Die programmatischen Vorräte scheinen aufgebraucht. Die Linke hat keinen glaubwürdigen und attraktiven Gegenentwurf für eine solidarische Gesellschaft. Gewerkschaften, soziale Bewegungen und linke Parteien können aber nicht auf eine Gesellschaftsutopie verzichten. Utopien sind die Kraftquellen politischen Handelns (Negt 2004). Jede Reformpolitik braucht einen Kompass. Dabei geht es nicht um graue Theorie oder abstrakte Gesellschaftsentwürfe. Gefordert ist eine Vision, wie eine gerechte Gesellschaft und ein gutes Leben in Zukunft aussehen können. Ausgangspunkt sollte das Streben der Beschäftigten nach gut bezahlter, sicherer, gesunder, planbarer, sozial abgesicherter und mitbestimmter Arbeit sein. Aber mindestens genauso wichtig ist der notwendige ökologische Umbau von Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft. Dieser sollte mit der Aussicht auf ein besseres Leben mit guter Ernährung, umweltfreundlicher Mobilität, lebenswerter Städte und sauberer Energie verknüpft werden. Profitgetriebene Unternehmen werden den sozial-ökologischen Wandel nicht zeitnah einleiten. Folglich muss wirtschaftliche Macht demokratisiert werden. Dies entspricht auch der Erwartung der Beschäftigten. Immer mehr Arbeitnehmer haben den Anspruch in gleichberechtigter Weise an betrieblichen Entscheidungen beteiligt zu werden. Demokratie kann und muss eine gesellschaftlich unverträgliche Machtverteilung korrigieren (Urban 2013). Das Ziel ist eine soziale Demokratie. Die Verbindung der sozial-ökologischen Frage mit der Demokratiefrage ist somit der Schlüssel für eine erfolgreiche Transformation. Hier können progressive Kräfte an die sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Debatten über Wirtschaftsdemokratie der 1920er-, 1950er- und 1960er-Jahre anknüpfen. Die damals von Fritz Naphtali, Rudolf Hilferding und Viktor Agartz ausgearbeiteten Konzepte sollten weiterentwickelt werden (Bispinck/Schulten/Raane 2008; Meine/Schumann/Urban 2011; Demirovic 2018, Wiethold 2019, Dörre 2019). Gewerkschaften und Sozialdemokraten haben lange dafür gestritten, dass die gesellschaftliche Macht über die Wirtschaft ausgeweitet wird. Gesellschaftliche Macht ist in diesem Zusammenhang mehr als die Macht des demokratischen Staates. Es geht um die Selbstorganisation der Bürger, Produzenten und Konsumenten. Diese sollen systematisch wirtschaftliche Entscheidungen und Eigentumsrechte beeinflussen (Urban 2013). Die Wirtschaft darf keine demokratiefreie Zone mehr sein. Wirtschaftsdemokratie ist ein Gesamtkonzept, das die Demokratisierung der betrieblichen, regionalen und gesamtwirtschaftlichen Ebene verbindet. Zunächst müssen Betriebe, Unternehmen und Verwaltungen stärker demokratisiert werden. Die real existierende Mitbestimmung des Rheinischen Kapitalismus 2.0 sollte erweitert und vertieft werden. Zwar hat die Mitbestimmung, so wie sie aktuell verfasst ist, große Defizite und institutionelle Grenzen.[2] Erschwerend hinzu kommt, dass ihre beschränkten Möglichkeiten in der Praxis nicht immer genutzt werden. Trotzdem prägt die Mitbestimmung die industriellen Beziehungen und bietet den Beschäftigten die Möglichkeit Unternehmenspolitik und Arbeitsprozesse zu gestalten. Insofern ist es sinnvoll, hier anzuknüpfen. Betriebs- und Personalräte sollten zukünftig in allen wichtigen wirtschaftlichen Fragen – Betriebsänderungen, Entlassungen, Arbeitszeit, Personalbemessung – mitentscheiden. Sie sollten dabei alle Beschäftigten, unabhängig von ihrem rechtlichen Status, vertreten können. Die betriebliche Mitbestimmung sollte künftig für alle Unternehmen – auch für Tendenzbetriebe und kirchliche Einrichtungen – gelten. Zudem sollte die Montanmitbestimmung zur Blaupause der Unternehmensmitbestimmung werden. So würde die Scheinparität in den Aufsichtsräten überwunden. Die Unternehmensmitbestimmung sollte auf alle Rechtsformen ausgeweitet und die Schwellenwerte gesenkt werden.