Während der 1960er und 70er Jahre beschrieb der brasilianische Dependenztheoretiker Ruy Mauro Marini das Verhältnis der brasilianischen Eliten zu den USA als „antagonistische Kooperation“, als eine subimperiale-imperiale Arbeitsteilung: Brasilia fungierte als Hilfssheriff in der Region, zum Schutze sowohl globaler als auch heimischer Konzerninteressen. Heute lässt sich die Rolle des BRICS+[1]-Blocks als „antagonistische Kooperation“ mit dem imperialistischen Bündnis der „Multilateralen“ (USA, EU, Vereinigtes Königreich und Japan) und ihrer Konzerne verstehen, wobei letztere die Kontrolle behalten. Was wir derzeit erleben, ist daher nicht das Aufkommen eines echten Multipolarismus, sondern einen sich durch den neoliberalen Multilateralismus verstärkenden Subimperialismus. Diese Konstellation ist gekennzeichnet durch Widersprüche zwischen den „abtrünnigen“ Subimperialisten (siehe Russlands Überfall auf die Ukraine) und loyalen Subimperialisten. Trotz wachsender Widersprüche zwischen den USA und China/Russland stellen die BRICS-Staaten keinen Block dar, der die westliche Dominanz der Multilateralen wirklich herausfordern könnte, sondern vielmehr eine widersprüchliche, unzusammenhängende Arena, in der subimperiale Mächte die kapitalistischen Formen der Ausbeutung und Aneignung verstärken. Wirkliche Hoffnung birgt daher nur ein Antiimperialismus von unten. 

Tatsächlich haben die BRICS seit 2008, als die G20 gegründet wurden, stets als Unterstützer der Finanzpolitik und des Multilateralismus des Westens fungiert. Ein Beispiel unter vielen: Die Rekapitalisierung des IWF im Jahr 2015 brachte den BRICS-Staaten tatsächlich einen erheblich größeren Stimmanteil, knapp unter jenen 15 Prozent, die es braucht, um ein Veto gegen die Beschlüsse und Kreditvergaben der Institution einzulegen (ein Anteil, den traditionell nur die USA halten). Als der Stimmanteil Chinas beim IWF um 37 Prozent, der von Brasilien um 23 Prozent, von Indien um 11 Prozent und von Russland um 8 Prozent anstieg, ging dies jedoch nicht hauptsächlich zulasten des Westens. Zu den Ländern, die die größten Anteile verloren, gehörten Nigeria und Venezuela (je 41 Prozent) und auch Südafrika (21 Prozent). 

Innerhalb der Bretton-Woods-Institutionen gab es seitens der BRICS-Delegationen keinerlei ideologische Abkehr vom räuberischen neoliberalen Finanzkapitalismus. So erläuterte Xi selbst beim Weltwirtschaftsforum den Ansatz seines Landes folgendermaßen: „Jeder Versuch, den Fluss von Kapital, Technologien, Waren, Industrien und Menschen zwischen den Volkswirtschaften zu unterbinden und das Wasser des Ozeans zurück in isolierte Seen und Bäche zu leiten ist schlicht unmöglich… Wir müssen uns nach wie vor für die Ausweitung globaler Handels- und Investitionsfreiheit einsetzen und die Liberalisierung von Handel und Investitionen vorantreiben.“ 

In den letzten Jahren haben die Fliehkräfte der Weltwirtschaft stark zugenommen und die Einheit des BRICS-Blocks zunehmend geschwächt. Selbst das Markenzeichen der BRICS-Volkswirtschaften – der steigende BIP-Anteil des Handels zwischen den BRICS-Staaten wie auch internationalen Handels – kehrte sich nach dem Höhepunkt 2008 rapide um und fiel in der Folge beständig bis zum Crash 2020 während der Pandemie. Außerdem trugen die Wahlen in Indien und Brasilien – aus denen 2014 der rechte Hindu-Nationalist Narendra Modi und 2018 der rechtsradikale „Trump der Tropen“ Jair Bolsonaro als Sieger hervorgingen – zur weiteren Uneinigkeit des Blocks bei. 

Der unrühmliche Niedergang in die politische Zerrissenheit wurde etwa 2022 offenbar, als der brasilianische Vizepräsident des Landes (Militärchef Hamilton Mourão) als Antwort auf die russische Invasion der Ukraine eine Gegen-Invasion vorschlug: „Wenn der Westen die Ukraine einfach im Stich lässt, ist Moldawien als nächstes dran, und dann die baltischen Staaten, genauso wie in den 1930er Jahren unter Hitlerdeutschland.“ Bolsonaro rügte ihn dafür, denn nur eine Woche zuvor hatte er während eines Besuchs in Moskau Präsident Putin noch die Solidarität seines Landes zugesichert.

Der jüngste BRICS-Gipfel in Johannesburg endete mit einer großen Enttäuschung: Die lange überfällige Herausforderung der Hegemonie des US-Dollars wurde aufgrund der Ablehnung durch die konservativen Kräfte innerhalb des Blocks zum Rohrkrepierer. Allerdings muss man den BRICS-Führer*innen wohl zugutehalten, dass sie mit der Beitrittseinladung an Argentinien, Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate unerwartet eine Erweiterungsinitiative des Bündnisses auf den Weg brachten. Für Oktober 2024, wenn Putin den nächsten Gipfel ausrichtet, wird erwartet, dass weitere Neumitglieder eingeladen werden sollen.)  Im November 2023 wählte die frustrierte Bevölkerung Argentiniens jedoch einen Rechtspopulisten zum Präsidenten, der vermutlich den Peso redollarisieren und die Einladung zu den BRICS+ ablehnen wird. 

