Im Spektrum der politischen Linken gibt es gegensätzliche Einstellungen zur Polizei. Während das autonome Spektrum häufig plakativ nur den Büttel eines autoritären Staates sieht, betrachtet das sozialdemokratische Spektrum die Polizei tendenziell ›nur‹ als öffentlichen Dienstleister, der die Regeln des demokratischen Rechtsstaates durchsetzt. Zudem richtet sich eine aktuelle Debatte gegen rassistische Tendenzen in der Polizei und die neu aufgedeckten rechten Netzwerke in den Sicherheitsapparaten. Hier wird massive Kritik nicht nur an polizeilichem Handeln, sondern auch an der Institution als solcher geübt.
So unterschiedlich die Positionen und ihre empirischen Grundlagen sind, es fällt auf, dass Rolle und Funktion der Polizei oft theoretisch unterbestimmt bleiben. Genau diese Reflexion ist jedoch notwendig, um die Realität der Polizei zu erfassen und den strategisch und politisch umkämpften Charakter der Institution wahrzunehmen. Der Alltagsverstand von Polizist*innen ist hier ein wichtiges Terrain der Auseinandersetzung – ein Terrain, in das ich aufgrund meiner Lehrtätigkeit mit angehenden Polizeibeamt*innen begrenzten Einblick habe. Nur wenn wir dieses Terrain in den Blick nehmen, können wir auch kritische Kräfte innerhalb des Polizeiapparates stärken, mit denen ein Bündnis denkbar wäre.
Zum umkämpften Charakter der Staatsapparate
Der moderne liberale Staat zeichnet sich durch ein Monopol an physischer Gewaltsamkeit aus. Dieses wird durch eine von der Gesellschaft getrennte, zentrale Zwangsgewalt ausgeübt. Im Unterschied zu früheren Herrschaftssystemen soll diese Gewalt erst dann gesellschaftlich intervenieren, wenn Grundlagen der Ordnung infrage gestellt werden. Die Polizei hat in diesem Modell gewissermaßen eine Doppelfunktion: Sie ist Garant bürgerlicher Grundrechte, kann aber auch als Instrument autoritärer Herrschaft fungieren. Wie Nicos Poulantzas gezeigt hat, ist der kapitalistische Staat das Ergebnis gesellschaftlicher Klassenauseinandersetzungen, die nicht unmittelbar vom Handeln der Akteure, sondern von Strukturen und daraus folgenden Zwängen abhängen. Staatliche Organe können nicht einfach zur Durchsetzung von Klasseninteressen eingesetzt werden, ohne mit anderen Klasseninteressen oder auch mit Eigeninteressen des Staatspersonals in Konflikt zu geraten. Praktiken des Staates sind das Ergebnis interner wie externer Auseinandersetzungen. Damit ist ›der Staat‹ kein rational handelndes Subjekt, sondern ein komplexes soziales Verhältnis bzw. eine materielle Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse (vgl. Poulantzas 2002). Staatliche Institutionen wie der Polizeiapparat besitzen eine eigene Materialität, widerständige Substanz oder relative Autonomie gegenüber der Gesellschaft. Dies bedeutet, dass sich gesellschaftliche Konflikte nur auf mittelbare Weise in den Apparaten wiederfinden.
Staatsapparate und ihr Personal entwickeln ein Interesse an sich selbst und an der Aufrechterhaltung ihrer Macht, was ihrer Loyalität zur herrschenden Politik theoretisch Grenzen setzt. Letztere bemüht sich, die Unterstützung des Staatspersonals zu gewinnen, und ist immer wieder mit Interessenskonflikten in den und zwischen den Apparaten konfrontiert. Von gesellschaftlichen Tendenzen ist das Personal des Staates nicht unbeeinflusst: Es soll staatliche Politik verteidigen und durchsetzen, ist aber potenziell auch selbst von dieser Politik betroffen. Dieser Widerspruch wird insbesondere in denjenigen Teilen der Polizei virulent, die im unmittelbaren Kontakt mit der Bevölkerung ›auf der Straße‹ sind, wo sich gesellschaftliche Konflikte gewaltsam verdichten und politische Entscheidungen sichtbar werden. Die Polizei muss sich hier gegenüber mindestens zwei Seiten rechtfertigen – den politischen Institutionen und der Öffentlichkeit – und ist daher besonders angreifbar.
