Wenn ich gut drauf bin, sage ich: Ich kann nicht anders. Den Mund aufmachen, auf die Straße gehen. Weitermachen, bis sich was ändert. Wenn ich schlecht drauf bin, verliere ich den Mut. Dann will ich mich am liebsten in eine Höhle verkriechen. Zu viele Niederlagen, zu viele Nackenschläge.

Armutsbetroffene haben im letzten Jahr viele Hoffnungen und endlose Enttäuschungen erlebt. Ich bin im Frühsommer 2022 aktiv geworden, als auf Twitter der Hashtag #ichbinarmutsbetroffen viral ging. Zum ersten Mal meldeten sich die zu Wort, denen die Armut das Leben schwermacht. Sie sagten: »Hier sind wir, wir sind echte, lebende Personen, wir haben Ahnung – redet mit uns und nicht über uns.« Ich war sofort Feuer und Flamme.

Denn ich lebe seit neun Jahren von meiner aufgestockten Erwerbsminderungsrente von monatlich 500 Euro. Seit einem Hirnschlag leide ich an Epilepsie. Mich hat es bei der Arbeit erwischt, in meinem Job als Köchin, wo ich sprichwörtlich bis zum Umfallen geackert habe, 12 bis 14 Stunden am Tag.

Ich war schon immer ein politischer Mensch, auch ab und an auf Demos. Aber bei #ichbinarmutsbetroffen habe ich mich das erste Mal organisiert. Wir haben die Ortsgruppe Köln gegründet, gehen jeden Monat mit Kundgebung auf die Straße. Wir hören einfach nicht auf zu nerven. Wir organisieren uns meist online, damit alle mitmachen können, trotz Geldnot, Zeitnot oder Krankheiten.

Verraten und enttäuscht

Nach der Bundestagswahl hatte ich etwas Hoffnung. Ich dachte, ein bisschen was werden SPD und Grüne wohl durchsetzen, die FDP werden sie schon einhegen. Niemals hätte ich erwartet, dass es so läuft, wie es läuft. Das Bürgergeld ist ein Witz, die Erhöhung ist von der Inflation längst aufgefressen. Bei der Kindergrundsicherung ist nichts rumgekommen. Es ist eine riesige Enttäuschung.

Ich kann das eloquente Gelaber von Leuten wie Lindner inzwischen kaum mehr ertragen. Daraus spricht eine solche Menschenverachtung. Die Rede von »Erwerbsanreizen« … Werden jetzt Kinder für die Lage ihrer Eltern bestraft? In Schottland nehmen die Rachitisfälle bei Kindern zu, als Folge von Mangelernährung, mit lebenslangen Folgen für die Entwicklung.

Dieses politische Versagen lässt für mich nur einen Schluss zu: Die wollen es so. Alle Zahlen und Fakten liegen auf dem Tisch, aber sie wollen die Armut nicht beseitigen. Die brauchen die Armen. Weil es immer noch jemanden geben muss, dem es schlechter geht. Damit die Leute bereit sind, auch die miesesten Jobs zu machen. Und dann immer die Versprechung: Nimm den Job, dann hast du einen Fuß in der Tür. Von wegen! Die stellen ein, entlassen, stellen ein, entlassen. Und im Zweifelsfall musst du noch aufstocken, weil es nicht reicht.

Der Hass von oben

Abwertung und Ächtung haben wieder zugenommen. Ich würde sagen, so schlimm wie jetzt war es noch nie. Klar, das Armenbashing gab es schon bei der Agenda 2010. Aber im Moment sehe ich einen regelrechten Armenhass. Die krassesten Beleidigungen, die kommen von oben. Da wird immer wieder nachgelegt, Munition geliefert. Aber es kommt auch von Leuten, denen es selbst nicht gut geht. Leute, die durch Arbeit krank geworden sind, oder Armutsrenter. Da merke ich, dass die Hetze schon verfangen hat. Die haben das Bild vom faulen Arbeitslosen, das RTL-2-Bild, ganz tief verinnerlicht. Dabei gibt es Zahlen: Von den Menschen im Sozialleistungsbezug sind nur 5 Prozent überhaupt klassisch arbeitslos, über 20 Prozent sind Aufstocker, die arbeiten, aber mies bezahlt werden.

