Wie stehen die Chancen auf einen erneuerten Antiimperialismus – inmitten der vielfachen Krisen unserer Zeit, ihren multipolaren Tendenzen und einem neu erstarkenden Imperialismus? Unsere Frage fußt auf der Einsicht, dass es in den turbulenten Zeiten des Umbruchs, die die Welt derzeit im globalen Maßstab erlebt, mehr denn je eines erneuerten Internationalismus bedarf. Dabei sind wir uns der Rolle bisheriger Formen und Praktiken in historischen antiimperialistischen Prozessen bewusst. Indem wir eine Neuinterpretation des Internationalismus in der aktuellen Situation versuchen, möchten wir sowohl auf die spezifischen Probleme hinweisen, vor denen wir heute stehen, als auch die Tatsache unterstreichen, dass der antiimperialistische Kampf ein andauernder Prozess ist, der womöglich niemals abgeschlossen ist.[1]

Gibt es den Internationalismus noch?

Internationalismus an sich stellt sicherlich keinen ganz neuen politischen Vorschlag dar. Hervorgegangen aus einer langen Tradition anarchistischer, sozialistischer und kommunistischer Solidarität, verbindet man sein Potenzial und Vermächtnis mit Spanien oder Vietnam. Trotz dieser Assoziationen sind wir skeptisch, ob der Internationalismus heute noch Gültigkeit besitzt. Für unseren Vorbehalt gibt es mindestens zwei Gründe. Erstens hat der Begriff zu oft als Deckmantel für nationale Interessen – insbesondere die der UdSSR– gedient, was etwa während der Ära Stalins für den Spanischen Bürgerkrieg katastrophale Konsequenzen hatte. Zweitens wurde in der Geschichte des Internationalismus stets der Nationalstaat als entscheidende organisatorische Einheit ­vorausgesetzt. Dies entsprach allerdings nicht der ursprünglichen Stoßrichtung des Konzepts. Man bedenke, dass der Prozess der Nationenwerdung auf der politischen Landkarte Europas alles andere als abgeschlossen war, als Marx in den 1840er-Jahren begann, über dieses Thema zu schreiben. Internationalismus war insofern eine herausragende politische Erfindung und hellsichtige Vorwegnahme. Diese politische Kreativität gilt es, neu zu entfachen, wenn der Internationalismus die Grundlage für geeignete Praktiken und Kämpfe sein soll, die den imperialen Kräften und der neuen Weltordnung, die sie anstreben, etwas entgegensetzt.

In der heutigen Zeit haben wir es mit einer Störung der »regelbasierten internationalen Ordnung« zu tun. Etablierte Formen eines liberalen Internationalismus und entsprechende kosmopolitische Ideologien werden infrage gestellt. Mit Blick auf das marxsche internationalistische Projekt beschrieb Jacques Derrida im Jahr 1993 eine Bewegung, die sich »als geo-politisch präsentiert, auf diese Weise den Raum eröffnend, der inzwischen der unsere ist und der heute an seine Grenzen stößt, Grenzen der Erde und Grenzen des Politischen« (Derrida 1995, 68). Diese Grenzen sind im Zeitalter des Anthropozän und Kapitalozän erreicht. Die Neuerfindung des Internationalismus muss der Verletzlichkeit des Planeten in seiner Epistemologie Rechnung tragen.

Die gemeinsamen Herausforderungen für Klimakämpfe und den Internationalismus zu erkennen, bedeutet nicht, die Lehren der Vergangenheit zu ignorieren. Nach wie vor halten wir Lenins Versuch, die historische Neuheit des Imperialismus zu fassen und dadurch grundlegende Aspekte kommunistischer Politik in Russland und der Welt neu zu bewerten, für einen Quell methodologischer Inspiration. Das gilt, obwohl wir wissen, dass Lenin ein sowjetisches Elektrifizierungsprogramm vorantrieb, das auf der Verbrennung großer Mengen fossiler Brennstoffe basierte. Wir denken nicht, dass Lenins Imperialismustheorie für unsere heutige Zeit besonders nützlich ist. Doch sein Bemühen, geopolitische Faktoren in sein Verständnis vom Klassenkampf einzubeziehen, und zwar zum Zeitpunkt eines nie dagewesenen Kriegsgeschehens und groß angelegter Massaker in ganz Europa, bleibt methodisch bedeutsam. Ebendiese Verbindung von Geopolitik und sozialen Kämpfen wird nun in einer völlig veränderten Situation wieder entscheidend.