Einer der weltweit führenden sozialdemokratischen Ökonomen, Branko Milanovic, schrieb auf seinem Blog einen der wohl hoffnungsvollsten Kommentare zum BRICS-Gipfel in Johannesburg: „Die Tatsache, dass immer mehr Länder den BRICS beitreten wollen, sollte nicht ignoriert oder auf die leichte Schulter genommen werden. Die Weigerung der BRICS, sich an neuen globalen Handels-, Stellvertreter- oder tatsächlichen Kriegen zu beteiligen, könnte solche Kriege weniger wahrscheinlich machen. Und die Wirtschaftskraft der BRICS könnte dazu beitragen, einige der eklatantesten ökonomischen Ungleichgewichte zwischen den reichen und armen Ländern sowie denen mit mittleren Einkommen weltweit zu reduzieren“. Mit einem etwas aufmerksameren Blick auf die Fakten hätte diese Aussage auch gegenteilig lauten können: Angesichts der Tatsache, dass der Block aus den vergangenen 15 Jahren rein gar nichts Substanzielles vorzuweisen hat (besonders nicht mit Blick auf die Geopolitik), kann der Umstand, dass eine steigende Zahl von Ländern den BRICS beitreten wollen, eben sehr wohl ignoriert und auf die leichte Schulter genommen werden. Und wie der Gipfel in Johannesburg bestätig hat, sind sie einfach nicht in der Lage, selbst eine rudimentäre Entdollarisierung ernsthaft voranzutreiben. Entgegen Putins Forderung haben es die BRICS nicht geschafft, „verlässliche alternative Mechanismen für internationale Zahlungsabwicklungen“ zu schaffen oder „eine auf den BRICS-Währungen basierende internationale Reservewährung“ einzuführen. 

Die erste Prüfung des BRICS+-Bündnisses kam etwa sechs Wochen später mit dem Hamas-Angriff, bei dem Hunderte von Zivilist*innen ermordet wurden. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu reagierte mit nie dagewesener Kollektivbestrafung der Palästinenser*innen, wobei laut Schätzungen in den folgenden sechs Wochen 20 000 Menschen – vor allem Frauen und Kinder – getötet und mehr als eine Million Menschen aus Gaza-Stadt vertrieben wurden. 

Einmal mehr zeigen sich innerhalb der BRICS – oder, wie sie nun heißen, BRICS+ – potenziell schwächende Widersprüche, insbesondere weil Iran traditionell ein großer Unterstützer der Hamas ist (ebenso wie Teherans Verbündete in Katar), während drei Neumitglieder seit Jahrzehnten treue Vasallen des Westens gewesen sind. Der Führer der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Mohammad bin Zayed Al Nahyan, hatte Mitte 2020 die Abraham-Abkommen mit Israel unterzeichnet, einer von Donald Trump initiierten Reihe von Verträgen zwischen Israel und verschiedenen arabischen Staaten. Im Rahmen dieses Prozesses der „Normalisierung“ Israels, der nun auch von Joe Biden gefördert wird, befand sich der saudi-arabische Kronprinz Mohammed bin Salman Al Saud an der Schwelle zu einer wegweisenden Einigung, wie es Netanjahu vollmundig am 23. September vor den Vereinten Nationen verkündete. Das saudisch-israelische Abraham-Abkommen scheint für den Moment durch den Angriff auf Gaza auf Eis zu liegen, doch die zugrundeliegende Tendenz in Richtung subimperialer Bündnisformierung wird durch die Initiative Washingtons nach wie vor vorangetrieben. 

Im selben anti-palästinensischen Geiste weigerte sich auch Ägyptens despotischer Staatschef, General Abdel Fattah Al-Sisi, der 2013 durch einen Staatsstreich gegen eine Regierung der Muslimbruderschaft an die Macht kam (und sich dann in fragwürdigen Wahlen 2014 und 2019 erneut wählen ließ und die Verfassung dahingehend änderte, dass er weiterhin herrschen konnte, nachdem seine Schlägertrupps vor Kurzem den Aufstieg eines linken Kandidaten verhinderten), die Grenze nach Gaza bei Rafah zu öffnen. Wie er es am 1. November 2023 ausdrückte, gerade als Israels massives Bombardement noch an Intensität zunahm: „Natürlich haben wir Mitgefühl. Aber Vorsicht: Während wir Mitgefühl haben, müssen wir stets unseren Verstand benutzen, sodass wir Frieden und Sicherheit auf eine Weise erreichen, die uns nicht viel kostet.“ 

Diese drei Regimes – Ägyptens, Saudi-Arabiens und der VAE,  gelten nach wie vor als relativ zuverlässige US-Verbündete, wenn es um die Erledigung subimperialer Pflichten im Nahen Osten geht. Der Führer eines der BRICS-Gründungsmitglieder, der indische Premier Modi, ist verstörend eng mit Netanjahu, nicht zuletzt aufgrund der Islamophobie, die beide miteinander teilen. Ähnliche Bedenken gab es in Bezug auf Vladimir Putins Nähe zu Netanjahu – ein regelmäßiger Besucher Russlands – über die letzten zwei Jahrzehnte (wobei dieses enge Verhältnis bis zum Februar 2022 und dann mit der Invasion der Ukraine spürbar nachgelassen hatte). 

