaltung der radikalen Linken hervorgegangen, nämlich das Bündnis Sarah Wagenknecht. Dessen Programm verbindet eine starke Kritik am Kapitalismus mit einer expliziten Übernahme der fremdenfeindlichen Forderungen, die in den vergangenen Jahren von der extremen Rechten geäußert wurden, vor allem was die Abschiebung von Migrant*innen und Geflüchteten angeht sowie deren angebliche Neigung zur Kriminalität. In dieser Form taucht ein Gespenst wieder auf, das bereits in der Vergangenheit in Europa gespukt hat, nämlich das »braun-rote« Bündnis mit all seinen Diskursen und Affekten. Zwar erlitt das BSW bei den Bundestagswahlen im Februar eine Niederlage, zuvor hatte es jedoch nicht nur deutliche Erfolge in den östlichen Bundesländern erzielen können, die am stärksten unter der Deindustrialisierung leiden, sondern sich auch die Unterstützung marxistischer Intellektueller gesichert (wie z. B. Wolfgang Streeck). Allerdings gelang es der Partei Die Linke, sich erfolgreich von Wagenknecht und ihren Verbündeten zu lösen und ein überraschendes und lebhaftes Comeback hinzulegen. Ich sehe darin ein ernstzunehmendes Symptom für die inneren Widersprüche der politischen Linken, das für den Punkt, an dem wir aktuell stehen, meines Erachtens von allgemeiner Bedeutung ist.
Schließlich sollten wir nicht vergessen, dass sich die Entwicklungen in Europa, wie die Krise der Linken mit ihren sozialistischen, sozialdemokratischen und grünen Komponenten und der Aufstieg der reaktionären Kräfte, die in allen Klassen der Gesellschaft Unterstützer*innen gewinnen konnten, in einem globalen Kontext abspielen, dessen »Geometrie« (um einen Begriff von Giovanni Arrighi aufzugreifen) sich in den letzten Monaten auf brutale Art verschoben hat. Das ausschlaggebende Ereignis war die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten, gefolgt von der schnellen (wenn auch nach außen hin chaotisch wirkenden) Implementierung seines »revolutionär-konservativen« Programms, das bereits im Vorfeld von der Heritage Foundation[4] aufgestellt worden war. Bekanntermaßen geht es nicht nur darum, von einem »freien Markt« zu einer »protektionistischen« Volkswirtschaft zurückzukehren oder im laufenden »europäischen« Krieg mit Russland die Bündnispartner zu wechseln, sondern um einen Wandel des politischen Regimes des »hegemonialen« kapitalistischen Landes selbst. Wir können das derzeitige Regime in Washington nicht als »faschistisch« bezeichnen, weil die Militarisierung der Administration nur virtuell abläuft, und die Konflikte zwischen den verschiedenen Machtinstitutionen noch nicht vorbei sind. Noch erhebt sich deutlicher Widerstand gegen die autokratische Wende. Doch wir können sagen, dass die Regierungspartei (»MAGA«) eine – von extremistischen und rassistischen Milizen unterstützte – faschistische Organisation geworden ist, die eine »Fusion« der Interessen der mächtigen Männer mit dem High-Tech-Kapitalismus anstrebt (was nicht ohne Widersprüche ist, wie sich dieser Tage am Konflikt zwischen Trump und Musk zeigt) und eine Politik umsetzt, die gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstößt und systematisch »Feinde im Inneren« ins Visier nimmt: MAGA richtet sich gegen Arme, gegen Schwarze, gegen Ausländer, gegen Frauenrechte und in besonderer Weise gegen Lesben und Schwule, die Bewegung ist anti-intellektuell und klimazerstörerisch. Insofern hat der Faschismus (oder »Neo-Faschismus«) in einem zentralen Teil des »Weltsystems« einen entscheidenden Sieg errungen. Ich wehre mich gegen die Vorstellung, dass Trumps Amerika ein Vorbild für das ist, was uns bevorsteht. Aber ich gebe zu, dass dieser strategische Sieg einen machtvollen Impuls für ähnliche Tendenzen auf der ganzen Welt