Polizeiliche Binnenkulturen
Auch wenn sie als geschlossene Organisation auftritt, ist die Polizei von Widersprüchen durchzogen und hat sich im Laufe der Zeit verändert. So hat sich das Verständnis der Polizei als Dienstleister für die Bürger*innen, als »Bürgerpolizei« und nicht allein »Staatspolizei« in Westdeutschland erst nach und nach durchgesetzt. Gesellschaftliche Kämpfe und Forderungen haben Eingang in innerpolizeiliche Debatten gefunden, wenn auch oft spät und in der Wirkung verzögert.
Als Organisation hat die Polizei ihre eigene Kultur. Die Polizeisoziologie unterscheidet zwischen einer offiziellen Managementkultur und einer informellen polizeilichen Subkultur, die auf Alltagserfahrungen und deren Bewertungen beruht. In Anknüpfung an Rafael Behr (zuerst 2000, 195ff.) lassen sich einige Muster dieser Binnenkultur beschreiben: Dazu gehört die Vorstellung, als Polizei in gefährlichen Situationen stets richtig zu handeln, sowie die Überzeugung, dass interne Konflikte intern gelöst werden sollen. Diese Muster werden in der beruflichen Sozialisation früh eingeübt und sind schon in der Ausbildung Teil der kollektiven Erzählungen aus dem Apparat.
Die Denk- und Verhaltensmuster der Polizeibeamt*innen ›auf der Straße‹ sind wesentlich auf die berufliche Alltagsbewältigung und eingeübte Routinen bezogen. Polizeiarbeit ist auf ein zuverlässiges Personal angewiesen. Beamt*innen verstehen sich oft als ›Gefahrengemeinschaft‹, die unbedingte Loyalität verlangt. Die eigenen Kolleg*innen nicht zu verraten, ist der inoffizielle Kodex, der zumeist Priorität hat gegenüber Forderungen nach Aufklärung oder Selbstkritik. Die Polizei neigt dazu, einen Korpsgeist zu entwickeln, der den Einzelnen erheblichem Druck aussetzen kann, ›dichtzuhalten‹, wenn Fehler geschehen. Dennoch kann diese kollektive Kultur die gesellschaftlichen Widersprüche nicht vollständig fernhalten. Sowohl die herrschende Politik wie auch Polizeiführungen müssen sich damit auseinandersetzen, dass Beamt*innen eigene Ansprüche formulieren.
Es gibt typische diskursive Muster, die den Alltagsverstand der Beamt*innen prägen, und in die ich im Rahmen meiner Lehrtätigkeit und während Hospitationen einen Einblick gewinnen konnte. Als Apparat mit Autoritätsanspruch ist die Polizei naturgemäß skeptisch gegenüber allem, was ihre Handlungsmacht infrage stellt. Dazu gehören nicht nur Demonstrant*innen, sondern auch politische Maßnahmen wie etwa die Privatisierung staatlicher Aufgaben. Die Skepsis gegenüber der »Verbetriebswirtschaftlichung« des Polizeiapparats ist groß (vgl. Flörsheimer 2012). Zudem wird häufig der Wunsch nach familienfreundlicheren und gesundheitsverträglichen Arbeitsbedingungen formuliert und über Gehälter und Schutzausrüstung diskutiert. Zentrale Anliegen sind eine Akzeptanz des eigenen Handelns in der Öffentlichkeit sowie ein Schutz vor Mobbing oder Bedrohung.
In der öffentlichen Debatte positioniert sich die Institution Polizei schnell als Opfer und reagiert mit reflexhafter Abwehr von Kritik. Aktuelle Beispiele dafür sind Vorwürfe von Rechtsextremismus, Racial Profiling oder Polizeigewalt. Bereits eine wissenschaftliche Studie zu den Einstellungen von Polizeibeamt*innen wird als Generalverdacht gewertet. Die Phänomene als solche werden nicht geleugnet, jedoch ihre Dimensionen, Gründe und Ursachen.1 Das Eingestehen von Fehlern fällt Polizeifunktionären oft schwer, Kritik wird erst verzögert akzeptiert, wenn der öffentliche Druck stark ist. Dagegen wird häufig über die Ignoranz von Politik und Öffentlichkeit gegenüber der vermeintlich steigenden Kriminalität geklagt, die das zentrale Argument für die Selbstlegitimation ist.