I.

Bodo Ramelow hat mit seinem Angebot an die CDU, auf eine erneute eigene Kandidatur in der jetzigen Zusammensetzung des Parlaments zu verzichten und eine »technische« Übergangsregierung unter der ehemaligen CDU-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht mit dem Ziel von baldigen Neuwahlen zu wählen, der CDU einen gesichtswahrenden Ausweg aus ihrer verfahrenen Lage angeboten. Dieser Schritt weist über Thüringen hinaus: Seitens der Linkspartei wird eine klare Trennlinie zwischen CDU und AfD gezogen und die Konstitution eines »demokratischen Lagers« gegen die AfD vorgeschlagen. Die Linkspartei nähme damit Abschied vom lang gehegten Feindbild des »neoliberalen Einheitsbreis«, in dem alle anderen Parteien zur Unkenntlichkeit verrührt sind, und begönne ihr Verhältnis zur CDU als einer demokratischen und legitimen Rechten, die ebenfalls im Gegensatz zu den antidemokratischen Kräften der AfD steht, neu zu bestimmen. Hauptanliegen ist es, konstruktive Wege aus einer parlamentarischen Patt-Situation zu finden und das parlamentarische Spielfeld nicht länger der AfD zu überlassen. Der 5. Februar, die Wahl von Kemmerich, war ein Riesenerfolg für die AfD – gerade auch weil Kemmerich das Amt absehbar nicht ausüben konnte. Die Zurückweisung dieses Wahlergebnisses aus den Parteizentralen »in Berlin« - und von der  Kanzlerin aus Südafrika - bot der AfD-Kommunikation neue Nahrung, Stichwort »Merkel-Diktatur«. Tatsächlich offenbarte die AfD ihre Missachtung ungeschriebener Gesetze, demokratischer Normen, die für das Funktionieren des Parlamentarismus unerlässlich sind. Es ist nicht verboten, einen Kandidaten nur aufzustellen, um ihn dann nicht zu wählen. Aber es fällt in die Kategorie des »So etwas tut man nicht«, weil damit jede Berechenbarkeit parlamentarischer Abläufe für alle anderen Fraktionen ad absurdum geführt wird. Die AfD hat einmal mehr ihr zerstörerisches Verhältnis zu demokratischen Institutionen unter Beweis gestellt. Es sollte eine allen anderen eine politische Lehre sein. Zu den ungeschrieben Gesetzen und Lehren aus der formal demokratischen Machtübernahme der NSDAP zählt aber auch, dass Parteien, auch wenn sie nicht offiziell als »verfassungswidrig« geführt und verboten werden, keinen Anspruch darauf haben, als Koalitionspartner betrachtet zu werden, wenn sie die grundlegenden demokratischen Werte des Grundgesetzes nicht respektieren. Diese Norm haben FDP und CDU missachtet, als sie billigend, womöglich wissentlich in Kauf nahmen, dass durch die geschlossene Stimmabgabe der AfD der eigene Kandidat eine Mehrheit bekommen (aber nicht regieren) könnte. Weil man nicht verhindern kann, von AfD-Abgeordneten ungewollte Zustimmung zu erhalten, darf man keine parlamentarischen Auseinandersetzungen führen und entscheiden wollen, die man absehbar nur mit Hilfe der AfD gewinnen kann. Mit ihrer trickreichen Zustimmung muss man rechnen, weil für sie das Anliegen, einen Sozialisten bzw. »versifften 68er« (Meuthen) von der Macht zu vertreiben, Lebenselixier ist. Daraus erwachsen zuweilen parlamentarische Nöte, die innerhalb des demokratischen Lagers wechselseitig anzuerkennen und zu beherzigen sind. Nur so lässt sich das weitere Verächtlichmachen der demokratischen Institution des Parlaments stoppen und umkehren. Die Förderung von demokratischem Umgang im Parlament und im Alltag, Demokratie als Lebensweise ist die Klammer des demokratischen Lagers, eine notwendige Klammer, um politischen Differenzen offen austragen zu können. Konstitutiv für ein solches Lager wäre daher als neue demokratiepolitische parlamentarische Norm, eine Minderheitsregierung, die innerhalb des demokratischen Lagers eine Mehrheit hat, nicht mit den Stimmen der AfD zu stürzen oder Mehrheiten gegen sie herzustellen. Soweit Eckpunkte eines demokratischen Lagers auf geduldigem Papier. In der politischen Realität agiert der Thüringer Landesverband der CDU.

II.