setzt. Ich stimme Candeias (2025) darin zu, dass sich hier ein allgegenwärtiger historischer Prozess zeigt, in dem sozialer Wandel und ideologische Polarisierung mit diktatorischen Konterrevolutionen zusammenkommen. Genauer gesagt sehe ich hier bestätigt, dass wir, seit Trump an der Macht ist, die Frage nach Überschneidungspunkten zwischen »Populismus« und »Faschismus« (auch wenn die beiden Begriffe aus analytischen wie ethischen Gründen weiterhin getrennt behandelt werden müssen) sowie dem Übergang vom »Rechtspopulismus« zu einer echten »faschistischen Umwälzung« in den liberalen Demokratien unserer hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften (die in Wahrheit liberale Oligarchien sind) nicht mehr ignorieren können. Vor dem Hintergrund dieser drängenden Frage müssen uns nun wieder den Hindernissen und Widersprüchen innerhalb der demokratischen Politik unserer Länder zuwenden, wobei wir die jeweiligen Unterschiede, aber auch ihre starken Wechselwirkungen untereinander berücksichtigen müssen.
Eine dauerhafte Einheit einander widersprechender Imperative
Womit ich zu meinem zentralen Punkt komme. Erstens möchte ich auf den Teufelskreis hinweisen, der sich aus den aufeinanderfolgenden Entwicklungsphasen des Kapitalismus im 20. Jahrhundert ergeben hat: vom Aufbau des Wohlfahrtsstaats oder Sozialstaats [dt. im Original] im nationalstaatlichen Rahmen bis zur »postsozialistischen« Politik des neoliberalen Kapitalismus unter Globalisierungsbedingungen, die dabei half, die Verteidigung sozialer Rechte in Richtung einer nationalistischen Klassenideologie zu verschieben. Damit wurde es für die Linke praktisch unmöglich, auf der »föderalen« – europäischen – Ebene, die aufgrund der heutigen Struktur der Klassengegensätze erforderlich ist, breite Unterstützung zu mobilisieren.
Zweitens möchte ich einige Bedingungen für einen »Gegenpopulismus« erläutern, der sich auf den politischen Umgang mit den »inneren Widersprüchen des Volkes« stützt, was stets die strategische Leitlinie jeder Volksfront war, und zwar auf Grundlage eines neuen Verständnisses der Klassenzusammensetzung in unseren Gesellschaften sowie deren »psychologischer Struktur«.
Schließlich möchte ich über die Spannungen innerhalb der antifaschistischen Bewegung sprechen, die »das Volk« im Sinne einer dauerhaften Einheit gegensätzlicher Imperative mobilisieren will: lokal und global, vertikal und horizontal. Ich glaube, diese Idee wird verständlicher, wenn wir sie uns im Sinne des Wiederaufbaus und der Ausweitung öffentlicher Dienste vorstellen, die zwischen den gegensätzlichen Anforderungen von Staat und den Commons gefangen sind.
1. Um es ganz deutlich zu machen: Ich werde den Gedanken verteidigen – und zwar in direktem Widerspruch zum »braun-roten« Argument –, dass der ultimative Horizont, vor dem man in der heutigen Zeit einen »Sozialstaat« verteidigen und neu erschaffen kann, dem es gelungen war, die nackte Gewalt der kapitalistischen Ausbeutung zurückzudrängen, ein supranationaler Horizont ist. Ein solcher »Sozialstaat« darf nicht in den Grenzen von Nationalstaaten verharren, die Menschen und arbeitende Klassen voneinander isolieren, während sie gleichzeitig immer durchlässiger für Finanz- und Warenströme werden. Genauer gesagt, da wir hier im europäischen Kontext diskutieren, ist dieser Horizont ein föderales Konstrukt mit einer politischen und administrativen Dimension, in dem einer überstaatlichen Autorität die Aufgabe zukommt, soziale Grundrechte zu etablieren und zu sichern oder mit dem Ziel eines postnationalen sozialen Sicherheitssystems auszuweiten. Dies ist allerdings nur möglich, wenn das System von den Bürger*innen der Mitgliedsstaaten demokratisch kontrolliert wird.