Prozesse der Polbildung

Wir kritisieren Ansätze, die die heutigen Brüche und Konflikte in der internationalen Ordnung als Beleg für das »Ende der Globalisierung« betrachten. Denn globale Prozesse prägen den Kapitalismus nach wie vor auf verschiedenen Ebenen. Diese Analyse bildet die Grundlage für unser Verständnis von Geopolitik und Multipolarität. Auch wenn wir dem Narrativ einer hegemonialen Schwerpunktverlagerung von den USA nach China nicht zustimmen, nehmen wir Giovanni Arrighis Diagnose einer Krise der globalen US-Hegemonie ernst. Ebenso ernst wie seine Analyse des Spannungsverhältnisses zwischen Kapitalismus und Territorialismus, das unserer Ansicht nach heute einen Zerreißpunkt erreicht hat. Multipolarität bezeichnet weder die Rhetorik Putins oder seiner Ideologen noch die gängigen Konventionen internationaler Beziehungen, denen zufolge üblicherweise Staaten, Nationen und Großmächte als die alleinigen weltpolitischen Akteure gesehen werden. Im Gegensatz dazu betonen wir die Rolle, die kapitalistische Akteure und Unternehmungen bei der Herausbildung der Pole spielen, und vermessen sehr genau die »operativen Räume«, die sie erschaffen – etwa in den Bereichen Logistik und Energieverteilung, Infrastrukturen, Digitalisierung und Finanzen. Diese Räume überschneiden und verbinden sich mit den territorialen Grenzen, die Staaten und Nationen umgeben, können aber niemals auf sie oder die aufsteigenden geopolitischen Pole unserer heutigen Welt reduziert werden. Die Prozesse der Polbildung sind offen und alles andere als abgeschlossen. Dennoch sind sie von territorialen Logiken durchzogen. Putins Vision eines »Großraums« für die »Russische Welt« ist unbestreitbar von einem imperialen Expansionsmodell geprägt. Allerdings gibt es die Tendenz, die komplexen Prozesse der Polbildung jenseits des konkreten Falls von Russland auf territoriale Ansprüche zu reduzieren, wodurch die internationalen Spannungen zu einer Logik der Konfrontation und des Krieges vereinfacht werden. Obwohl die Rede von einem »Neuen Kalten Krieg« alles andere als eine präzise Beschreibung der Beziehungen zwischen den USA und China ist, wirkt sie genau in diesem Sinne und wird von Akteuren in Washington und Peking dankbar aufgegriffen. Dies ist der Hintergrund, vor dem der Ukraine-Krieg kritisch analysiert werden muss. Zugleich muss die damit verbundene Verbreitung von »Kriegsregimes« in vielen Teilen der Welt, darunter Europa und Ostasien, hervorgehoben werden.

Zwischen Territorialismus und Kapitalismus

Der Kampf zur Beendigung des Ukraine-Kriegs, um die Gewalt, den Terror und die Zerstörung zu stoppen, die die Zivilbevölkerung seit der russischen Invasion erleiden muss, impliziert einen Kampf zur Verhinderung aller künftigen inner-imperialistischen Kriege. Der Imperialismus muss heute aus dem Blickwinkel des instabilen Gleichgewichts von Territorialismus und Kapitalismus analysiert werden. Dabei geht es um die Konvergenzen und Allianzen zwischen Territorialmächten und kapitalistischen Akteuren, die die Vereinfachung der internationalen Spannungen als Anlass zur Akkumulation und Verwertung nehmen und sie noch befördern. Ein Internationalismus, der nicht zugleich auch antiimperialistisch, gegen den Krieg und gegen die zunehmende Ausbreitung von Kriegsregimes ist, ist nicht möglich – das zeigen in erschreckender Weise die jüngsten Entwicklungen um Gaza und Israel.

Die Aktivitäten des Kapitals und von Kapital­akteuren sind jedoch nicht der einzige Faktor, der Staaten und Großmächte aus dem Zentrum der Polbildung verdrängen kann. Es gibt eine weitere wichtige Ebene, die die grundlegende Rolle von sozialen Bewegungen und Kämpfen betrifft, oder, wie wir sagen, die Rolle des Klassenkampfs im weiteren Sinne. Im Alltagsdenken der Menschen gibt es keinen Klassenkampf auf internationaler Ebene. Dieses Alltagsdenken infrage zu stellen und für eine Analyse zu argumentieren, die die Rolle von Kämpfen und gesellschaftlichen Dynamiken betont, bedeutet nicht, zu denken, dass solche Kämpfe und Dynamiken notwendigerweise die Herausbildung von Polen beschleunigen. Vielmehr geht es darum, Widersprüche und Gegensätze der gesellschaftlichen Dimensionen der Polbildung zu beleuchten. Im Fall der Protestbewegung in Hongkong 2019/20 richtete sich eine starke gesellschaftliche Ablehnung gegen die mit Chinas Aufstieg verbundene Logik der Polbildung und die Verabschiedung eines neuen nationalen Sicherheitsgesetzes. Eine geopolitische Lesart der aktuellen Lage sollte uns nicht dafür blind machen, was bei den Verschiebungen in der Weltpolitik gesellschaftlich wie politisch auf dem Spiel steht. Wir würden niemals unsere Unterstützung für die Bewegung »Frauen, Leben, Freiheit« im Iran einstellen und eine Position einnehmen, die die Rolle des Landes als Teil eines »anti-amerikanischen« Pols zelebriert. Dasselbe gilt für alle ähnlich gelagerten Kämpfe, egal mit welchem Pol sie verbündet sind.