[3] Die juristischen Schlupflöcher, die eine Umgehung der Mitbestimmung ermöglichen, müssen geschlossen werden. Der Mindestkatalog, der im Aufsichtsrat zustimmungspflichtigen Geschäfte, sollte erweitert werden. Bei Schließung oder Verlagerung von Unternehmensteilen und abhängigen Unternehmen sollte künftig eine Zweidrittelmehrheit erforderlich sein (VW-Gesetz). Darüber hinaus könnten andere zivilgesellschaftliche Akteure – zum Beispiel: Umwelt- und Verbraucherverbände – einen festen Sitz in den Aufsichtsräten der Unternehmen bekommen. Dort könnten sie die Unternehmenspolitik zugunsten der Umwelt und Verbraucher beeinflussen. Ein modernes Konzept von Wirtschaftsdemokratie geht aber über die traditionellen Vertretungsstrukturen hinaus. Wichtig ist die direkte demokratische Beteiligung der einzelnen Beschäftigten durch arbeitspolitische Debatten, Beschäftigtenbefragungen, etc. (Detje/Sauer 2018). Selbst eine erweiterte Mitbestimmung wäre aber weiterhin durch die Eigentumsverhältnisse beschränkt (Bierbaum 2018). Selbstbestimmte Arbeit und bedarfsorientierte Produktion sind mit Privateigentum und Renditeorientierung nur sehr schwer in Einklang zu bringen. Dieser Widerspruch könnte auch dadurch aufgelöst werden, dass die Beschäftigten direkt am Unternehmen beteiligt werden. Als Miteigentümer könnten sie die Unternehmenspolitik direkt beeinflussen, indem sie beispielsweise die Produktpalette ökologisch verträglich ausrichten. Wirtschaftsdemokratie ist aber mehr als die Demokratisierung der Arbeitswelt. Sie versucht auch die Entwicklung von Branchen und Regionen demokratisch zu steuern. Einzel- und gesamtwirtschaftliche Interessen fallen häufig auseinander. Auch in demokratisch kontrollierten Unternehmen kann es zu betrieblichen Bündnissen auf Kosten der Umwelt und Verbraucher kommen. Standortpolitik gerät dann in Konflikt mit einer nachhaltigen gesellschaftlichen Entwicklung. Deswegen sollten die betrieblichen und gesellschaftlichen Entscheidungen aufeinander abgestimmt werden. Dies kann nicht den anonymen Kräften des Marktes überlassen werden. Die Regional-, Struktur-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik muss den Unternehmen Ziele vorgeben und gesellschaftlich steuern. Wirtschafts- und Sozialräte, die auf Bundes-, Landes- und regionaler Ebene angesiedelt werden, könnten diese Aufgabe übernehmen. Die Räte würden sich aus Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden, Umwelt- und Sozialverbänden sowie Einzelpersonen rekrutieren (Wiethold 2019). Sie sollten ein gesetzliches Initiativ- und Informationsrecht haben, wissenschaftliche Untersuchungen in Auftrag geben können und Gesetzentwürfe begutachten. Wirtschaftsdemokratie setzt auf eine gemischte Wirtschaft (Mixed Economy). Der Rheinische Kapitalismus 2.0 ist bereits durch eine große Bandbreite an Eigentumsformen – Privateigentum, Unternehmensstiftungen, Genossenschaften, öffentliche Unternehmen, etc. – und ein umfangreiches staatliches Regelwerk gekennzeichnet. In vielen Wirtschaftsbereichen gibt es in unterschiedlicher Ausprägung sowohl Privateigentum, Markt und Wettbewerb, als auch staatliches Regeln, Planen und Entwickeln (ver.di 2015). Staat und Markt sind keine Gegensätze. Der Markt ist lediglich ein Instrument. Privateigentum und Märkte können schöpferisch wirken. Ein funktionierender Preismechanismus kann ein effizientes, dezentrales Steuerungs- und Informationssystem