Außerdem – eigentlich unnötig zu erwähnen – hat die derzeitige Konstitution und Governance-Struktur der Europäischen Union mit einer solchen Perspektive nichts zu tun: Sie dient als gezieltes Instrument neoliberaler Politik und normativer Vorgaben, die im Namen internationaler Wettbewerbsfähigkeit den einzelnen Staaten die Einschränkung sozialer Rechte auferlegt. In diesem Punkt haben Wolfgang Streeck und andere Kritiker*innen des europäischen Konstrukts vollkommen recht. Doch das ist kein Wesensmerkmal des Konzepts, sondern eine Folge der politischen Niederlage des Gedankens von einem sozialen Europa – eine Niederlage, an der sozialdemokratische Spitzenpolitiker*innen eine direkte Verantwortung tragen.
Doch das ist nicht alles. Die Unfähigkeit der Linken, für eine supranationale sozialistische Politik zu kämpfen oder sich auch nur vorzustellen, wie eine solche aussehen könnte und wie die Unterstützung einer großen Wählerschaft von Arbeiter*innen und Bürger*innen zu gewinnen wäre, ist nicht nur die negative Auswirkung ihrer Unfähigkeit (oder ein Verrat an ihrer historischen Mission): Sie wurzelt in den tiefen Wechselwirkungen und gegenseitigen Abhängigkeiten, in der Reziprozität zwischen dem nationalen und dem sozialen Element innerhalb der Struktur des Sozialstaats, den ich an anderer Stelle aus selbigen Gründen nationalen (und) sozialen Staat genannt habe (oder Sozialstaat in nationaler Gestalt als die einzige Form, die in der Geschichte je existiert hat). Die sozialen Sicherungssysteme mit ihren vielfältigen Institutionen stellen das Leben eines jeden einzelnen Menschen von Anfang bis Ende unter ihre Kontrolle und ihren Schutz, verbinden das Berufsleben mit der Reproduktion der Arbeitskraft, mit dem Familienleben, mit dem Bildungs- und Gesundheitswesen sowie mit Arbeitslosen- und Rentenleistungen. Nach und nach haben sie eine integrierte arbeitende Klasse vom alten Proletariat gelöst, das für völlige Unsicherheit beziehungsweise einem Ausschluss aus der kollektiven Solidarität stand. Dieser Prozess war das Ergebnis eines politischen Klassenkompromisses, der innerhalb eines streng nationalstaatlichen Kontexts erkämpft und durchgesetzt wurde. Die ideologischen Grundlagen dafür sind die wechselseitige Anerkennung des Nationalstaats als legitimer Beschützer der Bürger*innenrechte und der Würde der Arbeit als Wesensmerkmal aller Bürger*innen (vor allem der männlichen)als Bestandteil des idealen souveränen Staatswesens. Von wenigen Ausnahmen abgesehen waren von diesem Konzept Ausländer*innen ausgeschlossen. Vermittelt durch staatliche Institutionen wurde die Klasse zu einem Bestandteil der Nation umdefiniert.