Um die Aufgaben und Aussichten eines erneuerten Internationalismus zu bestimmen, müssen wir die Konflikte verstehen, die für Prozesse der Polbildung wesentlich sind. Für einen solchen Ansatz gibt es Vorläufer in den Diskussionen des kritischen Regionalismus, wobei Weltregionen nicht als abgegrenzte Räume verstanden werden, sondern als Kaleidoskop von Räumen, die wiederum vielfach von globalen Verbindungslinien durchzogen und daher offen für Verflechtungen mit anderen geografischen Formationen sind. Der Aufstieg bestimmter regionaler Räume oder Pole deutet nicht notwendig auf eine neue starre Geografie hin. Das heißt, dass diese Räume oder Pole eine wesentliche Referenz bei der Etablierung von Kommunikationskanälen zwischen verschiedenen Kämpfen sein können und dass die Koordinaten des politischen Handelns, die sich daraus ergeben, leicht multipliziert und miteinander verbunden werden können. Die starke Heterogenität solcher Räume zwingt uns dazu, das Problem der Übersetzung von unterschiedlichen Erfahrungen, Ansprüchen und Sprachen als konstitutives Moment der Organisierung ernst zu nehmen.

Lateinamerika und die »feministische Internationale«

Dies ist nur eine grobe Skizze einer Politik der Kämpfe, die innerhalb und gegen Prozesse der Polbildung und die multipolare Welt des Kapitals geführt werden. Aus unserer Sicht ist ein umfassendes Modell für solch eine Politik gar nicht möglich. Gleichwohl zeigen die in vieler Hinsicht begrenzten und widersprüchlichen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte in Lateinamerika, wie mögliche politische Kämpfe und Experimente im regionalen Maßstab aussehen können. Die Kette von Aufständen und Bewegungen, die Ende des 20. Jahrhunderts über den Kontinent fegte, schuf einen regionalen Raum, in dem neue »progressive« Regierungen entstanden. Wir wollen hier nicht die jeweilige Bilanz dieser Regierungen ziehen. Viel entscheidender ist, dass Lateinamerika gerade einen erneuten Aufschwung sozialer Bewegungen erlebt hat. Der großen Revolte in Chile 2019 folgten Volksaufstände in Ecuador mit großer Beteiligung indigener Gruppen und der massenhafte Widerstand gegen den Putsch in Bolivien. In Kolumbien wurde aus einer Massenbewegung gegen eine geplante Steuerreform eine allgemeine Mobilisierung gegen das bestehende gesellschaftliche und politische System, die schließlich den Wahlsieg von Präsident Gustavo Petro ermöglichte. Zudem sei auf die jüngere Welle der »rosaroten Regierungen« hingewiesen, einschließlich der internationalen Initiativen des brasilianischen Präsidenten Lula.

Insbesondere die feministischen Mobilisierungen, die 2015 in Argentinien unter dem Slogan Ni Una Menos (»Nicht eine weniger!«) ihren Anfang nahmen, haben sich rasant entwickelt und eine erhebliche transformative Kraft gezeigt. Die rasche Ausbreitung dieser Bewegung schuf eine lateinamerikanische Dimension des femi­nistischen Kampfes. Es gelang ihr, organisatorische Instrumente und politische Diskurse in äußerst unterschiedliche materielle Kontexte zu übersetzen. Der neue lateinamerikanische Feminismus fand auch in den USA und in südeuropäischen Ländern wie Spanien und Italien einen erheblichen Widerhall. Diese »feministische Internationale« basiert auf einem engmaschigen Netz aus kämpfenden Körpern, territorialen und subjektiven Eigenheiten sowie situierten Praktiken antikolonialer und antirassistischer Politik, die den Beschränkungen der nationalstaatlichen Geometrie trotzen, ohne dabei in Abstraktion zu verfallen.