Medikamente, Geld, Krieg und Klima – Widersprüche der BRICS 

Die Covid-19-Pandemie ist ein weiteres Beispiel für die Widersprüche der BRICS-Formation. Beim Treffen der Welthandelsorganisation am 17. Juni 2022 wiesen die imperialen Mächte die von den Präsidenten Indiens und Südafrikas vorgetragene Vision, den Patentschutz für Covid-19-Schutzimpfungen und Medikamente aufzuheben, rundheraus zurück. Die imperialistischen Staaten, deren Führer*innen im Dienste von Big Pharma standen – die Briten, die Deutschen, die Schweizer, die Norweger; hinter den Kulissen unterstützt durch die USA, die Franzosen, die Kanadier und die Japaner – nahmen zurecht an, dass die subimperialen Mächte Indien und Südafrika schon wieder spuren würden.So wurde jene Art von Fortschritt verhindert, den man 2001 mit der Aussetzung des Patentschutzes auf AIDS-Medikamente erreicht hatte (was innerhalb weniger Jahre zur breiten Verfügbarkeit generischer Medikamente führte und zwischen 2005 und 2019 die Lebenserwartung in Südafrika von 54 auf 66 Jahre erhöhte). Das Problem waren allerdings nicht (nur) die westlichen Patentinhaber: Schließlich besaßen mit China und Russland auch zwei BRICS-Länder Patente auf Covid-19-Impfstoffe, die Ramaphosa und Modi keineswegs unterstützten. Im Falle einer tatsächlichen Verabschiedung eines Patentschutzverzichts hätten sie Verluste gehabt. Wenngleich man beiden Ländern zugutehalten muss, dass sie ärmere verbündete Staaten mit verbilligten oder kostenlosen Impfdosen versorgten. 

Die russische Invasion der Ukraine führte zu neuen Widersprüchen. Zugleich steht in einer multilateralen Wirtschaft wohl für Putin mit am meisten auf dem Spiel. Im Juni 20223 beschwerte er sich beim BRICS-Wirtschaftsforum über die  immer strikteren Sanktionen. Gleiches galt für das Einfrieren von mehr als 300 Mrd. US-Dollar russischen Staatsbesitzes, der in westlichen Banken lagerte, sowie von noch einmal mindestens 300 Mrd. US-Dollar im Ausland deponierten Anlagevermögens von Dutzenden Putin-getreuen Oligarchen[2]. Als Konsequenz drohte Putin an,  seine Handelsströme und ausländischen Wirtschaftsbeziehungen neu zu justieren und auf "verlässliche internationale Partner" auszurichten, allen voran die BRICS-Staaten. Aber Forderungen nach Ent-Dollarisierung und einer auf den BRICS-Währungen basierenden internationalen Reservewährung verliefen im Sand. 

Keiner dieser Ansätze wurde in Johannesburg ernsthaft weiterverfolgt. Das gleiche Schicksal ereilte über die vergangenen acht Jahre zwei weitere internationale Finanzinitiativen – nämlich der nie genutzte Reserve Contingency Arrangement (RCA) Mechanismus, der die Mitgliedsstaaten als alternative Kreditinstitution zum IWF mit 100 Mrd. US-Dollar aus den harten Währungen der fünf Länder absichern sollte, sowie eine BRICS-Rating-Agentur. Die BRICS blinken in Fragen der globalen Finanzwirtschaft links, um dann aber rechts abzubiegenSo wurde während der 2010er Jahre der IWF  eifrig finanziell unterstützt. Das gleiche Muster konnte viel zugespitzter, in der Entscheidung der BRICS New Development Bank – der vermeintlichen Alternative zur Weltbank – im März 2022 beobachtet werden, das russische Portfolio einzufrieren, da sie andererseits ihre westliche Bonitätsbewertung von AA+ verloren hätte. Dennoch wurden die Gewinnerwartungen von der Rating-Agentur Fitch schnell herabgestuft, da Russland 19 Prozent der BRICS-Bank besaß und fast sieben Prozent ihrer ausstehenden Kreditrückzahlungen bestritt.

Ironischerweise schaffte es Putin jedoch lange Zeit (bis zum ersten 100 Mrd. US-Dollar schweren Zahlungsausfall, für den Moskau seinen Ausschluss aus dem westlichen Zahlungssystem verantwortlich machte), sich an die internationalen Finanzregeln zu halten. Im Jahr 2022 veränderte er allerdings die Zahlungsbedingungen für russische Öl- und Gasexporte, die nun auf Rubel umgestellt wurden, um die russische Währung zu stärken. Wenn es um die Rückzahlung russischer Auslandsschulden ging, ist Putin, trotz seiner Rolle als abtrünniger Subimperialist beim brutalen Überfall auf die westlich orientierte Ukraine, ein loyaler Subimperialist gewesen.

Während Washington, London, Berlin und andere westliche Regime angesichts des Ukraine-Kriegs milliardenschwere Rüstungshilfen für die Ukraine finanzieren, damit diese weitere russische Annexionen verhindern oder gar eine Offensive zur Rückeroberung verlorener Gebiete starten kann, droht die russische Regierung mit dem Einsatz von Atomwaffen. Das ist lediglich eines von zwei möglichen Szenarien, wie der Westen gemeinsam mit BRICS+ die Menschheit an den Rand des Aussterbens bringen könnte; beim anderen geht es um die Klimakatastrophe. 

Konkret bedeutet die BRICS-Kooperation beispielsweise, dass Putins wichtigstes Erkundungsschiff von seinem Stützpunkt in Kapstadt aus vor der Küste der Antarktis Öl- und Gasvorkommen entdeckt hat, die auf 500 Mrd. Barrel beziffert werden. Wenn Russland also tatsächlich – ungeachtet der von Deutschland federführend vorangetriebenen Gespräche über einen neuen internationalen Antarktis-Vertrag, dem Putin wohl wenig Bedeutung beimessen dürfte – diese fossilen Ressourcen weiter erkunden, ausbeuten und letztlich verfeuern sollte, wäre das Ergebnis eine so gigantische „CO2-Bombe“, dass sich das Aussterben eines Großteils des Lebens auf der Erde schon in den kommenden Jahrzehnten einstellen könnte. Und dieser Agenda Russlands ließe sich wohl kaum besser Vorschub leisten als durch das Schmieden einer neuen fossilen Energieallianz mit den anderen vier BICS-Staaten – nicht zuletzt ein weiterer verzweifelter Versuch Putins, in dieser Situation der schweren Sanktionen neue wirtschaftliche Partner zu finden.