Wenn wir, in der postliberalen Ära, die pathologischen Auswirkungen des Wandels des Staates vom Beschützer zum mehr oder weniger systematischen Zerstörer sozialer Sicherheit betrachten, dürfen wir nicht vergessen: Diese Auswirkungen beschränken sich nicht allein auf die spontane Tendenz von Bürger*innen, die (mit den Worten Robert Castels) die Umwandlung von sozialer Sicherheit in soziale Unsicherheit erleben und diese mit dem Druck der Globalisierung als vorherrschender Dynamik des Spätkapitalismus in Verbindung bringen, das, was man in der Praxis als Ent-Sozialisierung der Arbeit bezeichnen kann, im Sinne einer Ent-Nationalisierung der Gesellschaft und des Staates zu begreifen. Vielmehr besteht eine weitere Tendenz, auf beiden Seiten des sozialen Spektrums Klassenfeinde der Nation zu identifizieren: auf der einen Seite die supranationalen Institutionen der kapitalistischen Akkumulation und jene, die in deren Diensten arbeiten (wie die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank etc.), sowie auf der anderen Seite die Gruppen der Migrant*innen und Geflüchteten (und deren Nachkommen), die nicht unmittelbar von den öffentlichen Diensten ausgeschlossen sind und als unrechtmäßige Konkurrenz um die Leistungen der nationalen sozialen Sicherungssysteme dargestellt werden. Was ich hiermit meine, ist, dass die Empfänglichkeit dafür, Migrant*innen als Feinde im Inneren anzusehen, was nicht nur eine der effektivsten Brücken zwischen einer bloß populistischen Ideologie und einer klar faschistischen kollektiven Psychologie bildet, sondern im Umkehrschluss auch eine der schädlichsten Ideen für die Klassensolidarität oder die Einheit der Klasse darstellt, nicht nur ein rassistisches Vorurteil oder die Folge nationalistischer Propaganda ist, sondern auch strukturell oder systemisch im Aufbau und Zerfall des nationalen (und) sozialen Staates begründet liegt.
Bevor ich zum nächsten Punkt komme, erlaube ich mir zwei ergänzende Bemerkungen. Erstens ist der Gedanke, dass eine Alternative zur Dekonstruktion der sozialen Sicherungssysteme nur als föderaler Sozialstaat entstehen kann, nicht nur eine Ableitung aus den utopischen Visionen europäischer Föderalist*innen, sondern hängt mit den Belegen dafür zusammen, dass Sozialpolitik immer das Gegenstück zu den wirtschaftspolitischen Strategien innerhalb der kapitalistischen Weltsystems bildet. Das war beim nationalstaatlichen Keynesianischen Kapitalismus der Fall, aus dem eine gemischte Struktur aus Privateigentum und staatlichem Interventionismus hervorging. Und es muss ebenso der Fall sein, wenn wir uns überlegen, welche ökonomischen Ressourcen und Kapazitäten innerhalb der internationalen Arbeitsteilung konzentriert werden müssen, um die hegemonialen Finanz- und Industrieimperien anzugreifen, und außerdem solidarische Bande mit den aufstrebenden Gesellschaften im globalen Süden aufzubauen: Diese Ressourcen und Kapazitäten müssen selbst wiederum kontinental sein und sich auf enge Wechselbeziehungen und ein gemeinsames Projekt der europäischen Volkswirtschaften stützen.
