Die Ebenen der Debatte

Die wichtige Debatte um den Euroausstieg wird jedoch in verengter Form geführt: Nämlich in der Gestalt eines Pro/Contra Euroausstieg. Das ist nicht überraschend, aber eine politisch-strategische Debatte ist das noch nicht. Eine solche sollte m.E. nicht zwischen Verfechtern eines Ausstiegs und dessen standpunktlosen Kritikern geführt werden, sondern zwischen verschiedenen politisch-ökonomischen Szenarien, schließlich läuft faktisch auch die Ablehnung des Ausstiegs auf die positive Wahl einer bestimmten Handlungsoption hinaus.

Sachlich müssten in der Diskussion wenigstens die folgenden drei Ebenen berücksichtigt werden, und zwar für jedes Szenario:

  • die im engeren Sinne ökonomische und soziale Kosten-Nutzen-Bilanz der verschiedenen Optionen, wobei klar sein sollte, dass es nicht um nationale oder nach Ländern aufgestellte Kosten-Nutzen-Rechnungen geht, sondern um die Interessen der Subalternen und ihrer Organisationen;
  • die vorhandenen Akteure, Kräfteverhältnisse und Bündnismöglichkeiten und was sie für die Durchsetzungschancen der verschiedenen Optionen bedeuten. Hierhin gehört auch die Frage, inwiefern man das Risiko unerwünschter aber absehbarer politischer Nebenfolgen eingeht, was ja insbesondere den Ausstiegsverfechtern zum Vorwurf gemacht wird (Stärkung der Rechten bzw. Angleichung an sie);
  • die Selektivitäten, d.h. die Bedingungen und Erfolgschancen, die verschiedene institutionelle Handlungsebenen (vor allem die nationalstaatliche und die europäische) unterschiedlichen Akteuren, Interessen und Strategien bieten. Hier gibt es m.E. deutliche Unterschiede, die in der bisherigen Debatte nur am Rande gewürdigt wurden, für die Strategiewahl aber vielleicht wichtiger sind als die sich mitunter rapide ändernden Kräfteverhältnisse und Akteurskonstellationen.

Die strukturelle Selektivität des europäischen Mehrebenensystems im Vergleich zu der des Nationalstaats

Der dritten Ebene wurde bislang wenig Beachtung geschenkt. Die Chance, auf nationaler Ebene einen Bruch mit dem derzeit dominanten Modus des europäischen Krisenmanagements zu erzielen ist zwar angesichts aktueller Kräfteverhältnisse schlecht, aber immer noch deutlich besser als auf EU-Ebene. Dort setzen jedoch all jene Konzepte an, die auf eine sozialpolitische Flankierung bzw. Einhegung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) setzen, durch die Schaffung transferstaatlicher Elemente, gemeinsamer Anleihen, einer europäischen Bankenunion etc. Die neoliberale Tendenz ist tief in das europäische Mehrebenensystem eingeschrieben: angefangen bei den Verträgen, auf denen die EU beruht, über ihre einzelnen Organe und Institutionen bis zur scalar politics, also der selektiven Verlagerung bestimmter Politikfelder und Kompetenzen auf die europäische Ebene, während andere auf nationaler Ebene verbleiben. Exemplarisch hierfür ist die Kombination von europäischer Geldpolitik und fragmentierter, wenn auch an Auflagen gebundener Fiskalpolitik, wie sie im Zusammenwirken von Gemeinschaftswährung einerseits und den im Stabilitäts- und Wachstumspakt festgeschriebenen fiskalpolitischen Vorgaben andererseits entstanden ist. Die im Zuge der Eurokrise eingeführten Neuerungen wie Fiskalpakt oder die Schaffung von Kontrollbefugnissen für die Europäische Kommission stehen ganz im Sinne der neoliberalen Grundrichtung, radikalisieren sie aber beträchtlich. Die aktuellen Politiken können also als eine Flankierung der Asymmetrien der WWU betrachtet werden – aber eben keine Flankierung, die deren Härten ausgleicht, sondern sie im Gegenteil verschärft.