Die widersprüchlichen Modi antagonistischer Kooperation der subimperialen BRICS-Länder innerhalb des globalen Kapitalismus rechtfertigen nicht die Vorstöße der imperialistischen Mächte, unmittelbar an Russlands Grenzen militärische Kapazitäten der NATO zu installieren – eine Provokation, vor der selbst NATO-Strateg*innen gewarnt hatten.

In Deutschland wurde Putin wohl lange Zeit völlig falsch eingeschätzt. Die Merkel-Regierung hatte sich noch für die Stärkung von Handel und Investitionen eingesetzt, nicht nur in der Hoffnung auf günstige Gaslieferungen, sondern auch auf ein engeres Bündnis zwischen Russland und Europa insgesamt. Es war naives Wunschdenken, und zwar nicht nur angesichts der aufbrausenden Putinschen Expansionsambitionen – gestützt auf Atomwaffen –, sondern auch mit Blick auf seine Wut über ein unverhohlen gebrochenes Versprechen, das Helmut Kohl und US-Präsidenten George H. W. Bush sowie Bill Clinton in den 1990er Jahren Michail Gorbatschow und Boris Jelzin gegeben hatten: Dass sich die NATO nicht weiter östlich als Deutschland ausdehnen werde. 

Eine Theorie des Subimperialismus und der ‚Super-Ausbeutung’ 

Ein übergreifendes Problem für Putin und seinesgleichen ist, dass seine eigene heimische Kapitalistenklasse seit Beginn der 2020er an Grenzen der Akkumulation stößt. Das ist für eine Volkswirtschaft der Semiperipherie, die vom Export von Rohmaterialien abhängig ist und mit hochvolatilen Preisen zu kämpfen hat, durchaus charakteristisch. Marx’ allgemeine Theorie der ungleichen Entwicklung, die insbesondere durch David Harvey aktualisiert wurde, erklärt geopolitische Spannungen während eines „Abwertungs“-Prozesses, in dem überschüssiges Kapital in globalen Finanzströmen entweder verteidigt werden muss oder aufgrund mangelnder Wettbewerbsfähigkeit untergeht. In seinem Buch The Limits to Capital führt Harvey aus: „Angesichts der ständigen Gefahr einer Abwertung versucht jedes regionale Bündnis, andere als Mittel zur Linderung seiner eigenen Probleme zu benutzen. Der Kampf um die Abwertung nimmt eine regionale Wendung. Allerdings werden dadurch die regionalen Differenzierungen instabil.“ Das Hauptproblem für die Regierungen ist, dass „Regionale Bündnisse […] am internationalen Wettbewerb und dem Zwang zur Angleichung ihrer Profitraten“ scheitern. 

Die Semipheripherie wird zu jener Schicht der globalen Machtstruktur, die diese Probleme als erstes spürt. Russlands Aufstieg während des Rohstoffbooms (super-cylce) von 2012 bis 2014 – also vor dem Crash der Öl- und Mineralpreise 2015 – markierte eine Veränderung zur Kapitalflucht der Oligarchen in den 1990er Jahren, nämlich Russlands neue Rolle als Hafen für überakkumuliertes Kapital. Zu dieser Zeit während der 2010er Jahre wurden vorher semi-periphere Volkswirtschaften, wie es Harvey bereits 2003 vorausgesagt hatte, zu „Rivalen auf der Weltbühne“ – aber in Form eines Subimperialismus, wobei „jedes sich entwickelnde Zentrum der Kapitalakkumulation durch die Festlegung territorialer Einflusssphären systematisch raum-zeitliche Fixierungen für sein eigenes Überschusskapital ausfindig machte.“ 

Weder die BRICS noch die G7 bieten eine Alternative zu einem System, in dem sich, angetrieben durch die Überakkumulation von Kapital (hauptsächlich als Folge der extrem produktiven Fabriken an Chinas Ostküste), Spannungen über Kapitalabwertung verschärfen. Um zu „erklären“, warum der Verlauf der russischen Regionalexpansion eine große Bedrohung darstellt, wird in der Regel eine große Bandbreite an historischen und politischen Merkmalen ins Feld geführt. Diese wären aber nicht vollständig ohne einige Überlegungen zu produktiven Überkapazitäten innerhalb Russlands und um Russland herum sowie zu einer allgemeinen Überakkumulation und weiteren Dynamiken ungleicher Entwicklung. Insbesondere da diese Dynamiken nicht nur eine Frage der subimperialen Positionierung Putins, sondernfest ins Weltsystem eingeschrieben sind.

Der Zynismus des grünen Kapitalismus: Ansturm Deutschlands auf neue fossile Ressourcen

Viele BRICS+-Regimes sind extrem CO2-abhängig. Die elf Volkswirtschaften der BRICS+-Staaten produzieren zwar nur 29 Prozent des globalen BIP, aber 58 Prozent aller Emissionen, nicht zuletzt da sie 43 Prozent der weltweiten Ölproduktion kontrollieren. Im Mai 2022, mitten im Krieg, flog Kanzler Scholz nach Pretoria, um Präsident Ramaphosa zu treffen – hauptsächlich, um sich für eine pro-westliche Haltung bezüglich des Russland-Ukraine-Konflikts stark zu machen, aber auch, um südafrikanische Kohleexporte zu sichern – nachdem er zuvor bereits Zwischenstopps in Dakar, Senegal und Abuja, Nigeria, eingelegt hatte. Diese afrikanischen Länder verfügen über enorme Reserven fossiler Energieträger, um die es Scholz geht, zumal er zuhause zunehmend mit Opposition gegen die heimische Kohleförderung konfrontiert war und die Gasimporte aus der russischen Nordstream-Pipeline (schon lange vor ihrer Sprengung im September) beenden wollte. Berlins Anfälligkeit für die Moskauer Turbulenzen nahm noch einmal dramatisch zu als die westlichen Sanktionen anfingen zu greifen.