Hier ist allerdings direkt meine zweite Bemerkung erforderlich, und zwar über die Demokratie: Es wurde inzwischen hinreichend gezeigt, dass ein föderales Projekt in Europa, das »von oben«, also durch technokratische und zwischenstaatliche Entscheidungen, die einer unternehmerischen Logik folgen, implementiert wird, und das ohne direkte oder indirekte Beteiligung der Bevölkerung – oder mit nur oberflächlicher Beteiligung – zutiefst selbstzerstörerisch ist. Daher der dramatische Legitimitätsverlust des europäischen Gebildes, der aus seinem allseits bekannten Demokratie-Defizit herrührt. Allerdings muss ich einräumen, dass das Konzept einer supranationalen oder post-nationalen Demokratie noch immer aporetisch ist (dass es also keine bekannte Lösung gibt), und im Grunde beißt sich hier die Katze in den Schwanz: Nationalstaaten sind – durch Revolutionen und progressive Reformen – in dem Maße demokratisch geworden, dass in ihnen emanzipatorische Bewegungen stattfanden (nicht nur die Arbeiter*innenbewegung). Und diese emanzipatorischen Bewegungen wurden dadurch möglich, dass sie auf die Veränderung nationaler Verfassungen abzielten (auch wenn ihre universalistischen Ziele eine internationalistische Dimension hatten). Wenn Wolfgang Streeck und andere Linkspopulist*innen also erklären, dass Demokratie einzig als nationale Demokratie denkbar ist, weil es ein souveränes Volk nur im nationalstaatlichen Sinne geben kann, und von dort aus zu einem nationalistischen, exklusivistischen Konzept der Volkssouveränität gelangen, weichen sie dieser Frage ganz klar aus und verunmöglichen es, den Teufelskreis aus Globalisierung und Entdemokratisierung zu durchbrechen. Allerdings verweisen auch sie auf die institutionelle und ideologische Aporie, die wir nach Möglichkeit auflösen sollten, wenn es uns denn möglich ist.
2. Mir ist bewusst, dass ich eine komplexe Geschichte vereinfacht wiedergebe, aber wenn ich meinen Ausgangspunkt für die Diskussion unserer gegenwärtigen Probleme aus dem Umstand ableite, dass die Volksfronten in der Geschichte Europas, vor allem während der dramatischen Konfrontation mit den faschistischen Regimen in der Mitte des 20. Jahrhunderts immer in einer doppelten Begriffsbestimmung feststeckten: auf der einen Seite im Vokabular und der Theorie von Klassenkonflikte«, auf der anderen im Vokabular und der Ideologie einer »Volkseinheit« (oder -gemeinschaft, -solidarität), verstanden als demokratisches Fundament des Staates, woraus eine Spannung oder sogar ein Widerspruch entsteht, für den eine dialektische Lösung gefunden werden musste. Ich glaube, dass wir als Europäer*innen des 21. Jahrhunderts die Geschichte dieses dynamischen Wiederspruchs im Rahmen eines relativ eng umgrenzten räumlichen und zeitlichen »Moments« analysieren sollten, der zwei sinnbildliche Episoden enthält: Auf der einen Seite ist da der Wettbewerb zwischen zwei »Strategien« des Klassenkampfs innerhalb der Kommunistischen Internationale (die binäre »Klasse-gegen-Klasse«-Strategie gegen die Volksfront-Strategie, für die Gramsci versuchte, die theoretische Grundlage zu erarbeiten), und auf der anderen Seite die entscheidende Episode des demokratischen Aufstands gegen das diktatorische Ein-Parteien-Regime der ehemaligen sozialistischen Staaten, vor allem in der DDR, der als massiver, friedlicher Protest unter dem Motto Wir sind das Volk begann und mit der Forderung nach Wiedervereinigung der beiden im Kalten Krieg geschaffenen deutschen Staaten endete: Wir sind ein Volk [jeweils dt. im Original]. Aus diesen beiden Episoden möchte ich mitnehmen, dass die Kategorie des »Volkes« (ohne die es in modernen Gesellschaften keine Grundlage für eine politische Ordnung gibt), eigentlich zwei konfligierende Beziehungen und intrinsische Aporien enthält. Diese werden durch die Verwendung des einen Begriffs »Volk« verdeckt, der sich sowohl auf die Nation als auch auf die »Plebejer« bezieht, die weder Vermögen noch symbolisches Kapital besitzen, und des Weiteren für sämtliche Aspekte verwendet wird, die in der griechischen politischen Theorie unterschieden werden: demos, ethnos, laos, plèthos…
Ich möchte diesen Konflikt gerne mit folgenden Worten zusammenfassen: Auf der einen Seite steht die Tatsache, die uns in der Geschichte der Konfrontation mit dem Faschismus in Europa dramatisch vor Augen geführt wurde, dass nämlich das »Volk« (das Volk, ein Volk) [dt. im Original] eine Einheit oder eine Gemeinschaft bezeichnet, die entweder inklusiv (also alle Individuen und Gruppen, die am Leben, der Kultur und Produktivität dieser Gesellschaft teilhaben, einbezieht oder integriert) oder exklusiv ist (also fremde Anteile in ein Außen drängt, das entweder schlicht die andere Seite der Nationalstaatsgrenze sein kann, das Ausland [dt. im Original], oder sie als radikale Gefahr durch Feinde im Inneren darstellt). Auf der anderen Seite steht der Umstand, dass die Identifizierung mit den gemeinsamen Interessen der Multitude oder dem »gemeinen Volk«, nicht erreicht werden kann, ohne ein Element des Klassengegensatzes in die Definition einfließen zu lassen, da das Hauptanliegen ihrer Selbstbehauptung als freie Bürger*innen die Überwindung von (ökonomischer, kultureller) Ungleichheit und Diskriminierung ist, die ihre Wurzeln in den Ausbeutungsmustern haben.