Im europäischen Mehrebenensystem sind die repäsentativ-demokratischen Institutionen trotz der jüngsten Aufwertung des Europaparlaments sehr schwach im Vergleich zu nationalen Parlamenten, während die häufig als europäische Exekutive bezeichnete Kommission vergleichsweise stark ist. Hinzu kommt, dass letztere im Unterschied zu nationalen Regierungen de iure und de facto nicht irgendeinem Allgemeinwohlbegriff verpflichtet, sondern ‚Hüterin der Verträge‘ ist – daher auch ihre neoliberale Grundorientierung, die u.a in der stets vorangetriebenen Ausweitung des Binnenmarktes durch negative Integration (Abbau von Schranken) zum Ausdruck kommt. Oppositionelle oder populare Interessen vertretende Organisationen wie etwa Gewerkschaften sind auf europäischer Ebene traditionell wenig präsent und noch weniger schlagkräftig – teils auch aufgrund eigenen Unvermögens –, während kapitalistische Think Tanks und Lobbyorganisationen wohlorganisiert und extrem einflussreich sind, etwa in Gestalt des European Round Table of Industrialists, der Arbeitgeberorganisation Business Europe oder vieler branchenspezifischer Lobbyorganisationen. Bleibt schließlich noch der Europäische Gerichtshof, aber auch der hat sich in der Vergangenheit vor allem durch Urteile ausgezeichnet, die den neoliberalen Integrationsprozess weiter vorantrieben.

Im europäischen Mehrebenensystem sind außerdem die Mitgliedstaaten und intergouvernementalen Institutionen von Bedeutung. Wichtige Entscheidungen und Weichenstellungen bedürfen hier allerdings des Konsenses oder einer großen Mehrheit der Mitgliedstaaten; dass ein linkes bzw. soziales Projekt für Europa eine Mehrheit der Regierungen hinter sich versammeln könnte, ist derzeit reichlich unwahrscheinlich.

Im Ergebnis bedeutet das, dass die Chance, im europäischen Mehrebenensystem einen Bruch mit dem neoliberalen Integrationspfad und der dominanten Form des Krisenmanagements herbeizuführen – also die Notbremse zu ziehen und Handlungspielräume zurückzugewinnen –, in etwa so groß sind, wie die Überlebenschancen eines Schneeballs in der Hölle. Der EU fehlt jene Geschichte und institutionelle Materialität, die aus den Nationalstaaten Europas eine Verdichtung von Kräfteverhältnissen gemacht haben. Die Funktion der europäischen Ebene besteht zum Teil darin, die Auseinandersetzung mit vom neoliberalen Standpunkt ungünstigen nationalen Kräftekonstellationen zu vermeiden und Regierungen gegenüber ihren Gesellschaften freie Hand zu geben. So konnten, um nur ein Beispiel zu geben, italienische Regierungen in den 1980er Jahren die bis heute modische Orientierung am Ziel der Preisstabilität durch Verweis auf die Notwendigkeiten der europäischen Integration gegen starke Gewerkschaften besser durchsetzen. Kurz gesagt: die europäischen Institutionen sind selbst für bescheidene Korrekturen am neoliberalen Integrationsprozess regelrecht vernagelt. Unabhängig von der Frage des ökonomischen Für und Wider scheitert ein Projekt der solidarischen und demokratischen Reform der europäischen Institutionen bereits an ihrer strukturellen Selektivität, dem spezifischen Widerstand, den das europäische Mehrebenensystem dem Einfluss linker, gewerkschaftlichen oder sozialen Bewegungen entstammender Akteure und Interessen entgegensetzt.

