Der Israel-Palästina-Konflikt ist eine Geschichte konkurrierender Nationalbewegungen und Befreiungsnationalismen um ein Land, mit dem sowohl Israelis als auch Palästinenser*innen eine lange Geschichte verbindet. Wenn der Zionismus heute als »Siedlerkolonialismus« charakterisiert wird, enthält dies zwar eine richtige Komponente, übergeht aber, dass die Region bereits vor drei Jahrtausenden die Heimat der Jüd*innen war und immer ein (kleiner) Teil von ihnen dort lebte. Die Mandats- und Kolonialmacht Großbritannien, die 1917 das Erbe der Herrschaft des Osmanischen Reiches antrat, war keineswegs durchgehend prozionistisch. Sie enthielt sich in der UNO-Vollversammlung im November 1947, während die UdSSR den entstehenden Staat Israel unterstützte.

Die Vielschichtigkeit des Konflikts wird in linken Debatten oft auf ein schematisches Schwarz-weiß-Bild verkürzt. Der Text versucht daher, verschiedene Dimensionen des Konflikts vor Ort sowie der hiesigen Debatte zu ›sortieren‹, um zumindest eine Suchbewegung in Richtung einer ›unteilbaren Solidarität‹ bei parteilicher Haltung erkennbar zu machen. Denn sicher ist: Das Spannungsfeld zwischen jüdischem Befreiungsnationalismus und der Vertreibung und Diskriminierung der Palästinenser*innen bestand von Anfang an. Freilich steht Israel mit diesen düsteren Begleiterscheinungen der Staatswerdung historisch keineswegs allein.

Kurze Phasen der Hoffnung auf eine Befriedung des Konflikts gab es 1977/78 nach dem historischen Besuch des ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat in Jerusalem und dem Abkommen von Camp David. Dafür wurde Sadat 1981 von islamistischen Militärangehörigen ermordet. Auch Jitzchak Rabin wurde für den zusammen mit Jassir Arafat verfolgten »Oslo-Prozess« 1995 ermordet. Sein Mörder aus der radikalen Siedlerbewegung ist inzwischen ein Idol der heute so starken israelischen Rechtsradikalen geworden.

Vor Ort: Kein Weg, keine Hoffnung, nirgends?

Die Gewalt hat seit dem 7. Oktober 2023 ein Ausmaß erreicht, das alle vorherigen Kriege, Terroranschläge und Besatzungsgewalt seit 1947/48 um ein Vielfaches übertrifft. Mehrere Zehntausend Nicht-Kombattant*innen sind im Gazastreifen getötet worden, die Ernährungs- und medizinische Lage ist katastrophal, nicht zuletzt durch die Blockaden humanitärer Hilfen durch Israel.

Auch für Israel stellen die weit über 1 200 unmittelbar am 7. Oktober 2023 oder später in Geiselhaft durch die Hamas und andere dschihadistische Gruppen Ermordeten die größte Gewalttat gegen Nicht-Kombattant*innen in der Geschichte des Staates dar. Das Massaker ging mit bestialischer Grausamkeit, darunter systematische Vergewaltigungen, einher. Es richtete sich nicht gegen rechtsradikale Siedler*innen im besetzten Westjordanland, sondern gegen säkulare Kibbuzimbewohner*innen, Festivalbesucher*innen und migrantische Arbeiter*innen in Israel selbst. Dieses Massaker ist ein traumatischer Schock für viele Jüd*innen weltweit, dessen Wirkung viele Linke offenbar schwer nachvollziehen können.

Der Fokus der rechtesten israelischen Regierung in der Geschichte lag bis zum 7. Oktober 2023 auf der Verdrängung der Palästinenser*innen aus dem Westjordanland und der Vorbereitung einer Annexion für ein »Groß-Israel«. Die Hamas schien Benjamin Netanjahu kontrollierbar zu sein. Das Hamas-Massaker führte zum israelischen Angriff auf den Gazastreifen, der im Laufe der Monate immer erbarmungsloser geführt wurde. Mehrere Waffenstillstandsabkommen blieben brüchig und scheiterten spätestens dann, wenn es um eine längerfristige Lösung ging. Ob Trumps »20-Punkte-Plan« über die erste Phase hinaus tragfähig sein wird, erscheint fraglich.