sein. Dort, wo Märkte, Wettbewerb und Privateigentum ihren Wohlfahrtszweck jedoch nicht oder nur mangelhaft erfüllen, sollten sie durch andere Eigentumsformen und Verfahren ersetzt werden. Wirtschaftsdemokratie will die Demokratiepotenziale der politischen Regulation mit den Effizienzpotenzialen des Marktes optimal kombinieren (Urban 2019). In einem modernen wirtschaftsdemokratischen Konzept sollte die gesellschaftliche Infrastruktur eine zentrale Rolle spielen. Dazu gehören der öffentliche Sektor und öffentliche Dienstleistungen (Beckmann 2018). Bildung, Betreuung, Gesundheit, Pflege, Wohnen und Mobilität sind keine Waren, sondern öffentliche Güter. Ihre Erbringung sollte gesellschaftlichen Zielen und Bedürfnissen folgen. Die entsprechenden Dienstleistungen sollten in einem öffentlichen und gemeinwirtschaftlichen Sektor durch öffentliche Unternehmen, Genossenschaften und Wohlfahrtsverbände erbracht werden. Auch viele ehemalige staatliche und natürliche Monopole – Telekommunikation, Energieversorgung, Rundfunk/Fernsehen, Nah- und Fernverkehr, Post, etc. sollten wieder stärker öffentlich gesteuert werden. In der digitalen Ökonomie können öffentliche digitale Infrastrukturen die Daten dem Zugriff privater Konzerne entziehen. Zudem könnten digitale Genossenschaften mit staatlicher Förderung solidarische Alternativen zur kommerziellen Sharing Economy – Uber, AirBnB, etc. – aufbauen. Ferner könnten öffentliche Investitionsfonds regionale und volkwirtschaftliche Investitionen steuern und kontrollieren.[4] Durch eine Beteiligung am Produktivkapital können die Fonds Investitionsströme nachhaltig lenken. Die Kapitalsammelstellen können als Sondervermögen der öffentlichen Hand, als öffentlich-rechtliche Aktiengesellschaften oder als Genossenschaften organisiert werden.[5] Klar ist aber auch: Öffentliche Unternehmen und Genossenschaften befinden sich immer in einem Spannungsfeld zwischen politischen Gemeinwohlanforderungen und betriebswirtschaftlichen Zwängen. Folglich löst die Eigentumsfrage nicht alle Probleme, sondern bedarf einer flankierenden Regulierung und demokratischen Kontrolle. Darüber hinaus umfasst Wirtschaftsdemokratie auch eine volkswirtschaftliche Steuerung und Rahmenplanung, welche versucht klassische Zielkonflikte (z.B. Wachstum vs. Ökologie, gesellschaftliche Produktion vs. private Aneignung) aufzulösen. Dazu gehört eine strikte Regulierung des Bankensektors sowie eine Förderung der Genossenschaftsbanken und Sparkassen. Die Beschäftigten und zivilgesellschaftlichen Akteure sollten an der Formulierung der allgemeinen Wirtschaftspolitik (Geld-, Finanz-, Steuer-, Strukturpolitik) beteiligt werden. Dies gilt für die Ziele und die zentralen Instrumente. Diese volkswirtschaftliche Steuerung und Planung kann natürlich nicht mehr allein im nationalstaatlichen Rahmen erfolgen. So erfordert der gemeinsame Währungsraum eine europäische Koordinierung der nationalen Finanz-, Steuer- und Lohnpolitiken. Folglich muss ein modernes wirtschaftsdemokratisches Konzept ein Mehr-Ebenen-Konzept – national, europäisch, international – sein. Wirtschaftsdemokratie zielt auf die demokratische politische Steuerung der Wirtschaft ab. Sie will die wirtschaftliche Entwicklung an gesellschaftlichen Zielen ausrichten. Daran sollen die Produzenten maßgeblich beteiligt werden. Insofern geht diese reale Utopie über den Kapitalismus hinaus und eröffnet eine Perspektive für eine demokratische, gerechte und lebenswerte Gesellschaft (Bierbaum 2018). Dieser Beitrag ist ein Auszug aus Dierk Hirschels aktuellem Buch Das Gift der Ungleichheit, das im Juni 2020 beim Verlag J.H.W. Dietz Nachf. erschienen ist.

