Es ist nicht zu wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist zu viel Zeit, die wir nicht nutzen. (Lucius Annaeus Seneca)

4,9 Prozent im Bund. 2,1 Prozent in Nordrhein-Westfalen. 1,7 Prozent in Schleswig-Holstein. Ist dies das Ende der Partei DIE LINKE? Die Totenglocken werden in den Medien teilweise schon geläutet. Doch noch hat die LINKE Chancen. Um einen Neuanfang zu schaffen, muss sie die richtigen Konsequenzen aus den Wahlniederlagen ziehen: Klartext statt Formelkompromisse und populäre Forderungen statt Vielstimmigkeit. Die LINKE muss einen erkennbaren Gebrauchswert für die Menschen haben, wenn sie überleben will.

Die Themen liegen auf der Straße: Steigende Preise für Energie, Miete und Lebensmittel, Rekordgewinne bei Rüstungsunternehmen und Krisengewinnlern, Druck und Unsicherheit im Job, Renten von denen man nicht leben kann, zu wenig Personal in sämtlichen sozialen Dienstleistungen und die Existenzbedrohung durch den Klimawandel – um nur ein paar wenige zu nennen. Die Ampelparteien SPD und Die Grünen haben im Wahlkampf viel versprochen, doch von den angekündigten sozialen Verbesserungen blieb fast nur die Erhöhung des Mindestlohns übrig. Die Ampel hat keine tragfähigen Antworten auf die alltäglichen Probleme der Menschen. Die LINKE könnte dieses politische Defizit nutzen, wenn sie klug agiert

Innerparteilich politische Debatten organisieren

In der öffentlichen Wahrnehmung erscheint die LINKE zerstritten und tritt mit zu disparaten Positionen in die Öffentlichkeit. Viele Menschen – darunter auch Mitglieder der Partei – wissen nicht, wofür die LINKE eigentlich steht. Führende Mitglieder der Partei haben wiederholt über die Presse und sozialen Medien verkündet, was die Partei alles falsch mache, haben Positionen in Frage gestellt oder versucht durch inhaltliches Vorpreschen Fakten zu schaffen. Die Liste der streitigen Themenfelder ist lang: die Geflüchtetenpolitik, die Milieudebatte, die Pandemie, der Klimaschutz oder die Außenpolitik. Auch unter den Anhänger*innen der LINKEN sind vielen dieser Themen, streitig. Oft sind die Positionen von einem links-sozialistischen Standpunkt aus gar nicht so einfach zu bestimmten, teils fehlt es an überzeugenden Positionen. Klar ist aber, dass ein über die Mainstream-Medien ausgetragener Streit nicht zu verbindenden Forderungen führt, sondern die Spaltungslinien in der Anhänger*innenschaft und Mitgliedschaft weiter vertieft. Was folgt daraus?

Die LINKE muss es schaffen, für die Debatte um strittige Fragen einen demokratischen Rahmen zu finden, in dem diese diskutiert werden. Keine Hinterzimmer-Politiken und Formelkompromisse, keine Pseudobeschlüsse, die den Kern des Streits überdecken. Das Übertünchen von Differenzen mag für den Moment wahltaktisch klug anmuten, auf Dauer führt es indes dazu, dass die Partei konturlos wird. Die LINKE muss politische Debatten organisieren. Dies beginnt vor Ort. Menschen werden in Parteien aktiv, weil sie Politik machen wollen. Dazu gehört auch politische Debatte. Häufig sind aber die Strukturen der Partei auf organisatorische Fragen ausgelegt: Mitglieder treffen sich, um Infostände, Veranstaltungen, Demoteilnahmen zu planen usw. Das ist alles wichtig – aber es reicht nicht, gerade um neue Mitglieder an uns zu binden. Es braucht Raum für Debatte in einem solidarischen Rahmen. Was auf der Kommunalebene beginnt muss sich auf der Landesebene mit inhaltlichen Regionalkonferenzen fortsetzen und seinen Schlusspunkt in politisch klärenden Beschlüssen von Parteitagen, Bundesausschuss und Parteivorstand finden.

Die Positionsfindung soll hierbei nicht darauf ausgelegt sein, „Geländegewinne“ für eine bestimmte Strömung zu generieren, sondern Beschlüsse zu fassen, in denen die Interessen von möglichst vielen zum Ausdruck kommen. Da wir eine Partei mit vielen verschiedenen Menschen sind, müsse sie oft auch einen Kompromisscharakter haben. Dies bedeutet zugleich nicht, dass der Kompromiss derart unverbindlich ist, dass jede und jeder interpretieren kann was sie oder er will. Es geht nicht um Konsens, der in einer pluralen Partei sowieso nicht erreichbar ist. Es geht um kluge Positionierungen, die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellt und zugleich dazu beiträgt, die Spaltungslinien in der Anhänger*innenschaft und der Partei zu überwinden.