Jetzt sieht es auf der Ebene der Nationalstaaten freilich auch nicht rosig aus. Die bislang einzige ernsthafte Infragestellung des derzeitigen Euro-Kurses von links ging von der griechischen Syriza aus, die 2012 nur knapp den Wahlsieg verfehlte. Zwar hat es eindrucksvolle Protestbewegungen in Griechenland, Spanien oder Portugal gegeben, aber deren Erfolge waren begrenzt. Kurz: auch auf nationaler Ebene ist die linke Opposition nicht besonders gut aufgestellt. Nennenswerte Opposition gegen das europäische Krisenmanagement hat es dennoch bislang nur dort gegeben. Wichtiger ist jedoch, dass die politischen Systeme der Nationalstaaten bei allen Unterschieden doch aufgrund ihrer geschichtlichen Entwicklung weniger vernagelt sind als die europäischen Institutionen. So haben die sozialen Kämpfe und Bewegungen der kapitalistischen Gesellschaften die nationalen Staatsapparate stets mitgeprägt, am offensichtlichsten in Form des allgemeinen Wahlrechts und der Institutionen des Parlamentarismus, aber nicht nur dort. Außerdem erfüllen diese Apparate auch eine Kohäsionsfunktion, und dies funktioniert nur, wenn sie sich gegenüber popularen Forderungen und sozialen Bewegungen nicht vollständig abschotten. Nicht dass der Nationalstaat ein für jede denkbare Strategie gleichermaßen nützliches, an sich neutrales Werkzeug wäre. Unter den gegebenen Bedingungen in Europa ist es jedoch vielversprechender zu versuchen, den notwendigen Bruch mit der europäischen Wettbewerbsordnung auf der nationalen Ebene herbeizuführen, wobei die Hoffnung wäre, dass es, wenigstens an den Ländern der europäischen Peripherie, zu einer Art Ansteckungseffekt käme.

Den strukturellen Selektivitäten der nationalstaatlichen und europäischen Ebene muss für die hier zur Debatte stehende Frage Rechnung getragen werden. Allein auf die Herausbildung eines neuen, von unten kommenden Kollektivwillens in Europa zu setzen, also auf ein alternatives Europa, ohne darüber zu sprechen, wie dies innerhalb des europäischen Mehrebenensystems realisiert werden könnte, bleibt unbefriedigend.

Diskursstrategie eines linken Ausstiegsprojekts: Euro als Klassenkampf und Wettbewerbsordnung

Was wären aber die politischen Dynamiken eines Euroausstiegsprojekts? Die Forderung nach einem Ausstieg einzelner Länder aus dem Euro oder gar nach seiner Abschaffung ist in den vergangenen Jahren immer wieder von verschiedener Seite erhoben worden, von links, von rechts und auch aus der Mitte. Das Spektrum reicht von der neugegründeten „Alternative für Deutschland“ (AfD) über Oskar Lafontaine und linksbürgerliche Soziologen wie Wolfgang Streeck bis zum Marxisten Lapavitsas, dem wohl prominentesten Vertreter eines linken Euro-Ausstiegs. Will man Letztgenannte nicht pauschal verdächtigen, verkappte Rechte zu sein, wäre es falsch, in ihren Forderungen nichts als Nationalismus zu sehen, auch wenn der in manchen Fällen eine Rolle spielt. Vielmehr artikuliert sich in dieser immer breiter geführten Diskussion auch das berechtigte Gefühl, dass die autoritär durchgesetzten Maßnahmen zur Rettung und langfristigen Stabilisierung des Euros die ohnehin arg begrenzten demokratischen Mitspracherechte weiter unterminieren, und zwar dauerhaft. In dieser Gemengelage unterschiedlicher Motive und Akteure ist es wichtig, das Projekt eines linken Euro-Ausstiegs scharf zu profilieren. Auch weil es sich angesichts der derzeit stattfindenden Besetzung des Feldes durch die AfD einer Gefahr aussetzt, die hierzulande viele Linke vor Ausstiegsforderungen zurückschrecken lässt, nämlich dass man damit der Rechten in die Hände spielte, oder – noch schlimmer – sich ihr annähere. Im Kern einer Diskursstrategie, deren Ziel es wäre, den Ausstieg aus dem Euro nicht als ein Projekt der Renationalisierung zu begreifen, stünde, so mein Vorschlag, der folgende Grundsatz: der Euro ist nicht Europa, der Euro ist Klassenkampf von oben. Was bedeutet das konkret?