Die Thüringer CDU hat zwei Wahlniederlagen und den Verlust des Status der »Staatspartei«, des Garanten für politische Stabilität verloren. Aus ihren Reihen wurde immer wieder mit der AfD geliebäugelt, gar Sondierungsgespräche wurden erwogen. Der christlich-liberale Flügel verlor 2014 mit der Regierungsmacht auch an innerparteilichem Einfluss. Gleichzeitig stellte das Wahlergebnis die CDU vor die Wahl, Neues zu wagen:
  • mit der Linkspartei zu koalieren,
  • die Wahl einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung zu ermöglichen,
  • eine Regierung mit FDP und AfD zu bilden.
Tatsächlich waren all diese Varianten durch die Beschlusslage der Bundespartei, in keiner Weise mit »den politischen Rändern« zusammenzuarbeiten, verstellt. Aus dem Konrad-Adenauer-Haus wurden alle Bewegungen der Landespartei mit Hinweisen auf das, was alles nicht geht, kommentiert und die Auslegungsspielräume, was »Zusammenarbeit« bedeute, immer weiter eingeschränkt. Irgendein konstruktiver politischer Vorschlag, wie die Landes-CDU das offensichtliche politische Problem der gesamten Union lösen könnte, sollte, ist dem Publikum nicht bekannt gemacht worden. All das bestärkt eine Landespartei in der politischen Zwickmühle, allein gelassen nach eigenem Gusto handeln zu müssen. In dieser Situation entschloss sich die FDP, im dritten Wahlgang einen eigenen Kandidaten aufzustellen, und sei es nur um zu demonstrieren, dass die FDP-Fraktion jedenfalls nicht die Wahl Ramelows mit der einfachen Mehrheit der JA-Stimmen durch Enthaltung ermöglicht haben würde. Damit wurde der Druck auf die CDU erhöht: Wer würde nicht für einen »bürgerlichen Kandidaten« stimmen, sondern durch Enthaltung einem »Roten« zur Macht verhelfen? CDU und FDP war bewusst, dass auch die AfD für Kemmerich stimmen könnte. Einen Plan, wie sie eine Wahl Kemmerichs zum Erfolg führen könnten, hatten sie indes nicht. Im Zweifel, in der politischen Gefangenschaft der eigenen Parteitagsbeschlüsse besinnt man sich auf den Gründungskonsens der CDU: als Sammlungsbewegung gegen die »Roten« in den 1950er Jahren.  Diese Gründungsgeschichte lebte gerade in den ostdeutschen Landesverbänden Sachsen und Thüringen unter Kurt Biedenkopf und Bernhard Vogel wieder auf (weshalb von dort auch lange Zeit behauptet wurde, in den Freistaaten gebe es kein Problem mit Rechtsextremen.) Die Gründung der CDU nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war das Ergebnis von Bemühungen, die Zentrumspartei der Weimarer Republik zu einer interkonfessionellen, antimarxistischen Sammlung zu erweitern, um eine erneute Zersplitterung der bürgerlichen Kräfte zu verhindern. Daher stellte die Union eine primär bürgerliche Sammlungspartei recht verschiedenartiger politischer Orientierungen (politischer Katholizismus, [National-]Liberalismus, Deutschnationalismus) und sozialer Gruppierungen (katholischer Arbeiter, Mittelstand, Bourgeoisie, Vertriebene) dar. Ihr Charakter als christlich-konservative Integrationspartei war die ideale Voraussetzung dafür, daß sie die führende Kraft innerhalb des Bürgerblocks werden und ihre Hegemonie so weit ausbauen konnte, daß sie zum leitenden Architekten des autoritär-demokratischen, antikommunistischen, antisozialistischen und westintegrativen Systems der Bundesrepublik wurde. Seit dem Ende der fünfziger Jahre aber versagte sie zunehmend bei der Anpassung dieses Systems an die veränderten ökonomischen, sozialen und außenpolitischen Bedingungen.[1] Nicht Konservatismus, nicht konservative Politiken umsetzen, sondern die Machtzentralen: Kanzleramt, Staatskanzleien, Rathäuser; zu erobern und zu sichern, das ist Ziel, welches die CDU im Innersten zusammenhält. Das Konservative ist sekundär, im Wesentlichen besteht es darin, machtpolitisch unabweislich werdende Anpassungen an veränderte ökonomische, soziale und kulturelle Bedingungen auf ein Mindestmaß zu beschränken. Angela Merkel konnte mit einer Reihe konservativer Gewissheiten brechen und die CDU modernisieren, weil sie dadurch das Kanzleramt behauptete. Der Preis dafür war, dass rechts von der Union mit der AfD eine neue Partei sich etablierte und die bewährte politische Arithmetik der Regierungsbildung vollends durcheinander geriet. Deren Strategie besteht aktuell darin, mit den Verweisen auf eine mögliche »bürgerliche Mehrheit« Unruhe zu stiften innerhalb der CDU, in dem ihre antisozialistische Gründungsgeschichte aufgerufen wird. Dagegen setzt das Konrad-Adenauer-Haus auf die »Parteien der (demokratischen) Mitte«, mit denen zur Not auch Vier-Parteien-Koalitionen eingegangen werden können. So könnte sich die Union weiter als Partei, die für stabile Verhältnisse gegen die »politischen Ränder« rechts und links steht, inszenieren. Dumm nur, wenn diese vermeintliche »bürgerliche Mitte« wie in Thüringen keine Mehrheit bei den Wählerinnen und Wählern findet.