Die Folgen der Hetze spüren wir auf der Straße. Wir stehen nicht ein einziges Mal da, ohne dass ein Nazi oder Trottel vorbeikommt und uns beschimpft: Geht doch arbeiten! Unsere Aktionen werden gestreamt, landen im Netz. Da überlegt man sich zweimal, ob man mitmacht. Wer will sich diesem gesellschaftlichen Klima aussetzen? Da versuchst du eher noch den Schein zu wahren, damit die Kinder nicht gedisst werden.

Schere im Kopf

Was bedeutet es, arm zu sein? Man ist den ganzen Tag nur in der Problembewältigung. Man schaut immer nur von außen zu. Das normale Leben findet ohne einen statt. Irgendwann traut man sich nicht mal mehr, zu wünschen. Denn die Schere im Kopf sagt immer Nein. Kann ich mir ein paar Blumen kaufen? Nein! Spontan eine Pommes in der Stadt? Nein! In die neue Ausstellung ins Museum? Nein! Armut macht auch einsam. Und man ist ständig Anfeindungen ausgesetzt. Wenn ich mich irgendwo politisch äußere, dann kommt: Geh arbeiten. Aber ich kann ja gar nicht arbeiten. Ich habe mich schon totgearbeitet, das ist der Grund, warum ich krank geworden bin. Aber das interessiert dann nicht.

Die Leute sind von den täglichen Überlebenskämpfen einfach erschöpft. Viele schaffen es nicht zur Kundgebung. Ich merke das selbst. Das Angebot der Tafel hat abgenommen und am Monatsende kommt die Panik: Wo kriege ich was her, gibt’s was bei #togoodtogo, hat irgendwer Gemüse, mit wem kann ich zusammenlegen? Das erschöpft. Wenn ich bei uns in die Ortsgruppe gucke: Da ist niemand, der gesund ist. Und trotzdem die Fahne hochzuhalten, kostet Kraft. Als wir unsere Kundgebung in Berlin hatten, schrieben die Medien: Das waren ja nur 250 Leute. Aber viele von uns haben einfach kein Geld, können sich das Ticket nicht leisten, sind krank, haben Kinder zu Hause. Wir haben die Demo überhaupt nur über Spenden ermöglichen können.

Angst und Erschöpfung

Ich bin politisch erschöpft, weil sich ein Politikversagen an das nächste reiht. Und weil eine Hoffnung nach der anderen zerstört wird. Das ist nicht nur beim Thema Armut so. In der Klimapolitik ist es genauso. Und die ist im ganz großen Maßstab noch wichtiger. RWE rodet hier in NRW weiter für den Tagebau, in Wuppertal wird ein Wald für Autobahnen plattgemacht, die niemand mehr braucht. Es sind so viele Sachen, die falsch laufen, man kommt kaum hinterher. Wenn ich mir die letzten Jahre anschaue, komme ich zu dem Schluss, dass die Politik komplett ignorant ist. Sie sagen, sie kümmern sich, aber alles geht so weiter. Die Emissionen steigen und die klimaschädlichen Weltvernichter machen ungehindert Gewinne. Sehenden Auges wird die Welt in den Abgrund gerissen. Auf die Folgen sind wir null vorbereitet und irgendwann gibt es einen Punkt, da kannst du dich nicht mehr anpassen. Die Reichen versuchen sich zu schützen. Wir werden die Ersten sein, die darunter leiden. Diese Zukunftsaussicht macht mir Angst.