Anmerkungen

[1]  Was heißt Sozialismus für Sie, Kevin Kühnert?, in: Zeit vom 1.5.2019. [2]  Die Mitbestimmung dringt kaum zum Kern unternehmerischer Entscheidungen vor. Abseits der Montanindustrie gibt es keine echte Parität in den Aufsichtsräten. Die klein- und mittelständischen Betriebe der Dienstleistungsökonomie sind mitbestimmungsfrei. [3]  Der DGB fordert einen Schwellenwert von 1 000 Beschäftigten für Unternehmen, die unter das Mitbestimmungsgesetz fallen, und einen Schwellenwert von 250 Beschäftigten, die unter das Drittelbeteiligungsgesetz fallen. [4]  In Schweden entwickelte der Gewerkschaftsökonom Meidner ein Konzept für Kapitalsammelstellen in Arbeitnehmerhand. Die Fonds sollten aus Unternehmensgewinnen gespeist werden. [5]  Die öffentliche Aktiengesellschaft könnte sich an kommunalen Unternehmen beteiligen. Sie würde ihr Eigenkapital vom Staat und durch die Ausgabe von Bürgeraktien beziehen.

Literatur

Beckmann  Beckmann, Martin, 2018: Mitbestimmung und Wirtschaftsdemokratie im Dienstleis­tungssektor, in: Demirovic, Alex: Wirtschaftsdemokratie neu denken, Müns­ter Bierbaum, Heinz, 2018: Wirtschaftsdemokratie - von der Mitbestimmung zur sozialis­tischen Transformation, in: Demirovic, Alex: Wirtschaftsdemokratie neu den­ken, Münster Bispinck, Reinhard/Schulten, Thorsten/Raane, Peter, 2008: Wirtschaftsdemokratie und expansive Wirtschaftspolitik. Zur Aktualität von Viktor Agartz, Hamburg Demirovic, Alex, 2018: Wirtschaftsdemokratie neu den­ken, Münster Detje, Richard/Sauer, Dieter, 2018: Wirtschaftsdemokratische Transformation. Der Ein­stieg »von unten«. In: Demirovic, Alex: Wirtschaftsdemokratie neu denken, Münster Dörre, Klaus/Schickart, Christine (Hg.), 2019: Neosozialismus, Solidarität, Demokra­tie und Ökologie vs. Kapitalismus, München Meine, Hartmut/Schumann, Michael/Urban, Hans-Jürgen (Hg.), 2011: Mehr Wirtschaftsdemokratie wagen, Hamburg Negt, Oskar, 2004: Wozu noch Gewerkschaften?, Göttingen Urban, Hans-Jürgen, 2013: Der Tiger und seine Dompteure. Gewerkschaften und Wohl­fahrtsstaat unter dem Druck der Finanzmärkte, Hamburg Ders., 2019: Gute Arbeit in der Transformation. Über eingreifende Politik im digitalisierten Kapitalismus, Hamburg Ver.di-Impulspapier der AG Wirtschaftsdemokratie, Berlin 1/2015 Wiethold, Franziska, 2019: Wirtschaftsdemokratie gegen den Strich gebürstet, in: SPW 5/2019