Klar muss aber auch sein: Gibt es demokratisch beschlossene Positionen, gelten sie insbesondere für Funktionär*innen der Partei. Wer Ämter oder Mandate für die Partei übernimmt, muss bereit sein, die Beschlüsse zu akzeptieren und nach außen zu vertreten. Gerade das ist Ausdruck innerparteilicher Demokratie und der Verantwortung, die damit für Funktionärsträger*innen einhergeht. Kritik an den Beschlüssen muss immer möglich sein, aber sie gehört innerhalb der Partei vorgetragen. Wer sich nicht daran hält und meint, als Vorstandsmitglied oder Abgeordneter über Medienkontakte und soziale Medien die gemeinsam beschlossenen Positionen infrage zu stellen, sollte mit einer unmissverständlichen Distanzierung durch die Partei- oder Fraktionsführung rechnen müssen. Auch Sanktionen sollten denkbar sein, etwa, dass Sprecher*innenposten aberkannt oder keine Reden im Parlament zugeteilt werden. Wir werden die Vielstimmigkeit nur beenden, wenn wir erstens innerparteilich für politische Debatten und klare Beschlüsse sorgen und zweitens nicht akzeptieren, dass Verantwortungsträger*innen diese Beschlüsse konterkarieren, indem sie die Mandate und Ämter, die sie durch die Partei und ihre Mitglieder erlangen, als Projektionsfläche für die eigene Profilierung nutzen.

Gesellschaftliche Kämpfe verbinden

Der Anspruch der Partei DIE LINKE sollte es sein, verschiedene Milieus oder verschiedene Teile der Klasse zu erreichen und gesellschaftliche Kämpfe zu verbinden. Tödlich sind Debatten, die auf ein »Entweder-Oder« hinauslaufen. Die Frage darf nicht lauten: „Wollen wir Industriebarbeiter*innen oder Klimaschutzaktivist*innen erreichen“, sondern: „Wie können wir Politiken entwicklen, in denen die Anliegen beider Gruppen vorkommen?“ Die Klassenfrage des 21. Jahrhunderts wird falsch beantwortet, wenn die „Arbeiter*innenklasse“ und damit unsere Zielwähler*innenschaft vorwiegend in der klassischen Industriearbeiter*innenschaft gesehen wird. Der Arbeitsmarkt hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. In Deutschland wir das BIP zu über zwei Dritteln im Dienstleistungssektor erwirtschaftet. Dort träumen die aller meisten Menschen davon, auch nur ansatzweise das zu verdienen, was Facharbeiter*innen in den Kernbelegschaften der Industrie erhalten. Sie erleben, dass weder sie noch ihre Kinder unter den heutigen Bedingungen abgesichert leben können. Die Arbeiter*innenklasse hat sich grundlegend verändert, ist diverser und heterogener als vor 40 Jahren. Die LINKE muss strategisch daraufsetzen, die politische Heimat der gesamten Arbeiter*innenklasse zu sein, muss sie in ihrer gesamten Breite ansprechen. Dazu gehört es auch, anzuerkennen, dass die soziale Frage nicht das einzige Problem von Arbeiter*innen ist, sondern für viele Menschen mit Migrationsgeschichte Rassismus am Arbeitsplatz oder bei der Wohnungssuche ein mindestens so belastendes Thema ist; oder dass Sexismus in der Gesellschaft für Frauen und queere Menschen oft Unsicherheit und Ängste bedeutet und sie davon abhält, so leben zu können, wie sie es gerne würden. Die soziale Frage des 21. Jahrhunderts ist größer als die Frage von Arbeitsbedingungen und Arbeitslohn.

