Viel ist über den 7. Oktober 2023 geschrieben worden, auch darüber, was diese Ereignisse mit zum Vorschein brachten, unter anderem die weitgehende Empathielosigkeit gewisser Teile der campistischen Linken gegenüber den Opfern des Hamas-Angriffs. In deren Perspektive wurde der reaktionäre, antiisraelische, frauenfeindliche Gewaltexzess zur »militärischen Operation« des »palästinensischen Widerstands« (u. a. Klasse gegen Klasse), kurz ein »day to be proud of« (Palästina spricht). Ein weltbildhafter Antizionismus[1] mit Anschlussfähigkeit an den Antisemitismus und mit teils antisemitischen Ausformungen feiert fröhlich Urständ und steht in Teilen der propalästinensischen und Anti-Kriegs-Proteste vor einer neuen weltweiten Konjunktur.

»Konflikt über den Konflikt«

Doch binäre Freund-Feind-Schemata sind nicht nur bei den campistischen Truppen der Gegner*innen Israels zu finden. Vielmehr erreichte der Nahostkonflikt zweiter Ordnung, der »Konflikt über den Konflikt« (Kenneth Stern), nach dem 7. Oktober in Gestalt einer Antisemitismusdebatte schnell eine neue Eskalationsstufe. In einer regelrechten moral panic (so della Porta 2024) bestand bald die Tendenz, spiegelbildlich zum eingangs Geschilderten jeden Ausdruck (pro-)palästinensischer Perspektiven und Forderungen, des (Mit)-Leidens mit den palästinensischen Opfern des israelischen Gazakrieges (der schnell keine legitime Gegenwehr mehr war, sondern sich zum Kriegsverbrechen mit mindestens genozidalen Ambitionen auswuchs), letztlich jedes Engagement gegen den Gazakrieg unter Antisemitismusverdacht zu stellen. Die nach dem Massaker in Berlin-Neukölln Süßigkeiten verteilenden Hamas-Sympathisant*innen sezten den Rahmen, innerhalb dessen fortan beinahe alles (Pro-)Palästinensische als Gefahr gedeutet werden konnte – eine weniger intentionale, aber im Effekt sich doch klar realisierende Form antipalästinensischen Rassismus. Der zeigte sich am deutlichsten in den Allgemeinverfügungen, mit denen in manchen Städten Polizeibehörden über längere Zeiträume alle Versammlungen mit einem Palästinabezug untersagten, oder in polizeilichen Gewalterwartungen aufgrund der »typischen Emotionalität« der Teilnehmer*innen.[2]

Logik eines Stellungskrieges

Die Grundkonstellation ist nicht neu. Identitäres Lautsprechen, Bekenntnispflichten und absolute Parteinahmen, eben »radikale Identifikation« (Ullrich 2013), kennzeichnen das Diskursfeld Israel/Palästina/Juden/Antisemitismus usw. seit Langem. Ebenso ist das Feld seit jeher von Reduktionismen gekennzeichnet, die in der binären Stellungskriegslogik zwischen verschiedenen Dimensionen des Konflikts (kulturelle, ökonomische, politische, moralische etc.) nicht unterscheiden. Er wird von den einen als bloßer (asymmetrischer) Interessenskonflikt verstanden, von den anderen antisemitismuskritisch interpretiert. Der erste Reduktionismus wehrt mit Blick auf die facts on the ground die Befassung mit Antisemitismus (insbesondere in den eigenen Reihen) ab. Der zweite Reduktionismus, zugegebenermaßen auch der in seinem theoretischen Idealismus und seiner soziologischen Borniertheit am meisten verwundernde, ist der, dass es beim israelisch-palästinensischen Konflikt im Kern um Antisemitismus gehe, es den Konflikt ohne Antisemitismus der einen Konfliktseite gar nicht gäbe (so Lars Rensmann und Karin Stögner am 12.6.2024 in erschütterndster Offenheit in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung). Dies ist, wenn auch in zugespitzter Form, das ideologische Fundament für die Instrumentalisierung der Antisemitismuskritik als bloßer Antisemitismusvorwurf. In dieser Perspektive kann jede nicht völlig handzahme Kritik an Israel, dem Zionismus, der jahrzehntelangen Besatzung und der Siedlergewalt oder am gegenwärtigen Krieg delegitimiert werden. Diskutiert wird dann mehr über die Angemessenheit der Beschreibungen (Apartheid, Genozid usw.) als über die tatsächliche Situation. Wie zum Beispiel Hannah Tzuberi und Patricia Piberger immer wieder betonen, wird menschenrechtliche und andere Kritik an Israel in der deutschen medialen und politischen Öffentlichkeit nicht nach der faktischen Richtigkeit oder politischen Angemessenheit beurteilt, sondern muss quasi erst den Antisemitismustest bestehen, um überhaupt in Anschlag gebracht werden zu dürfen. Der verbreitete Rechtsnihilismus deutscher Politiker*innen in Bezug auf israelkritische Stellungnahmen und Verfahren der internationalen Gerichtsbarkeit und der UN-Gremien macht dies ebenso deutlich. Das Sprechen über Israel dreht sich, so könnte man diese Perspektive fassen, nicht um den Staat als realweltliches Objekt, sondern vollzieht sich im »Bildraum der Vergangenheit« (Tzuberi/Piberger 2022) und im deutschen Wiedergutwerdungsprojekt des Kampfes »gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens«.

