Natürlich macht es Spaß, die Schuld an der Misere den anderen in die Schuhe zu schieben. Insbesondere dann, wenn sich eine politische Strömung schön säuberlich in zwei Strömungen teilt. Dann ist die andere natürlich total bescheuert. Wo fließt die bitte entlang?! In praktisch alle politischen Fragen, die in den vergangenen Jahren zentral diskutiert wurden, gab es aus der LINKEN diametral entgegengesetzte Antworten: Wie restriktiv soll die Asyl- und Migrationspolitik sein? Wie radikal soll der Klimaschutz sein? Wie sehr soll Deutschland seine Politik europäisieren? Auf all diesen Felder bedeutete jeder Schritt in die eine Richtung den Verlust von etlichen Wählerinnen aus dem anderen Lager: 2017 Richtung AfD, 2021 dann Richtung SPD und Richtung Grüne.

Muss die LINKE sich auf all diesen Feldern für eine Richtung entscheiden? Vielleicht nicht. Vielleicht muss die LINKE ihr Profil nicht neu schärfen, vielleicht ist es die Ampel-Politik, die der LINKEN ihr Profil zurückgeben wird. Nämlich dann, wenn die Ampel es nicht schafft, die Klimawende sozial genug zu gestalten.

Sehen wir uns die FDP an: Nachdem schon Rot-Grün unter Gerhard Schröder den Arbeitsmarkt „flexibilisiert“ und sämtliche soziale Verantwortung ins Private „outgesourct“ hatte, surfte die FDP 2009 auf der neoliberalen Ich-AG-Welle und mit dem Versprechen von Steuersenkungen mit 14,6 Prozent in die schwarz-gelbe Regierung. Vier Regierungsjahre, eine Wirtschaftskrise gewordene Finanzkrise und einen #aufschrei später flog sie mit 4,8 Prozent aus dem Bundestag. 2013 brauchte niemand eine FDP: Den Zuchtmeister Europas spielte schon Wolfgang Schäuble gut genug, die Starke-Wirtschafts-Besorgten wählten also CDU (über zwei Millionen Wählerinnen), die radikal Neoliberalen wanderten zur AfD ab (430.000), ungefähr ebenso viele wählten nach der ausgebliebenen Steuerreform frustriert gar nix mehr.

Dass die FDP 2021 mit 11,5 Prozent wieder eine ernst zu nehmende Kraft wurde und nun regiert, hat weniger damit zu tun, dass sie sich personell so toll aufgestellt hätte. Zugegeben, da sind unter dem ewigen Dreitagebart Christian Lindners einige Leute nachgewachsen, etwa der Freiheitsrechte Marco Buschmann oder der Sozialpolitiker Johannes Vogel – eine neue Generation professioneller Politiker. Und man hört, auch an der Basis in den Kommunen gab es Nachwuchsarbeit. Immerhin wurde die FDP unter Erstwählenden die zweitstärkste Partei.

Doch kann niemand eine Partei gegen eine politische Dynamik aufbauen. Die Wirtschaftskrise ist vergessen – die heutigen Erstwähler*innen waren 2009 bis 2012 nicht mit Sozialabbau beschäftigt, sondern mit Lego Technik. Und auch sonst scheint sich heute kaum mehr eine daran zu erinnern, dass Liberalisierung noch vor Kurzem ein Synonym für Privatisierung war, für einen Mechanismus also, der Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert und Arbeitnehmerrechte abbaut. Inmitten einer neu entflammten Debatte darüber, wie viel klimagerechte und pandemieadäquate Verhaltensänderung per Gesetz verordnet werden darf, findet die liberale Stimme der FDP genug Menschen, die Bedarf an genau dieser Stimme haben. Das ist kaum ihr Verdienst. Die einzigen zwei Dinge, die die Partei zwischen 2013 und 2021 leisten musste, war: erstens zu überleben und zweitens für etwas irgendwie Liberales zu stehen.