III.

Unter diesen Bedingungen bekommt die Trophäe, mit der sich die Thüringer CDU den 5.2. schön redet, nämlich einen »Roten« (mit eingepreister Hilfe der AfD) aus dem Amt gejagt zu haben, nicht nur einen schlechten Beigeschmack. Sie entfaltet ihr ganzes destruktives politisches Potenzial. Die CDU steht als Partei da,
  • die mit »Nazis« (Paul Ziemiak) im Zweifelsfall, zumindest wenn es gegen die »Roten« geht, bereit sein könnte, gemeinsame Sache zu machen;
  • die die politischen Folgen nicht bedenkt und daher politisch verantwortungslos handelt;
  • die ihren Nimbus, die für stabile Verhältnisse sorgen, verliert;
  • die, zumindest in Thüringen, den Wähler fürchtet und deren Mandatsträgern der Job als Abgeordnete wichtiger ist als »das Land«.
Die CDU - eine destruktive Kraft. Das ist der Kern der Krise der Union: Sie verfügt über keine Strategie des Machterhalts und Machterwerbs, die für die möglichen unterschiedlichen politischen Konstellationen nach Wahlen im neuen Mehrparteiensystem tauglich ist. Deshalb:  »Thüringen« ist ein politisches Ereignis, dass die Neuordnung des Parteiensystems in Deutschland enorm beschleunigen wird. Was in der Union geschieht, wirkt zurück auf alle anderen Parteien. Für die Union besteht großer zeitlicher Handlungsdruck. Denn im Frühjahr wird gewählt: In Sachsen-Anhalt, wo viele in der CDU aus der »Kenia«-Koalition raus wollen und mit der AfD liebäugeln, und in Baden-Württemberg, wo eine zur AfD offene CDU kaum Aussichten habe dürfte, die Grünen von Platz eins und aus der Staatskanzlei zu verdrängen, vielmehr eher dann mit einem »Bayern-Effekt«, einer weiteren Abwanderung von der CDU zu den Grünen zu rechnen hätte. Und was bedeuten ungeklärte strategische Fragen im Frühjahr 2021 mit Blick auf die entscheidende Wahl, die Bundestagswahl im Herbst 2021? Wären da nicht vorgezogene Neuwahlen vor oder parallel zu den Landtagswahlen im Frühjahr die bessere Option?

IV.