Das Volk ist also nicht gegeben, es »fehlt«, was bedeutet, dass es als politische und moralische Einheit konstruiert werden muss, indem der einen Bedeutung Vorrang vor der anderen gewährt wird, insbesondere indem man sich für eine der beiden großen Strategien entscheidet, welche die politische Geschichte Europas im 20. Jahrhundert polarisiert haben: entweder die faschistische Strategie, die auf der Repräsentation des »Volks« als naturalisiert und sakralisierte Einheit beruht und seine Feinde im Inneren (oder allgemeiner gesprochen seine »Anderen«) ausschließt, oder die antifaschistische Strategie, die das Konzept der Klasseninteressen (oder eines Interesses, das allen ausgebeuteten Klassen gemein ist) in das Konzept des öffentlichen Interesses verwandelte, worunter viele emanzipatorische Prozesse einer Masse der Bevölkerung gefasst werden (in beruflicher, aber auch in kultureller und bildungsbezogener Hinsicht) sowie eine allgemeine Verbesserung der sozialen Sicherheit. Vor eben diesem Dilemma stehen wir heute abermals, und daraus müssen wir unsere Inspiration ziehen, auch wenn die Bedingungen heute natürlich nicht mehr dieselben sind und die Diskurse der Volksfronten nicht wiederholt werden dürfen, und sei es nur, weil unsere neoliberalen Krisen nach und nicht vor der Erfindung der sozialen Sicherungssysteme im Kontext des nationalen und sozialen Staats und auch nach dessen interner Krise entstanden sind.
Bevor ich zu meinem letzten Punkt komme oder eher zu einer Überleitung zu meinem Konzept einer gegen-populistischen Politik, erlaube ich mir eine ergänzende Bemerkung zur politischen Logik der Volksfront-Strategie. Meiner Überzeugung nach stand im Kern dieser Strategie immer das, was Mao Zedong in einem Essay von 1957 als die Identifizierung (oder Publikation) und die »Auflösung« (oder Transformation) der Widersprüche innerhalb des Volkes beschrieben hat. Ich verwende diesen Gedanken in einem etwas erweiterten Sinne, um seine Ähnlichkeiten mit Gramscis Begriff der »hegemonialen Strategie« herauszustellen. Ein demokratischer Weg, das »Volk« als kollektiven Begünstigten und vor allem als kollektives Subjekt oder Akteur historischer Veränderungen zu konstruieren, entsteht weder aus der dem Ausschluss einiger Teile des Volks (oder der aktiven Bewohner*innen des Territoriums) noch aus der Neutralisierung ihrer konfligierenden Interessen und Weltanschauungen. Es entsteht im Gegenteil aus der expliziten, ehrlichen Anerkennung, dass es unterschiedliche Hintergründe, Wünsche, Interessen und potenzielle Konflikte gibt, für die aber dennoch eine Lösung, ein Kompromiss oder eine Aufhebung [dt. im Original] gefunden werden muss, um eine gemeinsame Gefahr zu überwinden.