Berlins zunehmend dringlich benötigte alternative Gaslieferungen erforderten einen massiven Kapitalaufwand für Infrastrukturprojekte, um die CO2-abhängige deutsche Industrie zu versorgen. Dies kam im Wesentlichen westlichen Ölkonzernen zugute, die in Westafrika aktiv sind, darunter insbesondere der französische TotalEnergies-Konzern sowie die britisch-niederländischen Firma Shell. Allerdings wird es den Kontinent mit „stranded Assets“ zurücklassen, die in den späteren 2020er Jahren Klimasanktionen im Rahmen des CO2-Grenzausgleichsabkommens nach sich ziehen könnten (wie sie insbesondere Südafrika von europäischer Seite drohen).

Den Druck, der aus Deutschland auf afrikanische Länder ausgeübt wird, ihre selbstzerstörerische fossile Infrastruktur ausbauen, veranschaulicht dieses Beispiel: Der Berliner Konzern HMS Bergbau erwarb 2021 eine Aktienmehrheit am botsuanischen Kohlekonzern Maatla. Der CEO des Unternehmens, Jacques Badenhorst, lobbyierte in der Folge in Südafrika bei Transnet für die Verlängerung einer wichtigen Bahnlinie für Kohletransporte bis an die botsuanische Grenze.  Der Mitbegründer von HMS Bergbau, Lars Schernikau, hat auch in Südafrika lautstarke Lobbyarbeit betrieben, damit das Land mehr Kohle fördert und verfeuert. Das Interesse von HMS Bergbau, dass Botsuana seine Kohle (die Reserven werden auf 200 Mrd. Tonnen geschätzt, was dem Fünffachen des südafrikanischen Vorkommens entspricht und damit eine tickende „CO2-Bombe“ darstellt)  nun auch nach Deutschland  exportiert, ist groß. So gesehen bleibt Scholz also ein verderblicher Bündnispartner. Einerseits erklärte er im Mai 2022 an Ramaphosa (der selbst ein ehemaliger Kohle-Magnat ist) gewandt, dass die westlichen Sanktionen gegen Russland – die Pretoria beständig abgelehnt hat – ab September die Einfuhr von Putins Kohle nach Europa verbieten. Um im gleichen Atemzug hinzuzufügen: „Dies wird funktionieren, weil es weltweit viele Lieferanten gibt, die bereit sind, jenen Ländern ihre Kohle zu verkaufen, die sie zuvor von Russland bezogen haben, und natürlich gibt es Länder wie z.B. Südafrika, wo wir das tun werden.“ 

Diese gravierenden Widersprüche ließen sich als eine Variante des Zynismus des „grünen Kapitalismus“ bezeichnen. Im Interesse des nackten Überlebens zukünftiger Generationen sowie kontinentaler Solidarität sollte Ramaphosa die Kohleminen Südafrikas schließen und den Arbeiter*innen und Bergbau-Regionen eine wirkliche Kompensation im Sinne einer „Just Transition“ bieten. Schließlich finanziert angeblich auch Deutschland solch eine Strategie, indem es sich einem 8,5 Mrd.-Dollar schweren Kreditfonds (zu Vorzugskonditionen, also unter Marktpreis) angeschlossen hat, der der Dekarbonisierung des halbstaatlichen südafrikanischen Energiekonzerns Eskom ermöglichen soll. Wie manch ein*e Zyniker*in hervorgehoben hat, plant Eskom allerdings, bis zu 44 Prozent dieser Mittel zur Finanzierung neuer Infrastruktur zu nutzen, die dem Import sogenannten „mosambikanischen Blut-Erdgases“ dienen soll, obwohl dies (aufgrund der vielen Lecks) Methanemissionen freisetzen würde, die über die nächsten 20 Jahre 85mal klimaschädlicher wären als das CO2 aus der Kohleverbrennung. 

Der wichtigste europäische Verbündete von Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, besuchte Ramaphosa vor einem Jahr, um ihn davon zu überzeugen, dass die Erdgasraffinerie von Total in Cabo Delgado durch die Entsendung tausender südafrikanischer (und ruandischer) Soldaten vor weiteren islamistischen Guerilla-Angriffe geschützt werden müsse. So wird die drittgrößte Erdgasraffinerie der Welt womöglich bald auch das Eskom-Netz beliefern. Doch die südafrikanische Climate Justice Charter Movement (Bewegung für eine Klimagerechtigkeitscharta) setzt sich nun für einen europäischen Rückzug aus dem Eskom-Deal ein, und die Nichtregierungsorganisationen groundWork und South Durban Community Environmental Alliance kämpfen derzeit vor Gericht gegen Pläne für ein 3 000 Megawatt starkes Erdgaskraftwerk in Richards Bay. 

Widersprüche bei Klimasanktionen

Mit ihren stark CO2-abhängigen Volkswirtschaften sind die BRICS-Staaten gegenüber einem weiteren Druckmittel sehr anfällig: Klimasanktionen. Die Sprache in der Erklärung von Johannesburg II des Blocks von 2023 (die erste wurde 2018 verabschiedet) veranschaulicht die anhaltende Unterordnung der BRICS unter die westlichen neoliberalen Institutionen, wie es auch in einem halben Dutzend Resolutionen zum Ausdruck kommt, die die Welthandelsorganisation, den IWF sowie das „Gemeinsame G20-Rahmenwerk für eine effektive und nachhaltige Schuldenbehandlung“ unterstützen.

Statt der Wirtschaftsmacht des Westens etwas entgegenzusetzen, setzen die BRICS  weiter auf eine Stabilisierung und Re-Legitimierung der „regelbasierten Ordnung“  – trotz des eklatanten Widerspruchs, dass diese Ideologie, der Washington Consensus, so viel Leid über viele einkommensschwache BRICS-Communities gebracht hat. 