Autoritärer Anti-Antisemitismus

Neu an der gegenwärtigen Konstellation sind Umfang und Tiefe dieses fehlgeleiteten Anti-Antisemitismus und insbesondere der Grad seiner Bürokratisierung, mithin die Verrechtlichung und Versicherheitlichung der Debatte über den Nahostkonflikt (Ullrich 2023). Damit ist gemeint, dass der Raum des öffentlich als diskutabel Geltenden zunehmend durch (Quasi-)Recht reguliert wird und dies von Ordnungsbehörden überwacht und als Ordnungsproblem (statt als politisches) behandelt wird. Das hat mit der Bekämpfung von tatsächlichem Antisemitismus nur mittelbar zu tun und verfolgt zugleich andere Zwecke. Vor allem sattelt diese Entwicklung auf anderen illiberalen Tendenzen auf, bettet sich ein in eine autoritäre Wende und verstärkt sie, wenngleich auch teils ungewollt. Deshalb spreche ich zur Charakterisierung dieser Tendenz von autoritärem Anti-Antisemitismus.

Der autoritäre Anti-Antisemitismus schöpft aus mindestens zwei distinkten Quellen. Die eine ist eine politische Position, die genuine Sorge um jüdische Menschen und hohe Aufmerksamkeit für Antisemitismus mit falschen Universalisierungen der »Lehren aus der Geschichte« verbindet. Sie versteht sich selbst als antifaschistische Lehre aus dem Holocaust, verortet aber den Faschismus der Gegenwart konsequent im (pro-)palästinensischen Diskurs (was historisch rekonstruierbar ist, hier aber nicht ausgeführt werden kann). Letztlich vermag diese Position, bildhaft gesprochen, zwischen dem nationalsozialistischen Judenboykott und dem Boykott Israels als Besatzungsmacht bestenfalls graduelle Unterschiede wahrzunehmen (ebd.). Man findet sie in der antideutschen, israelsolidarischen bzw. ideologiekritischen Linken und in der linksliberalen Zivilgesellschaft. Die zweite Quelle ist ein rechter Diskurs, den die AfD seit Jahren propagiert und der sich mit dem weiter Teile des »liberalen« und konservativen Mainstreams überschneidet. Hier verbindet sich eine Instrumentalisierung des »christlich-jüdischen Erbes« oder gar »Abendlands« mit antimuslimischen und als »antiextremistisch« drapierten antilinken Ressentiments zu einer Staatsräson-Position, die bis zu den Bemühungen um »Wiedergutmachung« der Adenauer-Zeit zurückreicht und instrumentell für die nationale Entlastung vom Holocaust ist. Die einseitige Parteinahme beider Stränge zugunsten Israels und seiner jeweiligen Politik scheint keine noch so offen faschistische Haltung und Praxis der israelischen Exekutive ins Wanken zu bringen. Dass beide bei der Identifikation der muslimischen bzw. »woken«, postkolonialen, (pro-)palästinensischen Gegner*innen einig sind, kaschiert den Gegensatz zwischen diesen Lagern in anderen Fragen und ermöglicht entsprechende Querfronten.