Die Union trägt die Auseinandersetzung um die strategische Ausrichtung zugleich mit der Neuwahl im Parteivorstand aus, also auch als Versuch, ein (neues) strategisches Zentrum zu installieren. Dabei verarbeitet sie auch politische Signale, die von und aus den anderen Parteien kommen. Denkbar sind aktuell drei Szenarien, Rahmungen:
  1. »Thüringen« wird (nicht nur, aber vor allem) im Konrad-Adenauer-Haus als politische Ausnahme betrachtet. In keinem anderen Bundesland verfügt die LINKE über einen Bodo Ramelow. In allen anderen Ländern und im Bund sind Regierungsmehrheiten ohne Linkspartei und AfD möglich. »Thüringen« wird den Thüringern überlassen. Die Autorität der Parteiführung erodiert weiter erodiert und andere Landesverbände fühlen sich zu eigenständigem Handeln ermutigt. Ein offener Zersetzungsprozess in der Union zeichnet sich, denn »Aussitzen« kann schnell Absetzbewegungen fördern. Die orientierungslose CDU wird immer bereiter, von einer charismatischen, autoritär agierenden Person übernommen zu werden (wie Sebastian Kurz die ÖVP übernommen hat oder D. Trump die Republikaner – wobei es hier erstmal um die Form, nicht um die jeweiligen politischen Inhalte geht).
  2. Schrittweise formiert sich ein „rechtes Lager“ aus Union, FDP und AfD bzw. mit Einschluss zumindest bestimmter Teile der AfD.[2] In diesem Szenario würde die Union zunächst versuchen, auf Abspaltungen von der AfD zu setzen und diese für »bürgerliche« Wähler wieder unwählbar zu machen, dafür aber in Kauf nehmen, dass sich ein linkes Lager reorganisiert. Eine Variante wäre, im Falle einer Aufhebung des Kontaktverbots nach links in einzelnen Landesverbänden auch den Kontakt zu AfD-Verbänden zu suchen, die nicht mehrheitlich zum Höcke-Lager rechnen.
  3. Die Formierung eines tripolaren politischen Systems beschleunigt sich, eines Parteiensystems mit einem linken, linksdemokratischen Lager, einem liberal-konservativen, rechtsdemokratischem Lager, die beide zusammen als demokratisches Lager dem dritten Pol der radikalen antidemokratischen, autoritär völkisch-nationalistischen Rechten entgegenstehen
Derzeit deutet einiges in Richtung dieses dritten Szenarios, zum Beispiel: Michael Kretschmer in Sachsen hatte mit einem Wahlkampf gegen die AfD Erfolg, behauptete gegen viele Befürchtungen den Platz als stärkste Partei und positionierte sich deutlich gegen die Wahl von Thomas Kemmerich usw. Deutlicher noch agiert Markus Söder auf dieser Linie. Beiden gemeinsam war, dass sie von der »Extremismus«-Theorie Abstand nahmen, einen qualitativen Unterschied zwischen AfD und LINKE machten und dann jeweils spezifische Gründe ins Feld führten, warum man mit beiden nicht zusammenarbeiten könne: die Linken würden demokratische Mehrheiten für eine andere Eigentumsordnung herbeiführen wollen, die AfD arbeite gegen dieses demokratische System selbst. Kern dieser Strategie ist es, den Wählern der AfD zu demonstrieren: Wenn ihr etwas verändern wollt, dann ist die Wahl der AfD die schlechteste Wahl, denn sie wird immer außen vor bleiben.

V.

Die linken und demokratischen Kräfte sollten sich zu den strategischen Debatten in der Union nicht als Zuschauer verhalten, sondern im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Entwicklung in Richtung des dritten Szenarios unterstützen. Es sollte klar sein, dass eine aktive Zusammenarbeit mit der AfD, bei der die AfD als notwendiger Mehrheitsbeschaffer fungiert und gesucht wird, also das Szenario 2, bei Grünen, SPD und Linken eine Zusammenarbeit mit der Union definitiv ausschließt.[3] Dabei spielt auch die historische Lehre eine Rolle, dass in der Zusammenarbeit von konservativen mit faschistischen Parteien die Konservativen immer den Steigbügelhalter abgaben und im weiteren Verlauf zerrieben wurden, und dort, wo sie sich klar abgrenzten, sie – zum Teil nach vorübergehenden Verlusten – stark blieben. Im strategischen Szenario eines tripolaren Parteiensystems verteidigt das demokratische Lager (und lebt im Verhältnis untereinander) die »Demokratie als Lebensform«, d.h. die grundgesetzlichen Normen des gesellschaftlichen Miteinanders, und der parlamentarischen demokratischen Verfahren, was deren Kritik, Weiterentwicklung usw. einschließt. »Demokratie als Lebensform« zielt auf einen demokratischen Alltag. Die gemeinsame Aufgabe dieses demokratischen Lagers besteht darin, die Ausbreitung dessen, was zum Beispiel Umberto Eco den »Urfaschismus«[4] genannt hat, einzudämmen und bereits entstandene faschistische politische Kräfte unter politische Quarantäne zu stellen und zurückzudrängen.[5] Aus linksdemokratischer Sicht geht es in diesem Szenario um zweierlei: um den kategorischen Imperativ, dass sich »Auschwitz« nicht wiederholen darf und den Schwur von Buchenwald;  und um die Verteidigung der demokratischen Republik als Arena, innerhalb der unterschiedliche Interessen und Gegensätze politisch ausgefochten werden können. Die Luft zum freien »demokratischen Atmen« ist in manchen Kommunen bereits jetzt vergiftet, spätestens seit »Thüringen« darf niemand mehr diese demokratische Luft für eine kostenlose Selbstverständlichkeit halten[6]. Das Szenario eines »demokratischen Lagers« hat Konsequenzen: Es braucht massive Investitionen in die Einübung in demokratische Kultur und Verfahren, in die »Erziehung von Demokraten«. Es braucht eine Dezentralisierung von politischer Macht in die Kommunen hinein, weil dort am ehesten die alltagsnahe Erfahrung von demokratischer Selbstwirksamkeit gemacht werden kann. Und es bedeutet für die Linke zu klären, wo aus ihrer Sicht die Grenzen einer demokratischen Rechten zu ziehen sind, mit der im Zweifelsfall auch zu kooperieren wäre, wie im Vorfeld der ostdeutschen Landtagswahlen bereits begonnen wurde zu diskutieren. Das Szenario des demokratischen Lagers ist für die CDU mit dem Risiko partieller Abspaltungen wert- und nationalkonservativer Kreise verbunden. Es dürfte aber gegenüber dem Szenario eines »rechten Lagers« unter Einschluss von Rechtsradikalen und Faschisten der AfD das überschaubarere Risiko sein