Die LINKE hat sich gegründet, als es Bedarf an einer Linkspartei in Deutschland gab. Den Bedarf gab es, weil die SPD seit 1998 eine Bundesregierung anführte, die praktisch alles an öffentlicher Infrastruktur und sozialem Netz zerschlug, was sie vorgefunden hatte: der Kündigungsschutz wurde gelockert, Minijobs wurden eingeführt, Lohndumping ermöglicht, Hartz IV und Riester-Rente eingeführt, gesundheitliche Leistungen wurden gestrichen und in den Krankenhäusern wurden Fallpauschalen eingeführt, die Deutsche Post ging an die Börse, Energieversorger, Abfallentsorgung, Krankenhäuser wurden privatisiert, kurz: Die Sozialdemokraten zerlegten jene Struktur, die die soziale Teilhabe an Demokratie ermöglicht. Sie zerlegten die Sozialdemokratie. Vermutlich nicht, weil sie einfach bescheuert waren. Vermutlich deshalb, weil die Wachstumsraten eine traditionelle sozialdemokratische Umverteilung verunmöglichten und die wirtschaftliche Situation eine schwierige war, die sie anders nicht zu bewältigen wussten.

Warum es einer Linkspartei bedurfte, war offensichtlich: Die LINKE, so nicht nur Oskar Lafontaines Plan, sollte die SPD wieder nach links ziehen. Das kann sie auf verschiedene Weise: entweder durch Druck aus der Opposition oder in einem linken Regierungsbündnis. An dieser Aufgabe hat sich seither eigentlich wenig geändert. Am Bedarf schon.

2009 erhielt die LINKE 11,9 Prozent Bedarf, danach pendelte sie sich bei zwischen acht und neun Prozent ein. 2021 lag der Bedarf bei 4,9 Prozent. Fast nicht ausreichend für eine Rolle in der parlamentarischen Opposition.

Warum sollten Sozialdemokratinnen 2021 denn die Linke wählen? Für quasi alle ihre Bedarfe gab es eine andere Vertretung. Man wollte, dass Hartz IV abgeschafft wird? Konnte man Grüne wählen: Die planten in ihrem Wahlprogramm eine Erhöhung des Regelsatzes, die Aufhebung der Bedarfsgemeinschaft und das Ende der Sanktionen. Man wollte eine soziale Abfederung der Klimawende? Konnte man SPD wählen, die mit Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans nach links gerückt war und sich von ihrer Agenda-2010-Phase erholt hatte. Viele waren vermutlich erleichtert, endlich wieder SPD wählen zu „dürfen“. Man wollte Feminismus? Konnte man mit der Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock ein stärkeres Zeichen setzen als mit Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow. Man wollte flächendeckende Klimapolitik? Das Original befasst sich damit seit 40 Jahren und hat hier mehr Know-how gesammelt als eine LINKE, die das Thema neu für sich entdeckt.

Es gab 2021 nur bei radikalen Linken den Bedarf, die LINKE zu wählen. Eine neue Rolle konnte die LINKE nicht finden, denn auf allen anderen Feldern jenseits der linken Sozialpolitik ist sie selbst und ihre Wählerschaft zerrissen.

Was aber, wenn sich der Bedarf unter der Ampel wieder herstellt? Der Koalitionsvertrag ist in dieser Hinsicht sehr interessant: Im gesellschaftspolitischen Bereich will die Ampel den in 16 Jahren konservativer Regierung verschleppten Fortschritt endlich nachholen. Lesbische Mutterschaft wird unterstützt, der Strafrechtsparagraph 219a abgeschafft, der Geschlechtseintrag wird selbstbestimmt – und im Familienrecht findet eine kleine Revolution statt, indem das kleine Sorgerecht für zwei weitere Eltern ausgebaut wird. Eklatant sind die Lücken im Sozialen: Die Pläne zur Erbschafts-, Vermögens- und Einkommenssteuer sind offenbar verworfen, bei der Reform von Hartz IV zum Bürgergeld werden Sanktionen „neu geregelt“ und nicht abgeschafft, von einer Erhöhung der Regelsätze ist keine Rede. Die Ampel verteilt nicht um, die soziale Ungleichheit wird in den kommenden vier Jahren also zunehmen. Hier reihen sich eine ganze Menge weiterer Fragen an: Wird die Ampel die Preissteigerungen für Energie und Lebensmittel bei Niedrigverdienenden und Erwerbslosen ausgleichen? Wird genug Infrastruktur bei der Bahn aufgebaut, damit ein Autoausstieg denkbar wird? Wird überhaupt genug in Infrastruktur investiert, ganz ohne Steuererhöhungen und Staatsschulden? Werden die Krankenhäuser von ihrem Kostendruck befreit? Werden die Löhne für das Pflegepersonal angemessen erhöht?