An dieser Stelle soll keine Liste solcher Konflikte oder »Widersprüche innerhalb des Volkes« aufgeführt werden, dies sollte Gegenstand intensiver Reflexion und Diskussion innerhalb der Bewegungen und Organisationen sein, deren Gesamtheit die Linke in unseren Ländern ausmacht, um die Blockade progressiver Strategien zu überwinden. Jedoch werde ich wenigstens drei benennen, die von Hindernissen in Triebkräfte einer erneuerten sozialistischen Strategie verwandelt werden sollten.
Einer dieser Konflikte ist der Widerspruch zwischen dem ökologischen Imperativ, die katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels aufzuhalten oder rückgängig zu machen, der länderübergreifend viele junge Aktivist*innen mobilisiert, und dem ökonomischen Imperativ, den Lebensstandard für die Massen aufrechtzuerhalten oder zu verbessern. Für diesen Widerspruch existiert keine unmittelbare Lösung, weil der ökologische Imperativ eine dramatische Wende in unserem Verhältnis zur Produktivität und daher zum Wachstum als Bedingung gesellschaftlichen Wohlstands erfordert, während der Imperativ, die Lebensbedingungen für die Masse zu verbessern, auf nationaler und noch vielmehr auf internationaler Ebene hart mit der Vorstellung kollidiert, massenhafte Produktion und Konsum einzuschränken.
Ein zweiter Widerspruch ist der zwischen den Imperativen der kollektiven und der nationalen Sicherheit in einer Welt des rivalisierenden Imperialismus und Kriegsgeschehens sowie einem erneuten Voranschreiten (oder einfach keine Rückschritte) bei der Emanzipation von Frauen und der Weg in Richtung einer echten Gleichstellung der Geschlechter, da wir auf der ganzen Welt (sowohl im »Norden« als auch im »Süden«) eine enge Verflechtung zwischen dem Einfluss des Militärs in der Gesellschaft und der Ausbreitung von Kriegen sowie einem reaktionären (eigentlich faschistischen) maskulinistischem Backlash beobachten (vgl. etwa Sauer 2025 und Goetz 2025). Doch für eine Auflösung dieses Widerspruchs wären eine Konvertierung der halben Menschheit zu einem anderen Verständnis geschlechtlicher Unterschiede und ein Rückgang von Kriegen als Instrument zur Beilegung politischer Konflikte erforderlich, sie ist also alles andere als in greifbarer Nähe.
Zum Schluss ein dritter Widerspruch, auf den ich bereits mehrfach angespielt habe und dessen »gerechte Lösung« tatsächlich im Kern der Unterscheidung zwischen antithetischen Beziehungen zu Faschismus und Populismus in diesem Moment liegt, und der die Einbeziehung des Inländers und des Ausländers innerhalb desselben »Volksbündnisses« gegen neoliberale Austeritätspolitik und die Beschneidung oder Auslöschung der sozialen Sicherungssysteme betrifft. Das ist das sensibelste Thema, wenn wir untersuchen wollen, wie das Konzept des »Volkes« in das Verständnis seiner Unterteilungen und Widersprüche einfließt, und zwar aufgrund der historischen Beziehung zwischen den beiden Bedeutungen »das« Volk und »ein« Volk [jeweils dt. im Original]. Und weil der Übergang von einem inklusiven Begriff des »Volks« (oder der »Volkseinheit«) zu einem exklusiven (auf Basis von Ethnie, Kultur oder der Kategorie »race«) ebenfalls den sozialen Raum definieren, in dem kollektive Empfindungen wie massenhafte Unsicherheit oder Angst (zum Beispiel hervorgerufen durch die Globalisierung, Deindustrialisierung, wachsende Prekarisierung von Arbeit und Ressourcen) in Ressentiments