Eine Zwei-Staaten-Lösung, wie sie 1947 von der UNO-Vollversammlung beschlossen wurde und die Ziel des »Oslo-Prozesses« war, ist kaum noch vorstellbar und dennoch die beste Option. Die Anerkennung Palästinas als Staat nunmehr auch durch Großbritannien, Kanada, Australien und andere Staaten ist eine richtige Geste im Rahmen des Festhaltens an einer Zwei-Staaten-Lösung, auch wenn die materiellen Grundlagen durch den massiven israelischen Siedlungsausbau der letzten Jahrzehnte, die Schwächung der Palästinensischen Autonomiebehörde und die – wenn auch abgeschwächte – Macht der Hamas kaum mehr gegeben sind.

Doch die Alternativen sind schlechter: Eine Ein-Staaten-Lösung ist für die allermeisten Menschen in Israel wie Palästina ebenso unvermittelbar, wie sie nicht als demokratische Option vorstellbar ist. Sie könnte tatsächlich zu einem Apartheidsystem wie in Südafrika führen, was Israel auf seinem Staatsgebiet, vielen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz, nicht ist, während die Beschreibung auf die besetzten Gebiete faktisch zutrifft. Dies könnte mit einem Bürgerkrieg und massenhaften Vertreibungen der einen oder anderen Gruppe einhergehen. Insofern bleibt die Forderung nach einer Zwei-Staaten-Lösung richtig. Daran ändern auch weder die israelischen Kriegsverbrechen noch der Terror und die reaktionäre Herrschaft der Hamas prinzipiell etwas. Sollten nur Staaten ein Existenzrecht besitzen, die sowohl demokratisch als auch frei von kriegerischer und terroristischer Gewalt sind, wäre die Weltkarte sehr übersichtlich.

Zwischen notwendiger Solidarisierung, aufgeladener Symbolik und dunkelgrauen Grenzbereichen

Forderungen nach einem Stopp von Waffen­lieferungen an Israel entsprechen einer generellen Positionierung der Partei Die Linke und sind in sich stimmig. Gleiches gilt für eine Aussetzung der Verhandlungen über ein EU-Assoziierungsabkommen mit Israel sowie für Sanktionen gegen einzelne Rechtsradikale in Israel oder Produkte aus Siedlungen in den besetzten Gebieten: politisch richtig, wenngleich in der Wirkung begrenzt. Die Frage, wie Sanktionen wirkungsvoll und zielgerichtet eingesetzt werden können, beantworten – nicht nur – Linke selten befriedigend.

Auch die Forderung der Linken in Berlin-Mitte nach Einholung der israelischen Fahne am Roten Rathaus ist angesichts der Kriegsverbrechen im Gazastreifen als symbolische Geste durchaus begründet. Problematisch werden solche Forderungen dann, wenn der Eindruck entsteht, es gehe nicht nur um eine absolut notwendige Verurteilung der israelischen Regierungspolitik, sondern um eine tief verwurzelte existenzielle Kritik an Israel als Staat an sich.

»So richtig es ist, auch universalistische Schlussfolgerungen aus dem Nazismus und der Schoah zu ziehen, so können diese nicht die Spezifik der NS-Verfolgungspolitik übergehen, in der der im industriellen Massenmord gipfelnde Antisemitismus ein zentrales Element war.«

Ein Ausschluss Israels von internationalen Sportwettbewerben sowie vom European Song Contest hat dann eine gewisse Legitimation, wenn etwa der Ausschluss Russlands nach dem Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 als Vergleich herangezogen wird, auch wenn es formal gravierende Unterschiede gibt. In beiden Fällen gibt es überzeugende Gründe, diese Maßnahmen zu unterstützen, aber auch begründete Zweifel, sowohl wegen des überschaubaren praktischen Nutzens für die Menschen in der Ukraine und in Gaza als auch wegen der Frage, warum zahlreiche andere Länder nicht so sanktioniert werden.