VI.

Die Union befindet sich gegenwärtig, am Ende der Merkel-Ära, in einer ähnlichen Krisenlage wie nach der Spendenaffäre am Ende der Ära Kohl. Mit der Wahl Angela Merkels zur Parteivorsitzenden wurde sie zunächst beruhigt, bevor sie  mit dem Leipziger Parteitag in eine ideologische Neuorientierung mündete. Als damit keine Mehrheiten zu gewinnen waren, verabschiedete sich die Union von ideologischen Abenteuern (nebst Bierdeckeln) und kehrte zu ihrem pragmatischen Stil der wohlkalkulierten Anpassungen und Modernisierungen zurück. Wenn man die damalige politische Lage mit der heutigen vergleicht, so haben sich vor allem die äußeren Faktoren, die auf die deutsche Parteienlandschaft insgesamt wirken, verändert. Von der Regierungspartei CDU, die sich als Garantin der bundesdeutschen politischen Stabilität sieht, werden nun andere Anpassungsleistungen verlangt als Anfang der 2000er Jahre. Damals veränderten SPD und Grüne recht radikal das Land und Merkel‘scher Pragmatismus erschien als willkommene Beruhigung. Heute dünkt vielen mit unterschiedlichen politischen Gründen die CDU-geführte Regierung als eine Regierung des Stillstandes und der zu kleinen Schritte, die womöglich die Zukunft des Landes verspielt, weil sie große Veränderungen scheut. Die veränderten »Umweltbedingungen« nationaler Politik unterminieren Gewissheiten, die insbesondere für die Politik der Union, aber nicht nur für sie, Grund und Boden waren:
  • Spätestens in den 1980er Jahren zerrissen Traditionslinien (dem Abtreten der Täter-Generation aus dem aktiven Berufsleben; in der Traditionspflege beginnend schon mit dem Apel-Erlass, dann die Rede des Bundespräsidenten von Weizsäcker zum 8. Mai 1985, die Wehrmachtausstellung) prägten einen neuen hegemonialen Blick auf die deutsche (Zeit-)Geschichte und schufen politische Reflexe demokratischer Normalität (»so etwas tut man nicht«), die nun in Erfurt mit der Annahme der Wahl durch Kemmerich außer Kraft gesetzt wurden; zu den Möglichkeitsbedingungen zählt auch der Übergang des NS von der Zeitgeschichte in die Geschichte mit einer Nachwende-Generation und dem Versterben der letzten Überlebenden;
  • die Westbindung, das Vertrauen, unter dem »amerikanischen Sicherheitsschirm« gut aufgehoben zu sein, zerbröckelt bereits seit der Obama-Regierung, deren Hinwendung zum pazifischen Raum und dem Einfordern eines höheren Militärbudgets der NATO-Länder; damit steht ein zentraler Gründungsmythos der Union, die »Westbindung« und die »atlantische Allianz«, in Frage; kaum vorstellbar, dass Angela Merkel noch einmal wie 2002 in die USA reisen würde, um von dort den Eintritt Deutschlands in den Irak-Krieg an der Seite der USA zu fordern;
  • die USA nahmen unter Trump demonstrativ Abschied vom Multilateralismus und der Kooperation in internationalen Institutionen, stattdessen begannen sie Handelskriege und Boykotte, die sich auch gegen die eigenen »Partner« richten; im Falle Deutschlands bedrohen Protektionismus, neuer Bilateralismus und Handelsboykotte offen das deutsche Wirtschaftsmodell, die Exportorientierung;
  • in der neuen globalen Weltordnung regionaler Akteure spielt Europa nur eine aktive Rolle, wenn es selbst als solcher Akteur auftritt. Angesichts des Zustandes, in dem sich die EU befindet, erfordert das gerade von der Union, sich von der Vorstellung zu verabschieden, dass »Europa« zwar eine »Herzensangelegenheit«, im Zweifel aber auf eine Wirtschaftsunion beschränkt bleiben müsse. Die Europäische Union ist nicht zuletzt durch deutsche Politik in der Staatsschuldenkrise renationalisiert und blockiert; ob das Projekt des Green New Deal diese Blockaden lösen kann, wird vor allem davon abhängen, ob Deutschland hier finanziell, aber auch in der Migrationspolitik „guten Willen“ zeigt und politisch und finanziell in Vorleistung geht. Die Union wird auf dem Feld der Wirtschaft, der Außenpolitik, der Sozialpolitik ihre bisherigen Selbstverständlichkeiten (z.B.: keine Transferunion!) revidieren müssen, um die EU wieder zu beleben.
  • Die qualitative Veränderung der natürlichen Umweltbedingungen menschlichen Handelns (Klimawandel) erfordert über kurz oder lang einen anderen Welt-Bezug (nicht nur) des verantwortlichen politischen Handelns und seiner Legitimierung, »XY first« führt in eine
Betroffen sind damit die Kernelemente dessen, was dem Konservatismus der Union Halt und Struktur gab. Hier neue Positionen und Deutungen zu entwickeln und die Partei zusammenzuhalten, wird schon schwer genug werden.