Ein neuer Internationalismus

Es geht uns nicht darum, Ni Una Menos als Musterbeispiel darzustellen. Doch die Erfahrungen daraus könnten womöglich bei einer aktuell besonders kontroversen Frage zum Internationalismus weiterhelfen. In gewisser Weise schlägt Gramscis Kritik des Kosmopolitismus als Beispiel eines abstrakten Universalismus mit voller Wucht auf den Internationalismus zurück, der für ihn das »Andere« des Kosmopolitismus darstellte, und zwar gerade wegen der »konkreten« Vermittlung durch die Nation. Vielen heutigen Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen erscheint der Internationalismus selbst als »abstrakt«, als eine nicht endende und letztlich unproduktive Arbeit des Netzwerkens, die von den konkreten und alltäglichen Anliegen lokaler Kämpfe weit entfernt ist. Die Herausforderung besteht darin, den »globalen« Raum auf neue Weise zu denken, und zwar so, dass die translokalen Potenziale selbst in noch so kleinräumigen Kämpfen herausgearbeitet werden. Es gilt, die Ortsgebundenheit politischen Handelns mit einem Blick zu kombinieren, der die Verbreitung und Resonanz über die jeweiligen Grenzen ebendieser Kämpfe hinaus anvisiert. Traditionelle Prozesse des Netzwerkens bleiben zwar weiterhin wichtig. Noch entscheidender ist jedoch die Vervielfachung von Medienprojekten, die innerhalb variabler Geometrien regionaler Beziehungen, über diverse Plattformen und Infrastrukturen hinweg Verbreitung und Resonanz finden können: Von der subversiven Arbeit an erleichterten Migrationskorridoren für illegalisierte Menschen bis zur Intensivierung von klimapolitischen, feministischen und antirassistischen Kämpfen. Solche Projekte und Plattformen können das infrastrukturelle Grundgerüst für einen neuen Internationalismus bilden.

Ein antiimperialer Internationalismus für die heutige Zeit muss eine neue Sprache entwickeln. Eine, die die heterogenen Bedingungen von Herrschaft und Ausbeutung in verschiedenen Weltteilen abbilden kann und zugleich den gemeinsamen Wunsch nach Befreiung zum Ausdruck bringt. Uns ist klar, dass mit dieser Formulierung eine ganze Reihe theoretischer und politischer Fragen verbunden ist: von der Politik der Übersetzung bis zu den umstrittenen Vorzügen des Universalismus. Ist es möglich, die gesamte Bandbreite von Herrschaft und Ausbeutung durch eine gemeinsame Sprache abzubilden? Gibt es einen solchen »gemeinsamen Wunsch nach Befreiung« überhaupt? Die letzte Frage ist vielleicht noch leichter zu beantworten: Es existiert kein solcher bewusster Wunsch. Vielmehr haben wir es in vielen Teilen der Welt mit Initiativen und Bewegungen zu tun, die aus der konkreten Konfrontation mit Systemen von Herrschaft und Ausbeutung hervorgehen. Sie können sicherlich Risse in den Strukturen dieser Systeme verursachen, sind aber noch kein Hinweis auf ein systematisches Streben nach Befreiung.

Das Streben nach Gleichheit und Freiheit sollte die Aufgabe eines neuen Internationalismus sein. Er muss daran mitwirken, den Horizont für ein Leben jenseits der Herrschaft des Kapitalismus aufzubauen. Zu veranschaulichen, dass ein solches Leben so möglich wie erstrebenswert ist, sollte in Zeiten von Krieg, Armut und dem Gespenst des Klimawandels den Kern unseres politischen Programms bilden. Es wird kein von Kathederphilosoph*innen formuliertes Programm, keine Blaupause in »Einheitsgröße« sein. Die Entwicklung einer neuen politischen Sprache ist eine aus heterogenen Erfahrungen gespeiste kollektive Anstrengung mit dem Ziel, eine Reihe grundlegender Prinzipien und Konzepte in verschiedene materielle und geografische Kontexte zu übersetzen. Nur so wird diese Welt wieder »zu gewinnen« sein.

 

Aus dem Englischen von Jan-Peter Herrmann

Wir beginnen hier eine Debatte zu Internationalismus, zu der auch der Beitrag von David Salomon »Was heißt Antiimperialismus heute?« sowie der Beitrag »BRICS+ und die Widersprüche des neuen Multipolarismus« von Patrick Bond (erscheint in Kürze) gehören.

[1] Eine ausführlichere Diskussion der hier skizzierten Ideen findet sich in unserem bald bei Verso erscheinenden Buch »The Rest and the West«.

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