Der Anspruch einer sozialistischen Partei sollte es sein, diejenigen zu erreichen, die ausgebeutet, an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden; aber auch diejenigen, die dazu beitragen wollen, die Zustände, in denen wir leben, zu verbessern. Das bedeutet sowohl am VW-Werkstor stehen als auch vor der Universität in einer Großstadt, an beiden Orten für linke Positionen zu streiten. Denn bei aller Heterogenität der Arbeiter*innenklasse gibt es viele Klammern: das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit in einer krisengebeutelten Zeit; der Wunsch nach Angstfreiheit Angesicht von Klimawandel und Krieg in Zeiten einer unsicheren globalen Lage, und die Sehnsucht leben und lieben zu können, wie und wen man will. Die LINKE muss hier einerseits Antworten formulieren, die einend sind für die gesamte Arbeiter*innenklasse und zugleich für spezifische Probleme bestimmter Milieus anbieten. Sie muss organisierend wirken, muss Menschen ermächtigen, gemeinsam für ihre Anliegen zu kämpfen. Dafür ist die oft unterschätzte kommunale Arbeit grundlegend. In konkreten Kämpfen vor Ort, etwa um Wohnraum, ÖPNV-Ausbau, Schutz von Naturschutzgebieten, kann die Partei Menschen unterstützen, sich zu organisieren und ihre Anliegen in die Räte tragen. In meinem früheren Wahlkreis in Oberhausen etwa hat die LINKE Mieter*innen eines großen Wohnblocks zusammengebracht, ihnen mit Rat, Tat und Räumlichkeiten zur Seite gestanden in der Auseinandersetzung mit einem großen Vermieter, der gegen den Verfall des Wohnraums nichts tat. Aus dieser Organisierung entstand nicht nur erfolgreicher Protest, der es bis in den Stadtrat und die kommunalen Medien schaffte, sondern es folgten auch eine Reihe von Eintritten in die Partei. Dies ist nur ein Beispiel von vielen. Die LINKE muss zeigen, dass sie nicht nur reden, sondern auch konkret handeln kann. Dann wird sie auch erfolgreich sein. 

Verbindende Klassenpolitik konkret 

Ein weiteres Feld für die Partei liegt darin, im Bündnis mit gesellschaftlichen Akteur*innen wegweisende Forderungen zu erarbeiten – und zwar gerade dort, wo Konflikte besonders schmerzhaft sind, weil sie progressive Politiken blockieren. In der Klimafrage bedeutet das, Forderungen sowohl aus Gewerkschaften als auch aus der Klima-Bewegung anzuhören, ernst zu nehmen und zu schauen, an welchen Stellen man Übereinstimmung findet und wie man helfen kann, die Forderungen durchzusetzen. Damit meine ich nicht nur, dass man einen Antrag ins Parlament bringt, sondern praktisch zu überlegen, wie man gemeinsame Bündnisse für bestimmte Projekte bilden kann. Dazu bietet sich derzeit die Frage der Verkehrswende besonders an. Das von der Bundesregierung beschlossene 9-Euro-Ticket ist eine gute Gelegenheit, um diese Forderungen von links weiterzutreiben. Hier könnten wir einerseits den massiven Ausbau des ÖPNV fordern – statt 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr auszugeben – und zugleich die Debatte über die Ticketfreiheit des ÖPNV zu intensivieren. Man würde bei einem zentralen gesellschaftlichen Thema zeigen, wie es jenseits von Ampel-Politik aussehen könnte und könnte damit zugleich exemplarisch konkrete Klimaschutzpolitik machen. Denn das versteht draußen jeder: Wir werden den Klimawandel nur stoppen, wenn wir den Individualverkehr reduzieren. Um diesen zu reduzieren, brauchen wir einen besseren und am besten ticketfreien ÖPNV. Nebenbei ist es auch sozial, wenn der ÖPNV ticketfrei ist. Die steigenden Mieten sind ebenfalls ein Thema, welches die LINKE konkret anpacken kann und wo sie bei vielen Mieter*inneninitativen natürliche Verbündete hat. Die Mietenfrage kann vor allem Anlass sein, die Eigentumsfrage aufs Parkett zu bringen, so wie es Deutsche Wohnen und Co. enteignen in Berlin getan hat. Damit ist es zugleich möglich, einen Blick über den Kapitalismus hinauszuwerfen und deutlich zu machen: Das Ende der Geschichte ist noch nicht geschrieben.

Linke Politik braucht eine linke Partei

Die LINKE muss gewinnen. Denn der Ausfall einer linken Partei in Deutschland wäre eine Katastrophe für die gesamte gesellschaftliche Linke. Linke Parteien werden nicht aus dem Boden gestampft. Nach der Gründung der BRD und dem parlamentarischen Ende der KPD 1953 dauerte es 37 Jahre, bis mit der PDS wieder eine sozialistische Partei im Bundestag vertreten war. Es dauerte weitere 15 Jahre, bis daraus ein gesamtdeutsches Projekt wurde. Wer leichtfertig meint „dann geht die LINKE halt unter, es kommt was neues“, der muss möglicherweise Jahrzehnte Geduld mitbringen. Scheitert die LINKE, scheitern die heutigen Linken in Deutschland, weil die Wirkmacht progressiver Forderung massiv geschwächt wird. Doch rettet die LINKE kein höh’res Wesen. Aus dem Elend erlösen kann sie sich nur selbst. Dafür muss sie zur modernen sozialistischen Partei des 21. Jahrhunderts werden.