In den letzten Monaten ist allerdings eine gewisse Zerrissenheit zwischen der neoliberalen Freihandelsfraktion der BRICS-Staaten einerseits und dem Westen andererseits zu beobachten gewesen, wenn es um harte Klimasanktionen auf Grundlage des CO2-Grenzausgleichsmechanismus (CABM – Carbon Border Adjustment Mechanism) geht. Diese Klimasanktionen werden als erstes in der Europäischen Union eingeführt , die ab 2026 Strafzölle auf Importe erheben will, deren Produktion mit einem hohen Treibhausgasausstoß verbunden ist. Laut der Erklärung von Johannesburg II wenden sich die BRICS „gegen Handelshemmnisse, auch gegen solche, die unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Klimawandel von bestimmten Industrieländern auferlegt werden, und bekräftigen unsere Entschlossenheit, die Koordinierung in diesen Fragen zu verbessern. Wir unterstreichen, dass Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und des Verlusts der biologischen Vielfalt WTO-konform sein müssen […] Wir äußern unsere Besorgnis über jede WTO-widrige diskriminierende Maßnahme, die den internationalen Handel verzerren, neue Handelshemmnisse riskieren und die Last der Bekämpfung des Klimawandels und des Verlusts der biologischen Vielfalt auf die BRICS-Mitglieder und die Entwicklungsländer abwälzen wird.“

In dieser Wortwahl offenbart sich eine bestimmte Variante der Leugnung des Klimawandels, denn extreme Verzerrungen bei Handel, Investitionen und Finanzen gab es ohnehin bereits, da das kapitalistische System unfähig ist, die Treibhausgasemissionen, Umweltverschmutzungen und Ressourcenerschöpfung in Preisberechnungen zu internalisieren. Angesichts der Bedrohung durch die Klimakatastrophe und den Ökozid, der sich die Welt gegenübersieht, insbesondere die BRICS+-Staaten, läuft der Wunsch, die bestehenden antiökologischen Verzerrungen beizubehalten, laut dem britischen Ökonomen Nick Stern auf „das größte Marktversagen, das die Welt je erlebt hat“, hinaus. 

Seit 2021 hat die herrschende Klasse Südafrikas wiederholt betont, dass die angekündigten westlichen Klimasanktionen auf energieintensive Exporte der einzige Grund für die Notwendigkeit einer Dekarbonisierung der Wirtschaft seien. Aufgrund des hohen Maßes an kohlebasierter Energie, die in den Exportprodukten des Landes stecken, wird von jenen Ländern, die auf höhere CO2-Steuern setzen, ein Strafzoll erhoben werden – bis zu 100 US-Dollar/Tonne im Vergleich zu 0,35 US-Dollar/Tonne in Südafrika – umso eine sogenannte Carbon Leakage (also die Verlagerung von CO2-Emissionen) zu verhindern. Solche Zölle könnten verheerende Auswirkungen für die gewerblichen „energieintensiven Verbrauchergruppen“ Südafrikas mit sich bringen – im Wesentlichen westliche multinationale Konzerne – die die Dekarbonisierung ablehnen, da sie in der Solar-, Wind- und Speicherenergie eine geringere Grundlastfähigkeit und einen größeren Kapitalaufwand sehen. 

Daraus entstehen bisweilen entscheidende Unterschiede in den materiellen Interessen der imperialen gegenüber den subimperialen Volkswirtschaften. Die grundlegenden materiellen Interessen stimmen jedoch insgesamt größtenteils überein, solange die BRICS weiterhin darauf setzen, eine substanziellere Rolle in der multilateralen Machtordnung zu spielen, nicht jedoch sie zu beenden (wie so viele jener, die BRICS als ihre Hoffnung haypen, gerne nahelegen). Bei fast allen Gelegenheiten, bei denen sich die hartnäckigeren Stimmen aus dem Süden für internationale Wirtschaftsgerechtigkeit stark machen, ist die Versuchung groß, ihre Rhetorik zu unterstützen (selbst wenn daraus keine Taten folgen), allerdings gehören Klimasanktionen gegen Mega-Emittenten in den BRICS+ nicht dazu.

China: antagonistische Kooperation und die Gefahr inter-imperialer Rivalität 

Samir Amin, Afrikas führender marxistischer Analytiker, veröffentlichte 2015 einen Essay im Monthly Review mit dem Titel „Contemporary Imperialism“ („Zeitgenössischer Imperialismus“), der die BRICS in folgender Metapher kontextualisierte: „Die anhaltende Offensive des Kollektivimperialismus der Triade USA-Europa-Japan gegen die Völker des globalen Südens basiert auf zwei Säulen: der ökonomischen Säule – dem Neoliberalismus, der der ganzen Welt als einzig mögliche Wirtschaftspolitik aufgezwungen wird; und der politischen Säule – der fortwährenden imperialistische Einmischung und Präventivkriege gegen alle, die sich widersetzen. Die Antwort der Länder des globalen Südens, wie der BRICS-Staaten, basiert allerdings bestenfalls auf einer Säule: Die imperialistische Geopolitik lehnen sie ab, doch akzeptieren sie den ökonomischen Neoliberalismus.“ in seiner Autobiographie merkte er an, dass gerade „Südafrika […] seine subimperialistische Rolle [seit 1994] besser denn je“ spiele. 