VII.

Der Kompass muss neu justiert werden, um zunächst die Partei stabil zu halten. Hinzukommen absehbar Umbrüche in der Produktions- und Lebensweise, die mit den bewährten Mustern politischen und staatlichen Handels schwerlich unter Kontrolle gehalten oder gar gestaltet werden können:
  • Die Gleichzeitigkeit von profitorientiert getriebener technologischer Umwälzung der Produktions- und Lebensweise (»Digitalisierung«) und ihrer klimapolitisch erforderliche Dekarbonisierung ist und wird verbunden sein mit enormen sozialstrukturellen Auswirkungen, Aufwertungen und verstärkten Deklassierungs-Erwartungen und -Erfahrungen. Die Handlungskapazitäten des demokratischen, liberalen Staates erscheinen bereits gegenwärtig im Alltagsbewusstsein oftmals begrenzt, langsam, überbürokratisch, durch vielfältige Beteiligungs- und Abwägungsrechte blockiert.
  • Die tiefgreifenden Umwälzungen in der Produktions- und Lebensweise, die demografischen Entwicklungen (Alterung, Binnenmigration »Stadt-Land«) und die globalen Migrationsbewegungen werfen grundsätzliche Fragen nach der Sicherung des Wohlstandes (Was will die Gesellschaft unter Wohlstand verstehen?), der Finanzierung sozialstaatlicher Leistungen (z.B. weiterhin Versicherung des Lohnes?, eine neue »Maschinensteuer«? usw.) und den Grundsätzen ihrer Verteilung (gesellschaftlich anerkannte Bedarfe, gleichwertige Lebensbedingungen usw.) auf, die schwerlich in den herkömmlichen Bahnen befriedigend beantwortet werden können.
  • Anders als nach 1945 verfügt die Union (aber auch die anderen Parteien) über kein soziales Projekt des kollektiven Aufstieges (wie »Wohlstand für alle« oder »sozialer Aufstieg durch Bildung« bei der SPD). Die den ehemaligen DDR-Bürgern versprochenen »blühenden Landschaften« wurden rasch in ihrer Doppelbödigkeit durchschaut. Festgesetzt hat sich indessen in weiten Teilen der Gesellschaft das Bild, dass es in den Veränderungen der letzten 30 Jahre Verlierer und Gewinner gegeben hat und dass es auch zukünftig so sein wird. Jeder muss darauf achten, nicht auf die Verlierer-Seite zu geraten; diese Gesellschaft hat nicht mehr für alle einen respektablen Platz - so entsteht permanent der Rohstoff für faschistoide Mobilisierungen.
Hierbei handelt es sich nicht einfach um einzelne politische Problemfelder, sondern um grundlegende  Bausteine in der Politik der Union, aber auch in je spezifischer Ausformung in der Politik anderen Parteien. Es geht dabei darum, wie ein neuer herrschender sozialer Block aus Kapital, Arbeit und Ministerialbürokratie nach der »Autoindustrie« (hier als Synonym) zusammengesetzt sein könnte. Dass auf bewährte Muster kein Verlass mehr ist, betrifft das gesamte Parteiensystem, aber die Dynamik entwickelt sich gegenwärtig im Feld der Union. Eine Re-Ideologisierung, eine Rückkehr zu vermeintlich konservativen und christlichen Werten scheint ausgeschlossen, weil reaktionäre Politik in der AfD bereits ein zu Hause gefunden hat. In ihrem gespaltenen Verhältnis zur Seenotrettung hat die Union bewiesen, dass christliche Werte ebenfalls nicht ihr praktisches Handeln leiten können. Die Union befindet sich in einem ähnlichen Erosionsprozess wie zuvor die SPD: Was gestern noch wirkte, verpufft heute. Sie hat nicht nur keine verbindende Idee für die Entwicklung des Landes, sondern mehr noch ist offen, was heute eigentlich konservative Politik wäre. Teile der Union werden darüber zu AfD-affinen Reaktionären.