Die Ignoranz der Politiker dagegen, die macht mich einfach nur wütend. Ich wünsche mir bei manchen Verantwortlichen, dass sie von dieser Welt einfach verschwinden, dass sie ins Gras beißen, auf Nimmerwiedersehen. Das hatte ich vor zehn Jahren nicht. Aber was bleibt einem übrig?

Bloß nicht zerfasern

Wenn ich auf eineinhalb Jahre #armutsbetroffen zurückschaue: Bei der Gesetzgebung haben wir nichts erreicht. Wir haben bei vielen den Sprachgebrauch, das Bild von Armut verändert. Dass wir nicht sozial schwach sind, sondern finanziell schwach. Den Begriff haben wir immer wieder moniert und tatsächlich wird er weniger benutzt. Und ein Erfolg ist, dass wir uns zusammengerottet haben. Auf lokaler Ebene klappt das ganz gut. Aber das steht und fällt mit uns Einzelpersonen. Wenn ich morgen tot umfalle, ist ein ganzer Strang gekappt.

Darum finde ich so schlimm, dass sich alles zerfasert und aufspaltet. Nehmen wir mal Fridays for Future, Ende Gelände, Extinction Rebellion und die Letzte Generation – statt sich zusammen­zutun, dissen sich die Leute gegenseitig. Durchsetzen kann man sich so nicht. Denn die Macht der großen Lobbys – nennen wir sie mal das Kapital, dann haben wir gleich alle Aspekte abgedeckt – die wankt kein bisschen.

Es geht nur ökosozial

Ich habe mich schon lange für die Klimabewegung interessiert, war ab und zu auf Demos. Das erste Mal, dass ich so richtig die Schnauze voll hatte, war dann beim Hambacher Forst. Da bin ich aufgestanden und hingefahren, hab mein Zelt aufgeschlagen und mit den Leuten gequatscht. Und auch in Lützerath war ich häufig, schon vor der Räumung. Dass die Klimabewegung und der Kampf gegen Armut nicht zusammengehören? Halte ich für totalen Quatsch. In den Medien wird immer wieder behauptet, Klimaschutz sei ein elitäres Thema. Jenseits der Schlagzeilen ist mir das nie begegnet. In unserer Gruppe ist das schönster Konsens: Es geht nur ökosozial.

Ich habe sogar den Eindruck, dass die Klimabewegung sehr um Inklusion bemüht ist. Ich war mal bei einem Camp in Lützerath. Da wurde nachts so ein Tanzdings gemacht, es ging bumbum die ganze Nacht, und ich mit meiner Neuro-Erkrankung hatte richtig Probleme. Ich habe dann dem Awareness-Team Bescheid gesagt. Und als ich das nächste Mal hinfuhr, gab es plötzlich zwei Zeltplätze, einer davon ein safe space unter anderem für Neurodiverse. Da war ich unheimlich glücklich, habe mein Zelt aufgestellt und hatte himmlische Ruhe.

Weitermachen

Für mein Engagement ist eigentlich nicht relevant, ob ich am Ende was durchsetzen kann. Für mich ist nur relevant, dass ich weitermache. Mir würde es schlechter gehen, wenn ich aufhören würde. Aber ich bin leider auch nicht gesund und mache das schon lange, da lässt man immer wieder den Kopf hängen.

Was mir Hoffnung macht? Dass der Mindestlohn in zwei Jahren durch die Durchsetzung der EU-Richtlinie vielleicht doch noch deutlich angehoben wird. Das wird manchen helfen, der Armut zu entkommen. Und wer aus der Armut kommt, der weiß, was das wirklich heißt, ist vielleicht ein Stück immun gegen die Hetze und kann ein Verbündeter sein. Und im Großen und Ganzen denke ich: So düster alles ist, ich bin mir ganz sicher, dass sich was ändern wird. Dafür wird das Klima sorgen. Dieses Wirtschaftssystem kann so nicht weiterbestehen.