Unabhängig davon, wie der Verfasser solche Forderungen persönlich bewertet, sind sie per se weder illegitim noch antisemitisch. Gleiches lässt sich kaum noch behaupten, wenn beispielsweise die Ausladung der Münchner Philharmoniker unter ihrem israelischen Chefdirigenten Lahav Shani vom Flanders Festival Ghent betrachtet wird: Shani habe sich nicht eindeutig genug von dem »genozidalen Regime« in Israel distanziert. Wenn die irische Autorin Sally Rooney – lange vor dem Oktober 2023 – untersagte, ihr damals aktuelles Buch in Israel erscheinen zu lassen, so ist das ihr gutes Recht. Warum Rooney aber offenbar kein Problem damit hatte, dass ihre Bücher in anderen Staaten erscheinen konnten, in denen Unterdrückung herrschte, bleibt erklärungsbedürftig. Außerhalb jeder Diskussion stehen Duldungen von einschüchternden und offen gewaltförmigen Aktionen, deren Zielscheibe keineswegs nur das Café Bajszel in Berlin-Neukölln ist. So wie bei islamistischen Anschlägen mit Recht immer wieder gemahnt wird, nicht Muslim*innen pauschal zu verdächtigen, sondern ihr Recht auf Frieden, Unversehrtheit und Religionsfreiheit zu verteidigen, gerade gegen antimuslimische Gewalttaten, so sollte es ebenfalls eine Selbstverständlichkeit sein, jüdisches Leben in Deutschland und Europa ohne jede Vorbedingung zu schützen. Der jüngste tödliche Anschlag auf eine Synagoge in Manchester am höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, hat die ständige Gefährdung jüdischen Lebens einmal mehr aufgezeigt.

Jüd*innen erleben seit dem Massaker der Hamas – und keineswegs erst seit der immer brutaleren israelischen Kriegführung in Gaza! – eine massive Zunahme von Anfeindungen in Deutschland und Europa, auch wenn diese teilweise »postkolonial« und antiimperialistisch verbrämt werden. In solchen Strömungen, aus deren Reihen etwa »Free Palestine from German Guilt«, »Free Germany from Zionism«, »Only Nazis support Israel« und »FCK ZIONZS« (mit Hamas-Dreieck) skandiert und gesprayt wird, finden sich eigentümliche Ähnlichkeiten zu völkisch-rechtsrevisionistischen Positionen, wenn es um den Stellenwert der Schoah in der deutschen Geschichte geht.

So wenig wie die Schoah etwa in Süd- oder Ostasien einen zentralen Platz im historisch-politischen Erinnern haben muss, so anders ist die Situation in Deutschland und Österreich. So richtig es ist,auch universalistische Schlussfolgerungen aus dem Nazismus und der Schoah zu ziehen, so können diese nicht die Spezifik der NS-Verfolgungspolitik übergehen, in der der im industriellen Massenmord gipfelnde Antisemitismus ein zentrales Element war. Ein Universalismus, der partikulare Erfahrungen und Schlussfolgerungen vorschnell aufzuheben versucht, wird scheitern und ist oftmals auch unglaubwürdig.

Gegen die globale Überdeutung des Gaza-Krieges

Die Lage der Menschen im Gazastreifen ist katastrophal, und dafür trägt in erster Linie die israelische Regierung die Verantwortung, was die Mitverantwortung der Hamas, die die Zivilbevölkerung durch die Art ihrer rücksichtslosen Kriegführung in eine Art Geiselhaft nimmt, nicht aufhebt. Die praktische Solidarität der arabischen Staaten und des Iran mit den Palästinenser*innen blieb über die Jahrzehnte hinweg allerdings sehr überschaubar. Willkommen war der Konflikt jedoch stets zur inneren Herrschaftsstabilisierung durch die kollektive Konstruktion eines äußeren Feindes.

Dass Menschen in Deutschland und Europa, die zahlreiche Angehörige im Gazastreifen verloren haben, voller Wut auf Israel sind, ist unvermeidbar. Das Problem beginnt jedoch dort, wo linke Unterstützer*innen, und um sie geht es hier, nicht um direkt betroffene Palästinenser*innen im Grenzbereich des Antisemitismus agieren, wo sie die Solidarisierung auf islamistische, autoritäre und terroristische Gruppen ausdehnen oder den Gaza-Krieg zu dem zentralen Konflikt der Welt überhöhen, zu der umfassenden Menschheitsfrage. Klimakrise, Fluchtbewegungen, enthemmter Kapitalismus, Neofaschismus, Antifeminismus und andere Gegenwartsübel werden darin grobschlächtig ein- und teilweise untergeordnet oder in den Hintergrund gedrängt.