Amin hatte erkannt, dass die BRICS-Staaten – mit ihren unterschiedlichen Geschwindigkeiten – noch keine imperialistischen Staaten sind. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die USA mit ihren 800 Militärbasen und beinahe 900 Mrd. US-Dollar Militärausgaben pro Jahr keine ernsthafte militärische Konkurrenz fürchten müssen, auch wenn Russland mehr Atomwaffen besitzt. Sam Moyo und Paris Yeros hoben 2011 die unterschiedlichen und sehr vielfältigen materiellen Realitäten der BRICS-Staaten hervor: „Die Teilnahme an der westlichen Militärallianz variiert stark von Fall zu Fall, wenngleich in alledem gewissermaßen eine für den ‚Subimperialismus‘ typische ‚Schizophrenie’ mitschwingt.“ Zu den Beispielen militärischer Schizophrenie zählen: 

 

  • Lula in Brasilien (gefolgt von Dilma Roussef), der auf Geheiß der USA und Frankreichs 36.000 Soldaten nach Haiti entsandte, die dort ab 2004 ganze 13 Jahre lang lokalen Protest unterdrückten; 
  • Russlands Wunsch der NATO beizutreten, den Putin im Jahr 2000 US-Präsident Bill Clinton auch kundtat, sowie die wichtige Rolle der verbleibenden Wagner-Söldnertruppen bei der Plünderung afrikanischer natürlicher Rohstoffe in der Sahelregion und in Zentralafrika;
  • Indiens Mitgliedschaft in der „Quad-Gruppe“ (dem „Quadrilateralen Sicherheitsdialog“) mit den USA, Japan und Australien, als Militärbündnis gegen China; oder 
  • Südafrikas Entsendung von Truppen zum Schutz der Investitionen von TotalEnergies und ExxonMobil in die Förderung von „Blut-Erdgas“ im nördlichen Mosambik gegen einen islamistischen Aufstand im Jahr 2021, und zwar auf eine Weise, die an die Rolle erinnert, die dieselbe Armee – als Schutzpolizist für die Ressourcenausbeutung durch (westliche) Konzerne – bereits im Jahr 2013 in der Zentralafrikanischen Republik und anschließend in der östlichen Demokratischen Republik Kongo spielte. 


Und doch bleibt die antagonistische Kooperation über die verschiedenen Bereiche hinweg fließend, denn, wie Justin Podur vor kurzem im Black Agenda Report argumentierte, ist „jeder Subimperialist ein Sonderfall; im afrikanischen Kontext ist Südafrika als Subimperialist analysiert worden.“ Andererseits, so führt Podur aus, passen weder China noch Russland „in das Schema des Subimperialismus. Sie mögen jeweils in ihrer Region ein gewisses Maß an Hegemonie ausüben – oder diese herausfordern – doch tun sie dies nicht unter dem Schirm der US-Hegemonie.“ Dies mag stimmen, doch während die politischen Kräfteverhältnisse in Bewegung sind und verschiedene Krisen weiterhin einstige Wahrheiten ins Wanken bringen, ließe sich argumentieren, dass China viele subimperiale Tendenzen der „Super-Ausbeutung“ (in Form des Hukou-Systems der Arbeitsmigration), der Zusammenarbeit mit westlich dominierten, neoliberalen multilateralen Organisationen und der regionalen Expansion aufweist. Zudem verfügt die chinesische Wirtschaft nach wie vor über große Mengen an überakkumuliertem Kapital, das eine räumliche Fixierung sucht. 

Während also China, wie Vijay Prashad unterstreicht, heute keine ‚imperialistische’ Macht darstellt, zumindest anhand der meisten Maßstäbe, darunter auch die relative Kontrolle multilateraler Institutionen, signalisierte Xi im Jahr 2017 dennoch sehr nachdrücklich die Entschlossenheit seiner Regierung, den Staffelstab der kapitalistischen Expansion aufzunehmen. Beim Weltwirtschaftsforum war der neoliberale Barack Obama durch den protektionistisch-xenophoben Donald Trump ersetzt worden. Entgegen den Erwartungen wird die Sinophobie des Letzteren durch seinen Nachfolger Joe Biden noch übertroffen. Dieser ist fest entschlossen, China von den Kreisläufen des High-Tech Kapitals abzukoppeln. Das lässt erahnen,, wie sich das Verhältnis zwischen den USA und einem insgesamt verlässlichen subimperialen kapitalistisch-expansiven Partner in Peking sich in Richtung einer sehr viel ernsteren interimperialen Rivalität entwickeln könnte. Es gibt viele potenzielle Konfliktfelder, ganz besonders wenn Taiwan oder das Südchinesische Meer zum Austragungsort militärischer Rivalitäten werden sollten. Die USA haben eine ganze Reihe von Militärstützpunkten im Pazifikraum, die heute vor allem darauf ausgerichtet sind, die chinesischen Langzeitambitionen der wirtschaftlichen Dominanz des südostasiatischen Raums sowie die „Belt & Road Initiative“ in Schach zu halten, also zu verhindern, dass China ein neuer konkurrenzfähiger Hegemon wird.

BRICS von unten und die Perspektive eines öko-sozialistischen Anti-Imperialismus

Die anhaltende Teilnahme der BRICS an neuen globalen Handels-, Stellvertreter- oder tatsächlichen Kriegen hat die Wahrscheinlichkeit solcher Konflikte stark erhöht: 

 

  1. Der Prozess der Deglobalisierung (weniger Handel und geringeres BIP als zum Höhepunkt 2008) hat fast alle der BRICS+-Volkswirtschaften betroffen, nicht zuletzt aufgrund von Chinas entscheidender Rolle bei der globalen Überproduktionskrise des Kapitalismus; 
  2. Indien errichtet immer weitere protektionistische Barrieren gegen chinesische Investitionen und Handel, wobei es sich stark am Trump/Biden-Model orientiert; 
  3. Die New Development Bank der BRICS ist nach wie vor fest entschlossen, Finanzsanktionen gegen Russland aufrechtzuerhalten; und 
  4. Die BRICS+-Staaten versorgen nach wie vor die gefährlichsten Stellvertreter- und auch direkten Kriege in der Welt: Iran unterstützt Russland mit Killer-Drohnen; Südafrika verkauft Waffen an NATO-Länder und hat kürzlich AK47-Gewehre aus Russland gekauft, die von seinen Soldaten im Kampf gegen den Aufstand im nördlichen Mosambik eingesetzt werden; und Brasilien liefert Embraer-Kampfjets an die Wagner-Gruppe, und so weiter und so fort. 


