Insbesondere in der angelsächsischen Welt wurde ab den frühen 2000er-Jahren verstärkt über einen »neuen Imperialismus« diskutiert. Auslöser der Debatte waren die Anschläge vom 11. September 2001 und die auf sie folgenden Kriege der USA und ihrer Verbündeten. Insbesondere marxistische Beiträge zur Debatte – etwa von Leo Panitch und Sam Gindin (2004) oder David Harvey (2005) – analysierten die seinerzeit betriebene Gewaltpolitik im Zusammenhang mit der Reorganisation des globalen Kapitalismus nach dem Ende des Kalten Krieges. Nicht nur das trotz aller Spannungen – etwa im Kontext des Irak-Kriegs – weitgehend stabile transatlantische Verhältnis zwischen den USA und der EU, auch die starke Interdependenz zwischen den Ökonomien des aufsteigenden China und den kapitalistischen Zentren im Westen einschließlich den USA (»Chimerika«) bestätigten zunächst den Befund, die Vereinigten Staaten von Amerika seien als einzige verbliebende Supermacht in der Lage, die politische Rolle des Motors kapitalistischer Globalisierung – mindestens mittelfristig– weiterzuspielen (vgl. u. a. Haug 2022, 354). Der Imperialismus hatte für einige Zeit eine Gestalt angenommen, die an eine asymmetrische Variante dessen erinnerte, was Karl Kautsky 1915 als Ultraimperialismus bezeichnet hatte (Panitch/Gindin 2004, 30; Deppe, 17). Formen der Kooperation zwischen den imperialistischen Mächten überwogen zwischenimperialistische Konkurrenz.
Kräfteverschiebungen im Weltsystem
Dennoch waren bereits die 2000er- und 2010er-Jahre von nachhaltigen Kräfteverschiebungen im kapitalistischen Weltsystem geprägt. Davon zeugt nicht nur die wachsende Bedeutung der 1999 gegründeten G20 (gegenüber G8 bzw. G7), sondern auch die sich in diesen Jahrzehnten entwickelnde Kooperation zwischen den sogenannten BRIC(S)-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika). Seit 2014 verfolgt die Volksrepublik China mit ihrer One-Belt-One-Road-Initiative (»Neue Seidenstraße«) ein Projekt mit bedeutenden geoökonomischen und »geopolitischen« Implikationen: Die Neue Seidenstraße »verbindet […] China enger mit Eurasien und Afrika. Man könnte sagen: Sie bindet Eurasien und Afrika stärker an China.« (Solty 2020, 26) Spätestens mit Obamas »Schwenk nach Asien« (vgl. ebd., 22) hatten die USA schon zuvor die Weichen in Richtung einer stärker konfrontativen Politik gegenüber China gestellt. Dieser Großkonflikt bildet das Hintergrundrauschen aller gegenwärtigen interimperialen Auseinandersetzungen.
Im Rückblick erweisen sich bereits die Kriege nach dem »Arabischen Frühling« von 2011 als Katalysator von Konflikten zwischen »dem Westen« und dem »Rest«, insbesondere Russland. Schon der syrische Bürgerkrieg, in den neben den USA und anderen auch die Russische Föderation intervenierte, trug Züge eines ersten Stellvertreterkrieges. Mit den Maidan-Unruhen, dem Beginn des ukrainischen Bürgerkriegs im Donbass und insbesondere der Annexion der Krim im Jahr 2014 waren die durch vorhergehende NATO-Osterweiterungen ohnedies strapazierten Beziehungen »des Westens« zu Russland an einem historischen Tiefpunkt angelangt. Der Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 markiert abermals eine bedeutende Zäsur. Er setzte eine offene Eskalationsspirale in Gang, deren Ende bislang nicht abzusehen ist und die zunehmend zur Nagelprobe für die globale Friedensordnung und das Verhältnis der großen Mächte zueinander wird.
Konfliktdimensionen des Ukraine-Kriegs
Eine an antiimperialistischer Entspannungspolitik orientierte Perspektive tut gut daran, die in diesem Krieg verschlungenen Konfliktdimensionen analytisch zu trennen: Susan Watkins (2023, 25ff) unterscheidet im Anschluss an Ernest Mandel fünf solcher Dimensionen – der UkraineKrieg sei erstens ein Bürgerkrieg in der Ukraine selbst, zweitens der russische Krieg gegen die Ukraine und durch sie vermittelt auch gegen die NATO, drittens ein ukrainischer Verteidigungskrieg gegen den russischen Angreifer, viertens ein auch seitens der Biden-Regierung geführter Stellvertreterkrieg gegen Russland und darüber hinausgehend ein Modellkrieg, der auf künftige Eskalationspotenziale verweist. »Hier taucht das Gespenst eines fünften Konflikttyps auf, der die Haltung Washingtons zur Ukraine überlagert: die kommende Konfrontation mit Peking.« (Ebd., 32) Watkins kommt sogar zu dem Ergebnis: »Die Folgen für den amerikanisch-chinesischen Konflikt, auf den sich die letzten drei Regierungen in Washington konzentriert hatten, bestimmen in letzter Instanz die Dynamik des Ukrainekriegs.« (Ebd., 33) Dass Russland durch die Wirtschaftssanktionen des Westens in zunehmende Abhängigkeit von Peking gerät, passt ebenso zu einer die Blockkonfrontation forcierenden Politik wie die ablehnende westliche Haltung gegenüber Signalen der Bereitschaft aus Peking (und Brasilia), in gemeinsamer Anstrengung mit den USA und ihren Verbündeten die unmittelbaren Konfliktparteien des Ukraine-Kriegs an den Verhandlungstisch zu zwingen.
Im herrschenden, bis weit in linke politische Milieus wirkenden Diskurs werden von den fünf von Watkins herausgearbeiteten Konfliktdimensionen jedoch lediglich zwei beachtet: Der Angriffskrieg Russlands und der ukrainische Verteidigungskrieg werden in abstrakter Eindeutigkeit aus den »verhakten Verhältnissen« (Kluge 2023, 46) herausgelöst und dem Publikum als Bekenntnisalternative vorgelegt. Sozialpsychologisch greift in dieser Vereinfachung eine ideologische Konstellation, die Ingar Solty dazu bringt, von einem linksliberalen Krieg zu reden, der »drei tief verankerte linke Gefühle« anspreche: »die Antikriegshaltung, den Antifaschismus und den Wunsch, mit den Schwachen und auch international solidarisch zu sein« (Solty 2023). Ergänzen ließe sich noch, dass auch antiimperialistische Gefühle mobilisiert werden: etwa wenn die ukrainische Geschichte im sowjetischen Verbund als Kolonialgeschichte interpretiert wird und das Attribut imperialistisch ausschließlich zur Kennzeichnung der russischen Position dient. Auf der Ebene der Kriegsideologie erweist sich diese »antiimperialistische« Reminiszenz als das Medium, in dem sich der Gestaltwandel von einstigen »Pazifisten« zu Bellizisten vollzieht: Die militärische Unterstützung der Ukraine wird in diesem Zusammenhang damit begründet, dass Verteidigungskriege völkerrechtlich zulässig und darüber hinaus die einzig verbliebene Form des gerechten Krieges seien. Dies gelte insbesondere dann, wenn die imperialistischen Ambitionen einer revisionistischen Macht abgewehrt werden müssten. Diese Argumentation enthält drei Ebenen: eine völkerrechtliche, eine moralphilosophische und eine politische. Eine emanzipatorisch orientierte antiimperialistische Perspektive muss dem herrschenden Diskurs auf allen drei Ebenen begegnen.