1. Dass der Ausstieg aus dem Euro vom Ausstieg aus der EU oder aus der ‚Idee Europa‘ klar zu unterscheiden ist. Gewiss kann nicht absolut ausgeschlossen werden, dass bei einem Euro-Ausstieg möglicherweise entfaltete Zentrifugalkräfte über kurz oder lang auch das Ende der EU nach sich zögen. Dem steht allerdings entgegen, dass die Währungsunion zwar ein Herzstück des europäischen Integrationsprozesses in seiner aktuellen, d.h. neoliberal dominierten, Gestalt ist, aber keineswegs Europas einziges Standbein. So umfassen die Kompetenzen europäischer Institutionen mittlerweile eine Vielzahl von Politikfeldern: von der gemeinsamen Land- und Fischereiwirtschaft über Freizügigkeitsregelungen für EU-Bürger und den Binnenmarkt bis zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Viele der dort existierenden Regelungen und Institutionen hätten auch ohne Währungsunion Bestand. Außerdem gibt es eine Reihe von Ländern, die zur EU, aber nicht zur Eurozone gehören, darunter die skandinavischen Mitgliedstaaten, die sich seinerzeit gegen den Euro entschieden haben, weil sie wussten, dass eine Mitgliedschaft mit ihren vergleichsweise großzügigen Sozialmodellen auf Dauer unvereinbar wäre. Kurz: dass das Ende des Euros das Ende Europas bedeutet, ist keineswegs ausgemacht. Dies muss stets hervorgehoben werden.

2. Vor allem aber ist wichtig, dass der Euro-Ausstieg nicht als Wiederherstellung nationaler Selbstbestimmung oder als Befreiung von Brüsseler Fremdherrschaft dargestellt wird. Stattdessen wäre der Klassenaspekt der Euro-Wirtschaft einerseits und des Widerstands gegen sie andererseits zu betonen. Die Währungsunion ist der vorläufige Höhepunkt der neoliberalen Wende, die der europäische Integrationsprozess in den 1980er Jahren nahm. Das Krisenmanagement durch konditionierte Kredite, Fiskalpakt und europäische Wirtschaftsregierung führt diese Entwicklung weiter. Ziel war und ist es, eine europaweite Wettbewerbsordnung zu schaffen. Dies geschah zunächst vor allem durch den Abbau von Mobilitätsschranken für Güter, Dienstleistungen und Kapital (Binnenmarkt). Die Bedeutung der in den frühen 1990ern beschlossenen und 1999 in Kraft getretenen Währungsunion besteht vor allem darin, dass mit den verschiedenen Währungen auch eines der wirksamsten wirtschaftspolitischen Instrumente verschwand, mit dem Staaten internationale Unterschiede der Wettbewerbsfähigkeit ausgleichen können: die Abwertung ihrer eigenen Währung. Werden dann auch noch Kapitalverkehrskontrollen beseitigt, wie es im Zuge des europäischen Binnenmarktprogramms tatsächlich der Fall war, bleibt nur die so genannte interne Abwertung als Ausgleichsmechanismus übrig, d.h. die Senkung des Lohnniveaus. Der Wettbewerb zwischen nationalen Wirtschaftsräumen wird nun direkt über Löhne und Sozialleistungen ausgetragen. Damit setzt die europäische Wettbewerbsordnung die Arbeiter verschiedener Länder in Konkurrenz zueinander, auch wenn die Komplexität internationaler wirtschaftlicher Verhältnisse das häufig verdeckt.

Es ist dieser Aspekt, den eine linke Kampagne für einen Euro-Ausstieg m.E. unablässig in den Vordergrund stellen müsste. So würde deutlich, dass es nicht um ein Zurück zum Nationalstaat geht, sondern um etwas, das seit jeher Aufgabe der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung ist: die Ausschaltung der Konkurrenz unter den Arbeitern selbst! Ein Ausstieg aus dem Euro wäre daher, auch wenn es manchem auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint, ein Akt internationaler Klassensolidarität. Diese würde sich unterscheiden von der Rückkehr zur Solidarität einer nationalen Schicksalsgemeinschaft, wie sie rechtsradikalen Kräften vorschweben mag, aber auch von der Pseudosolidarität, die die diversen ‚Rettungspakete‘ für Griechenland, Portugal usw. begleitet, welche eigentlich auf die Rettung der Wettbewerbsordnung und europäischer Banken abzielen, von denen die einfache Bevölkerung aber nichts hat außer einem Abbau sozialer Rechte. Insofern würde ein linker Euroausstieg nicht einmal anderen linken Forderungen nach einer Neugründung Europas entgegen stehen. Tatsächlich könnte glaubhaft argumentiert werden, dass eine solche Neugründung und eine wirklich solidarische Krisenlösungsstrategie nur ohne das Eliten-/Kapitalisten-/Wettbewerbsprojekt Euro möglich wäre.