Denn: Die SPD muss nun mit der FDP regieren! Dass sie in dieser Koalition die Hoffnungen ihrer sozialdemokratischen Wähler*innen auf Umverteilung enttäuschen muss, scheint festzustehen. Gleiches gilt für die Grünen, die sich nun sowohl an ihrem klimapolitischen als auch an ihren sozialen Versprechungen messen lassen müssen. In dieser Regierungspolitik ist aus linker Perspektive definitiv Luft nach oben. Die Linken bei den Grünen und in der SPD betteln geradezu um Verstärkung außerhalb ihrer Parteien: Sarah-Lee Heinrich bezeichnet die Grünen als Scharnier zwischen Zivilgesellschaft und Regierung und hofft hier auf Druck, um die Sanktionen doch noch abschaffen zu können; auch Kevin Kühnert sagte im Deutschlandfunk, das letzte Wort zur Erbschaftssteuer sei noch nicht gesprochen – und eine Regierungspolitik müsse auch darauf eingehen, was die Zivilgesellschaft im Laufe der Regierungszeit einfordere. E entsteht offenbar schon jetzt ein Bedarf an linker Politik, den die erneuerte Regierungs-SPD nicht mehr decken kann.

Erstens überleben, und zweitens für etwas irgendwie Linkes stehen. Schafft dieLINKE das? Für das Überleben müssten ihre prominenten Mitglieder aufhören, öffentlich Angriffe gegen die eigene Partei zu starten – und anfangen, miteinander zu reden, statt übereinander. Und was ist ihre „linke“ Aufgabe?

Während die pandemischen und klimapolitischen Entwicklungen ein neues Verständnis für den Wert von Freiheitlichkeit hervorbrachten, steht dieser Tage infrage, was der neue Wert von etwas „irgendwie Linkem“ heute eigentlich heißt: In welcher Form kehrt die soziale Frage im grünen Kapitalismus zurück, und ist die Linke in der Lage, diese Form zu erkennen und adäquate politische Lösungen zu finden? Was linke Politik im Klimakapitalismus bedeutet, muss dieLINKE nun herausfinden. Die SPD nach links zu ziehen, ist das eine. Aber wenn die Klimapolitik der Grünen nicht schnell und ökologisch genug ist und die Fridays auf die Straßen strömen, welche Partei wird dann die Grünen ins Grüne ziehen? Diese Frage wird der LINKEN nicht erspart bleiben.

Und anders als die FDP kann die LINKE für die Sammlung ihrer Kräfte nicht im politischen Winterschlaf versinken, sondern sie ist in der Opposition. Und zwar gemeinsam mit der CDU und der AfD. Sie muss die Anfänge der Ampel-Politik hellwach beobachten. Und darf ihren Auftritt nicht verpassen. Denn Bedarf ist das eine – die Frage, ob eine Partei professionell genug ist, um ihn zu decken, eine andere. Die lautstarken Proteste der Partei und Forderungen nach Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen und gegen die Zerschlagung der Bahn während der Koalitionsverhandlungen, habe ich die überhört? Die vielen roten LINKE-Fahnen zwischen denen blauen der Eisenbahngewerkschaft, wo waren sie? Will die LINKE mit 4,9 Prozent eine Opposition sein, an der die Ampel nicht vorbeikommt, muss sie sich mehr einfallen lassen als Pressemitteilungen.