Bereits jetzt verstärkt die Wirtschaftskraft der BRICS die schärfsten offensichtlichen ökonomischen Ungleichgewichte zwischen den reichen, den „middle-income“ und den armen Ländern in der Welt, vor allem angesichts Chinas Rolle in der globalen Arbeitsteilung, die sicherstellt, dass die neokoloniale Rohstoffausbeutung seiner Unternehmen in Afrika die Bürger*innen des Kontinents auch weiterhin unzureichend entschädigt und der Schaden für das Klima immer schlimmer wird. 

In Die offenen Adern Lateinamerikas beschreibt der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano wie sich die herrschenden Eliten Brasiliens und Argentiniens seit 1870 „in der Nutznießung der Überreste des besiegten Landes [Paraguay] ab[wechseln], sehen sich ihrerseits jedoch gleichzeitig dem Imperialismus der jeweils herrschenden Großmacht unterworfen. Paraguay ist damit gleichzeitig Opfer von Imperialismus und Subimperialismus.“   

Und dies trifft auf uns alle zu: Wie Galeano bemerkte, tritt der Subimperialismus auf tausenderlei Arten zutage. Der doppelzüngige Ansatz der BRICS – wenn mit den politischen und wirtschaftlichen Säulen des Imperialismus konfrontiert – wird nach wie vor viele verblüffen, die den Führer*innen der Subimperialisten Glauben schenken, wenn sie links blinken, und dann überrascht sind, wenn sie sehen, dass sie doch rechts abbiegen. 

Die einzige Hoffnung, die uns bleibt, ist die Ausweitung der lebendigen und kraftvollen sozialen Bewegungen, die in tausenden von Kämpfen innerhalb des BRICS-Kontexts und darüber hinaus in den letzten Jahren entstanden sind, darunter die Bewegungen der Landlosen in Brasilien, Antikriegsaktivist*innen in Russland, die vielfältigen zivilgesellschaftlichen „People’s Movements“ in Indien, hin zu Chinas zahlreichen Kämpfen für soziale Gerechtigkeit, neben den Demokratiebewegungen der Uigur*innen, Tibeter*innen und in Hong Kong, sowie die nach wie vor militanten südafrikanischen Arbeiter*innen, Slumbewohner*innen, Kämpfer*innen für öffentliche Gesundheit und Studierenden. 

Einige von ihnen konnte man bei den „BRICS von unten“ Protesten in Sandton und in der Innenstadt von Durban am 23. August erleben. Zu den Themen zählten die Ukraine-Solidarität, Menschenrechte, (es waren unter anderem Kaschmirer*innen und Muslim*innen aus Indien vor Ort), sowie insbesondere Klimaschutz und Anti-Extraktivismus. Das „Mining Affected Communities United in Action Network“, also das Aktionsnetzwerk der vom Bergbau betroffenen Kommunen, forderte beispielsweise, dass die BRICS „aus den imperialistischen, super-ausbeuterischen Modellen der Rohstoffförderung ausbrechen und die soziale und wirtschaftliche Umverteilung des Ressourcenreichtums im Rahmen einer Just Transition priorisieren“ sollten.“

Weitere Inspiration kam auch aus den BRICS+-Staaten: Argentiniens Anti-Schulden- und Anti-Gas-Aktivist*innen, ägyptische Menschenrechtsaktivist*innen und iranische Frauen. Und in der nächsten Erweiterungsrunde werden wir womöglich progressive tunesische Aktivist*innen erleben, die 2019 den arabischen Frühling neu entfachten, Boliviens radikale Indigenen- und Umweltschutzbewegungen, progressive Aktivist*innen aus Honduras, kasachische Antiautoritäre, deren Proteste Anfang 2022 mithilfe südafrikanischer Waffen brutal niedergeschlagen wurden, nigerianische Umweltaktivist*innen und soziale Bewegungen, palästinensische Aktivist*innen, die die Zugeständnisse der Fatah an die israelische Apartheid satt haben, senegalesische Demokrat*innen  und viele weitere… Sie alle eint die Sehnsucht nach einer Welt ohne Ausbeutung, Unterdrückung und planetaren Selbstmord. Auch die Gegner*innen imperialer und subimperialer Macht haben tausenderlei wütender Gesichter, und sie müssen nun die Stärke entwickeln, um diese Wut in praktisches Handeln zu übersetzen. 

Letztlich geht es um die eine zentrale Frage, die jene, die die Idee von „BRICS+ gegen den Westen“ befürworten, nicht zu stellen wagen: Ist das, was wir vom gegenwärtigen geopolitischen Nord-Ost-Süd-Konflikt erwarten können, nichts weiter als eine Reihe von aufstrebenden Mächten, die allesamt dieselben, ökozidal-kapitalistischen Regeln befolgen – nur eben mit anderen Mitteln und weniger Skrupeln, entlang des Pfades von Diktaturen? Die einzige wirkliche Alternative in einer solchen Zeit der drängenden und in der Tat katastrophalen Bedrohung des Lebens auf dem Planeten bietet eine ökosozialistische Strategie. Ein solcher Ansatz erleichtert auch die Erkenntnis, dass eine degenerierte BRICS+-Elite, die ihre Strategien von oben verordnet, durch BRICS-Bewegungen von unten in ihre Schranken gewiesen werden muss. 


Aus dem Englischen von Jan-Peter Herrmann


Dieser Beitrag ist Teil einer Debatte zu Internationalismus, zu der auch »Wie Internationalismus neu denken?« von Sandro Mezzadra und Brett Neilson sowie »Was heißt Antiimperialismus heute?« von David Salomon gehören.