und Hass gegen »Fremde«, »unrechtmäßige Begünstigte«, religiöse oder kulturelle Feinde etc. umgewandelt werden. Auch dies ist ein Widerspruch ohne eine einfache oder direkte Lösung, weil es reale Probleme mit der Regulierung der Migration und der Verteilung von Geflüchteten in den europäischen Staaten gibt, die mit ihrer geografischen Lage und ihrer traditionellen Gastfreundschaft zusammenhängen. Und weil ein Verweis auf internationalistische Prinzipien der »Klassenzugehörigkeit« im Marxschen Sinne hier reine Wortklauberei wäre, da es hier genau um die Arten und Weisen geht, in der Klassenzugehörigkeit und Klassenunterteilungen durch die zusammenfallenden Auswirkungen von Kolonisation und Dekolonisation, Globalisierung und De-Globalisierung der Industrie auf der ganzen Welt sowie dem Wandel des nationalen und sozialen Staates transformiert wurden. Es gibt keine von sich aus existierende transnationale arbeitende Klasse, aber es sollte eine Möglichkeit geben, Klasseninteressen von »stabilen« und »prekären« Arbeitenden (zwischen denen keine fixen Grenzen bestehen) zusammenzuführen, um genau das zu vermitteln: dass sie sich als Mitglieder desselben »Volkes« (oder derselben Gemeinschaft von Bürger*innen) sehen und gesehen werden.
Für ein »gegenpopulistisches« und antifaschistisches Projekt
Alles bisher Gesagte läuft darauf hinaus, dass wir das Problem des »Populismus« sehr ernst nehmen müssen. Nicht nur im negativen Sinne, weil der populistische Diskurs, wie wir in Europa, in den USA und andernorts sehen, ein Sprungbrett zur Entstehung von Faschismus (oder zumindest zu einem Prozess der Faschisierung) ist und viele soziale Gruppen von vollkommen unterschiedlichem Status unter seiner Hegemonie versammeln kann. Sondern in einem positiven Sinne, wenn man das so sagen kann, da der populistische Diskurs ein Symptom (und eine Aneignung) jener Risiken und Widersprüche ist, welche die breite Masse der Bürger*innen erlebt, die keine andere Perspektive für sozialen Widerstand und Wandel finden können. Genau das hat intelligente Denker*innen der Linken wie Ernesto Laclau und Chantal Mouffe veranlasst, von einem linken Populismus zu sprechen. Ich halte den Begriff für irreführend, weil er eine formale Analogie zwischen links und rechts herstellt, was die Art angeht, Politik zu machen, das »Volk« zu mobilisieren und Massenmobilisierung mit Parteiorganisation zu verknüpfen, besonders in Bezug auf das »charismatische Prestige« der Anführer*innen, aber vor allem, weil er das Problem des Nationalismus neutralisiert. »Linkspopulist*innen« sind Nationalist*innen »auf der Linken«, sie verteidigen die Sakralisierung der Nation und die Vorstellung, dass Volkssouveränität nur im Rahmen eines Nationalstaats existieren kann, und vermeiden so gänzlich die Frage nach den demokratischen Institutionen, die sich der überwältigenden Macht eines supranationalen und transnationalen Kapitalismus entgegenstellen könnten. »Nationalismus« als einziger Weg, die Krisen oder Mutationen der Gestalt der Nation in unserer spätkapitalistischen, postsozialistischen und postkolonialen Welt anzugehen, ist der schwierigste und zentralste Gegenstand unserer kritischen Reflexion. Aus diesem Grund ziehe ich es vor, von einem »gegenpopulistischen« und antifaschistischen Projekt zu sprechen, was die Widersprüche nicht auflöst, jedoch versucht, die Hindernisse zu benennen.