So wie manche derjenigen, für die die Antisemitismus-Bekämpfung im Vordergrund steht, die Leiden der Palästinenser*innen ausklammern oder überall einen »strukturellen Antisemitismus« wittern, so übergehen diejenigen, die Palästina für das Gegenwartsproblem schlechthin halten, entweder andere Kriege, Unterdrückungen und Massenverbrechen, oder ordnen sie grobschlächtig auf einer fast manichäischen Gut-Böse-Achse ein, auf der dem vermeintlichen Westen der »globale Süden« entgegensteht. Doch die Lage im Sudan, wo sich die derzeit mit Abstand weltweit größte Fluchtkatastrophe abspielt und viele Kinder verhungert sind, die brutal geführten Kämpfe im Kongo, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, um nur drei Beispiele zu nennen, fügen sich nicht in eine solche dualistische Weltdeutung ein. Das gilt auch für viele blutige Ereignisse der letzten Jahrzehnte, so etwa für den Syrischen Bürgerkrieg nach 2011 ebenso für den Iran-Irak-Krieg (1980–1988), den Massenmord in Ruanda (1994) und in Kambodscha (1975–1979), für die afghanische Tragödie seit 1979, für Bosnien-Herzegowina (1992–1995).

Eine solche Überdeutung des Gaza-Krieges birgt die Gefahr, in Teilen der Linken autoritäre Züge anzunehmen. Wenn es einen Konflikt gibt, in dem sich scheinbar alles bündelt, bleibt Abwägung leicht auf der Strecke, droht möglicherweise sogar ein »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns«. In Zeiten rechts-autoritärer Schließung ein nicht zu unterschätzendes Problem. Dabei schmälert es nicht das entsetzliche Leiden der Palästinenser*innen, wenn darauf hingewiesen wird, dass der Gaza-Krieg nicht der einzige Konflikt ist, in dem es zu schweren Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen kommt, Genozid-Vorwürfe erhoben werden oder diktatorische Unterdrückung herrscht.

Kleine Schritte in der Hilflosigkeit

Auch wenn Linke in Deutschland kaum auf die Entwicklung in Israel und Palästina einwirken können und auch wenn die Bruchlinien in der Gesellschaft kaum überbrückbar erscheinen, so könnten doch kleine Schritte gegangen werden. Die Anerkennung von Dilemmata und Ambiguitäten würde dazugehören, ebenso die Unterscheidung zwischen dringend notwendigen Analysen und Rechtfertigungen: So ist es auf einer analytischen Ebene zwingend notwendig, Gründe für den Aufstieg und Machterhalt von Hamas, Hisbollah & Co. zu untersuchen. Dies analytisch nachzuvollziehen, darf jedoch nicht zu einer Sympathie mit dem reaktionären islamischen Fundamentalismus führen. Für die politische Bildungsarbeit sind geschützte Räume des Austausches, die leisen Tönen und Zweifeln Raum lassen, hilfreich. Sinnvoll könnte es sein, Distanzierungs- und Bekenntnisaufforderungen allseitig zu reduzieren und zuweilen ein diffuses Nebeneinander ebenso zu tolerieren wie Unschärfen und auch individuelles Schweigen. Das schließt ein zu akzeptieren, dass die subjektive Betroffenheit von Menschen über unermessliches Leid unterschiedlich ausfällt, keineswegs nur auf Israel und Palästina bezogen. Debatten um Meinungs-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit würden gewinnen, wenn sie über den Gegenstand – wirklichen wie vermeintlichen Antisemitismus – hinaus im objektiv schwierigen Spannungsfeld von Meinungsfreiheit und Diskriminierungsfreiheit geführt werden würden, mit Maßstäben, die für Antisemitismus, Rassismus und Sexismus konsistent anzulegen wären. Das würde eine Vorsicht im Umgang mit dem rechten Begriff der Cancel Culture einschließen.

Unbedingt notwendig sind Formen der Ermutigung der wenigen säkularen und demokratischen Kräfte in Israel und Palästina. Ausgerechnet Akteur*innen dieser kleinen Minderheit in Israel mit zu boykottieren, wie dies radikalere Teile der internationalen Palästina-Solidarität praktizieren (z. B. im Fall von »Breaking the Silence«), ist wenig hilfreich. Sie sind es, die die Opposition gegen die bei Weitem rechteste Regierung in der Geschichte Israels am Leben halten. Es gilt, jene Gruppen auf beiden Seiten zu stärken, die den Dialog suchen.

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