VIII.

Wenn die These zutrifft, dass die Union mit den ihr zur Verfügung stehenden ideologischen und politischen Mitteln und Mustern, wohl kaum einen Weg finden kann, der die Partei zusammenhält und gleichzeitig das Kanzleramt verteidigt, dann wird sie sich am Ende für die Wege und Mittel entscheiden, die ins Kanzleramt führen, für die Generierung politischer Macht statt Gesinnung - ohne sich allerdings noch auf die Wirkmächtigkeit einer pragmatischen Politik der kleinen Schritte verlassen zu können. Die Rolle, die seit der Ankündigung von Merkels Rückzug alte neue Hoffnungsträger wie Friedrich Merz ausfüllen, lässt erahnen, dass auch die Union nicht davor gefeit ist, sich in ihrer konzeptionellen und strategischen Not einer autoritär agierenden politischen Persönlichkeit zu unterwerfen, die zunächst die Macht sichert und dann die großen Blockaden autoritär, im Stile eines »illiberalen Demokraten« durchbricht. Im ersten Szenario wäre diese Person stark genug, dass sich alle anderen Akteure zu ihr verhalten müssten. Insofern kann ein »failed state Thuringia« auch zu einer politische Geburtswehe werden. Zumindest sind die Sicherungen, die man im deutschen Parteiensystem und hier entscheidend: in der Union fest verankert glaubte, dabei aus der Fassung zu geraten.

IX.

Um das Kanzleramt zu behaupten, ist Thüringen von untergeordneter Bedeutung. Wichtig sind aus CDU-Sicht Bundesländer wie Baden-Württemberg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, auch Niedersachsen. Deshalb dürften strategische Weichenstellungen stark an dem orientiert sein, was guten Wahlergebnissen in diesen Ländern zuträglich ist. Die größte Konkurrentin der Union sind hier die Grünen als Partei eines neuen aufsteigenden Bildungs- und Besitzbürgertums, welches vom alten Bürgertum als Konkurrenz um Macht und Einfluss in der Gesellschaft betrachtet wird. Gleichzeitig sind die Grünen so etwas wie die naheliegende, natürliche Partnerin für eine Koalitionsregierung, die mit dem Anspruch aufritt, das Land voranzubringen. (Es wäre die Konstellation, die die von Larry Fink (Blackrock) seit mehr als einem Jahr geforderte Wende zur Nachhaltigkeit in den Unternehmensstrategien am ehesten politisch begleiten könnte.) Daher kommt es für die Union darauf, stärker als die Grünen zu bleiben, ihnen aber eine Koalition nicht unmöglich zu machen. Jede Kommunikationslinie, die auf ein »bürgerliches« Lager oder eine »bürgerliche Mitte« fokussiert, die die Grünen nicht einschließt, läuft fehl, weil sie mit der Reanimation des alten Klassenkampfbegriffs vom »Bürger-Bourgeois«, der sich gegen den Ansturm der Nicht-Bürger, der Arbeiter zusammenschließt, einen wachsenden Teil des neuen Besitz- und Bildungsbürgertums demonstrativ ausschließt[7]. Und immerhin sind es die Grünen, die bislang halbwegs glaubhaft den Anschein erwecken, in Form und Inhalt eine Idee zu haben, wohin es wie gehen könnte mit der bundesdeutschen Gesellschaft in Europa. Die bayerische Landtagswahl hat die CSU Fürchten gelehrt, dass eine Öffnung nach rechts niemanden zur CSU zurückholt, aber viele zu den Grünen vertreiben kann. Auch der politische Kerngedanke, rechts von der Union keine Partei groß werden zu lassen, wurde damit als der neuen politischen Wirklichkeit fremd ad acta gelegt. Allerdings befindet sich die CSU in der komfortablen Situation, keine Strategie formulieren zu müssen, die in West und Ost Mehrheiten unter Führung der Union möglich macht. Wenn somit ökonomische und politische Erwägungen nahelegen, dass das Szenario eines demokratischen Lagers die größte Wahrscheinlichkeit hat, so bleibt doch: Mit wenigen Ausnahmen wurde allgemein erwartet, dass Bodo Ramelow im dritten Wahlgang gewählt würde, weil sich doch einige CDU-Abgeordnete enthalten oder nicht an der Abstimmung teilnehmen und so den eleganten Ausweg aus der Zwickmühle wählen würden: Zulassen, dass ein Linker wieder Ministerpräsident wird, und dann, wenn  die voraussichtlich begrenzte Aufregung gelegt hat, die Legislaturperiode nutzen für einen neuen Anlauf auf die Staatskanzlei. Seit dem 5.2. muss in Rechnung gestellt werden, dass das Unerwartete doch eintritt. Deshalb sollte auch ein Zerfall der »Volkspartei« CDU bei strategischen Szenarien nicht ausgeschlossen werden.