»Universitäter« am Pranger

Seinen augenfälligsten Ausdruck fanden die Entwicklungen hin zum autoritären Anti-Antisemitismus in den Ereignissen um das Protestcamp gegen den Gazakrieg an der Freien Universität Berlin im Frühjahr 2024. Dieses war ohne Not, und ohne dass es bis dahin zu gravierenden Vorfällen gekommen wäre, auf Anweisung des Präsidiums mit massiver Gewalt polizeilich geräumt worden – laut Politikwissenschaftler Hajo Funke einer der brutalsten Polizeieinsätze der letzten Jahrzehnte. Das kritisierten Hunderte Wissenschaftler*innen in einem offenen Brief. Wohlgemerkt solidarisierten sie sich nicht mit den Forderungen der Camp-Initiator*innen, sondern mit dem Recht auf Protest und Schutz vor Polizeigewalt. Sie sprachen sich für einen anderen Umgang der Hochschulen mit dem Konflikt aus. In einem Akt von ins exzessive gesteigerter Ambiguitätsintoleranz wurden die Unterzeichner*innen in der Springerpresse als Unterstützer*innen von »Judenhasser-Demos« und teilweise sogar mit Fotoporträts als »Universitäter« an den Pranger gestellt. Politisch sekundiert und angefeuert wurde dies vom Berliner Regierenden Bürgermeister bis hin zur Bundesregierung. Im Haus von Bildungsministerin Stark-Watzinger, die sich über den Brief öffentlich »entsetzt« zeigte und die zweifelte, dass die Unterzeichner*innen auf dem Boden des Grundgesetzes stünden, wurden sogar Listen der Unterzeichner*innen erstellt und – ohne rechtliche Grundlage oder Zuständigkeit – geprüft, ob diese strafrechtlich belangt und förderrechtlich sanktioniert werden könnten. Ein hochrangiger Mitarbeiter, der im Verlauf des Skandals sogar noch zum Staatssekretär aufstieg, nannte in internen Chats klar sein Anliegen: die ungewünschten Stimmen zur Selbstzensur zu drängen.

Vertiefte Versicherheitlichung

Begleitet wurde die Debatte von Forderungen, die Versicherheitlichung zu vertiefen. Namhafte Politiker*innen sprachen sich für die Überprüfung von immer mehr gesellschaftlichen Bereichen (Wissenschaft, Kulturförderung usw.) durch den Verfassungsschutz aus. Einem Berliner Kulturzentrum wurden für eine Raumvergabe an eine antizionistische jüdische Vereinigung die Fördermittel gestrichen. Ein Palästina-Kongress wurde unter Zuhilfenahme aller rechtlichen und widerrechtlichen Schikanen verhindert (Stolle/Obens 2024). Polizeigewalt überschattete viele Demonstrationen, die auch von Absurditäten des Protest Policing geprägt waren wie dem Verbot bestimmter Sprachen (irisch, arabisch, hebräisch). Innen- und Bildungsbehörden kriminalisieren palästinensische Symbole, deren Zurschaustellung zu Verhaftungen und Sicherstellungen führte. Eine neue Bundestagsresolution gegen Antisemitismus macht, soweit aus den diskutierten Entwürfen bisher ersichtlich, vor allem Muslime für Antisemitismus verantwortlich. Sie will die politisch und wissenschaftlich höchst fragwürdige Arbeitsdefinition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance zum allgemeinen Maßstab erheben, bekräftigt erneut den substanziell rechtswidrigen BDS-Beschluss des Bundestags von 2019 und will sogar ein Betätigungsverbot der BDS-Bewegung erreichen. Schließlich wird ausgerechnet das Asyl- und Aufenthaltsrecht als zentraler Hebel zur Antisemitismusbekämpfung ausgemacht. Was das konkret bedeutet, wurde jüngst publik: Schon wer sich in irgendeiner Form, etwa mit einem Like in den sozialen Medien, positiv auf die (vieldeutige) Parole »From the river to the sea« bezieht, soll nach dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht von der Möglichkeit der Einbürgerung ausgeschlossen werden.[3] Kurz: Normative Grundlagen der Bundesrepublik (unveränderliche Staatsprinzipien und Grundrechte wie die Meinungs-, Kunst-, Wissenschafts- und Versammlungsfreiheit, Asylrecht) werden als »Lehre aus der Geschichte« geschleift.