Anmerkungen

[1]       Joachim Raschke (Hg.): Die politischen Parteien in Westeuropa. Geschichte – Programm – Praxis, Reinbek bei Hamburg 1978, 77. [2]       Deren Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen, man kann noch nicht sagen, was die vehemente Reaktion aus Politik, Gesellschaft und Medien auf die Desavouierung parlamentarischer Gepflogenheiten innerparteilich für die AfD für Folgen hat. Mit der Dresdner »Umsturz«-Rede auf der 200. Pegida-Zusammenkunft am 17.2. dürfte B. Höcke die Phase der Selbstverharmlosung für sich beendet haben. [3]       In Hamburg ist die CDU unter Ole van Beust eine Koalition mit der Schill-Partei eingegangen, um das Rathaus zu erobern. Die CDU ging darauf gestärkt und die Schill-Partei gerupft hervor. Anders als die AfD war die Schill-Partei ein Ein-Personen-Unternehmen und lokal begrenzt und barg keine faschistische Bewegung. [4]       Arno Widmann fasst den Umberto Ecos Gedanken wie folgt zusammen: »Der Urfaschismus kreiert Eindringlinge. Gegen die baut eine Horde auf, die beherrscht wird von der Vorstellung,  von den Eindringlingen umkreist, ja lebensbedrohlich angegriffen zu werden. Sie wird erzogen in dem Bewusstsein, dass jedes Mittel recht ist im Kampf gegen diese Anderen. Leben ist, so sehen das die Faschisten aller Spielarten, Krieg. Es geht stets um die Vernichtung des Feindes. Es geht um den Endsieg und die Errichtung einer neuen Weltordnung der Erwählten. Da darf es keinen Kompromiss, keinen Mittelweg geben.« (Berliner Zeitung, 8.8.2020, 8 – Umberto Eco: Der ewige Faschismus, Hanser-Verlag) Jede populistische Bewegung, die Wut, Hass und Ressentiment bedient, in den Mittelpunkt ihrer Bewegungsdynamik stellt, steht in Gefahr, in dieses faschistische Muster »abzugleiten«. [5]       »Faschismus« ist nicht gleich Nationalsozialismus, sondern erscheint historisch z.B. auch in Gestalt der Franco- und Salazar-Diktatur. [6]       In manchen (ostdeutschen) Kommunen wird man diese Feststellung mit einem „na endlich ist es angekommen“ quittieren... [7]       Der Begriff »bürgerliche Parteien«, Lager usw. erscheint ohnehin als aus der Welt gefallen. Das notwendig mitzudenkende Gegenstück, das proletarische Lager, existiert nicht mehr, seit dem sich CDU und SPD als »Volksparteien« definierten. Der »Volkspartei« ist, kann nicht länger »bürgerliche« Partei sei. Sozial hat der Begriff »Bürger« seinen ursprünglichen Inhalt: Besitzklassen; verloren, seitdem auch Lohnabhängige zu (kleinem) Besitz und Bildung kommen können,  zu »Kleinbürgern« werden konnten. Und demokratiepolitisch grenzt er einen großen Teil der Bevölkerung aus dem Kreis der Staats-Bürger, Citoyen, aus.