Das Erschreckende an dieser Konstellation des autoritären Anti-Antisemitismus ist nicht so sehr, dass ausgerechnet das Anliegen der Antisemitismusbekämpfung in seinem Zentrum steht (das ist allerdings auch schon tragisch, weil die deutsche Erinnerungskultur und ihre Ableitungen seit jeher offensichtlich wenig wirksame Mittel zum Schutz von Jüdinnen*Juden darstellen). Nein, das Erschreckendste ist, wie extrem niedrig in diesem Diskursfeld die Schwelle für das angesetzt wird, was man glaubt, den gesellschaftlichen Debatten noch zumuten zu dürfen, ohne dass auf repressive Maßnahmen zurückgegriffen wird. Auch hier ist der Umgang mit der Bewegung »Boykott-Desinvestitionen-Sanktionen« symptomatisch. An ihr gibt es viel zu kritisieren – aber das Ziel, sie auf Basis einer Gleichsetzung mit dem nationalsozialistischen Judenboykott zu verbieten (wie vorher schon die Befassung mit ihren Themen in öffentlichen Räumen in Kommunen), mutet geradezu grotesk an. Das ist ein Tiefpunkt der Unfähigkeit und Unwilligkeit, Komplexität und Widersprüchlichkeit zu erfassen und zu ertragen. Es ist die unverhohlene Parteinahme des deutschen Staats in einem ­national(istisch)en Konflikt, in dem die gleichen Parolen (etwa »From the river to the sea«), die sich wie Landkarten ohne die symbolische Repräsentation der jeweils anderen Seite auf beiden Seiten des Konflikts finden lassen und die der gleichen Eskalations- und nationalistischen Mobilisierungsdynamik entspringen, nur bei den einen mit bedeutungsschwerem ideologischen Bedeutungsüberschuss (»Antisemitismus!«) aufgeladen und massiv sanktioniert werden. Das Handlungsrepertoire reicht von Anprangerung über Fördermittelentzug bis zur Verhaftung.

Entsprechend sind die Folgen: Einschüchterung und Rückzug, schreiende Reaktanz (»Ihr könnt mich mal!«) und Eskalation sowie ein Verschwinden öffentlicher Debattenkultur. Untermauert wird das mit Kontroll- und Repressionsinstrumenten, die schon jetzt bedrohlich sind, in den Händen einer AfD-Regierung aber umso grausamer sein werden. 

Nochmal: Das alles heißt nicht, dass es keinen zu bekämpfenden, auch israelbezogenen Antisemitismus in diesem Konflikt gäbe. Ganz im Gegenteil: Dafür stehen Markierungen von Wohnhäusern mit Davidsternen, der versuchte Brandanschlag auf eine Berliner Synagoge, »Judenpresse«-Rufe gegen Journalist*innen – ganz zu schweigen vom genuinen Antisemitismus von Hamas & Co. Es kann in dieser Hinsicht kein Rausreden oder Ausruhen geben. Doch in der gegenwärtigen Situation kann nicht mehr unschuldig kritisch über Antisemitismus gesprochen werden, ohne zugleich über falsche Vorwürfe und Instrumentalisierungen des Anti-Antisemitismus zu reden. Der stellt gegenwärtig eines der zentralen ideologischen Kampffelder dar, auf denen ein autoritärer Umbau der deutschen Gesellschaft vorangetrieben und gleichzeitig als gutes Anliegen camoufliert wird. Eine Linke, die dieses Moment ignoriert oder aus antisemitismuskritischer und israelsolidarischer Perspektive übersieht, vor welchen reaktionären Karren sie sich selbst gespannt hat, hat ihren eigenen universalistischen Anspruch auf Befreiung mindestens genauso verraten wie die Hamas-Apologeten. Und angesichts des Massentötens in Gaza, der sich vertiefenden Gewalt gegen die Bevölkerung der Westbank und des Krieges im Libanon ist sie das sicherlich größere Problem.