Das wäre jedoch dringend notwendig, denn die Regulierungsfähigkeit der Gewerkschaften ist in dem Bereich dramatisch erodiert. Grob haben wir es mit drei Tendenzen der Deregulierung zu tun: 1| Der Entgrenzung der Arbeitszeit, insbesondere bei den qualifizierteren Tätigkeiten und im Angestelltenbereich. Hier wird – befördert durch die vor über 20 Jahren eingesetzte Flexibilisierung der Arbeit und durch Methoden der indirekten Steuerung – die tatsächliche Arbeitszeit verlängert. Dieser Prozess ist weitgehend individualisiert und tariflicher oder betrieblicher kollektiver Regulierung entzogen. Anhäufung von Gleitzeitstunden, nicht bezahlte Arbeit, ständige Erreichbarkeit, Unterordnung unter die betrieblichen Arbeitsschwankungen: Immer mehr Beschäftigte leiden unter dieser permanenten Leistungsüberforderung. Insbesondere die psychischen Erkrankungen nehmen zu und eine wachsende Zahl von Beschäftigten klagt über Dauerstress, Burnout und dass sie Privat- und Berufsleben kaum in Einklang bringen können. Überlastungsund Stresserscheinungen stellen wir auch massenhaft im Gesundheitswesen und in der sozialen Arbeit fest. 2| Auch bei vielen Beschäftigten im Niedriglohnbereich steigt die Arbeitszeit, getrieben von den sinkenden Reallöhnen und der Notwendigkeit, durch Überstunden oder einen Zweitjob das Einkommen aufzubessern. 3| Gleichzeitig wächst strukturelle Unterbeschäftigung, also unfreiwillige Teilzeit, Mini- und Midijobs. Sie sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass nach wie vor die gesellschaftliche Arbeitsstundenzahl pro Kopf fällt. Millionen von Menschen würden gerne länger arbeiten, bekommen jedoch nur Teilzeitjobs oder geringfügige Beschäftigung, von der sie nicht leben können: ein Prozess permanenter Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich. 4| Die Rente ab 67 ist eine weitere Niederlage auf dem Feld der Arbeitszeitpolitik, eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Eine Auseinandersetzung um die Arbeitszeit müsste also dringend wieder aufgenommen werden. Es bedarf eines Regulierungskonzepts im Dreieck der wichtigsten gewerkschaftlichen Handlungsfelder: Lohn, Arbeitsbedingungen und Arbeitszeit. Das ist viel und komplex – aber nicht unmöglich. Wie also wäre anzusetzen? Worum müsste gekämpft werden? Ansatzpunkt müssen die konkreten Interessen der Beschäftigten sein. Diese lassen sich – grob –  unterscheiden: 1| Wer unter der Entgrenzung der Arbeit leidet, will die tatsächliche Arbeitszeit verkürzen, mindestens tarifliche und tatsächliche Arbeitszeit überein bringen. Das ist nur vorstellbar, wenn gleichzeitig reguliert wird, dass sie ihre Arbeit in der kürzeren Arbeitszeit auch bewältigen können und Stress zurückgedrängt wird. Hier brauchen wir eine Regulierung der Arbeitsbedingungen, wie der Personalbemessung. Interessant ist z.B. der Versuch der Beschäftigten der Berliner Charité, einen Tarifvertrag zur Regelung der personellen Mindestbesetzung, also einen bestimmten Schlüssel von Pflegepersonal und Patienten durchzusetzen. Auch die Beschäftigten im Niedriglohnbereich, die aus finanziellen Gründen länger arbeiten, wollen, dass ihre Arbeitszeit sinkt. Hier müssen die Löhne einbezogen werden. 2| Die strukturell Unterbeschäftigten wollen eine Verlängerung ihrer Arbeitszeit, meistens zwischen 25 und 35 Stunden. Nur ein Teil will in herkömmliche Vollzeitarbeit wechseln, i.d.R. jüngere Beschäftigte, die nach der Ausbildung lediglich in Teilzeitarbeit übernommen werden. Hier gibt es zahlreiche betriebliche Initiativen im Handel, um Stundenerhöhungen für die Beschäftigten durchzusetzen und die Geringstundenverträge zurückzudrängen. 3| Alle lehnen eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit ab; dazu gehört die Rente erst ab 67. Die verschiedenen Interessen oder Gruppen eint, dass sie ein anderes Arbeitszeitregime wollen. Das ist eine gute Voraussetzung für eine gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Arbeitszeit und für eine neue Initiative zur Arbeitszeitverkürzung. Statt der Trennung in überbeschäftigte »Normalarbeitende« und unterbeschäftigte, unterbezahlte Prekäre müssten wir eine begriffliche Neudefinition des Normalarbeitsverhältnisses finden, das die verschiedenen Interessenlagen berücksichtigt. Es muss genügend Spielraum geben für eine Anpassung der Arbeitszeit an die individuellen Interessenlagen, z.B. Erziehungsphasen, Alterslagen usw. Immer mehr Menschen leiden unter der Zerrissenheit ihrer Lebensbedingungen, können kaum noch Kindererziehung, Partnerschaften, Freundschaften, Pflege der Eltern usw. in ihrem Lebensentwurf zusammenbringen. Hier ist eine gesellschaftlich- kulturelle Debatte möglich, die an das Bedürfnis, Arbeit und Leben, soziale und kulturelle Teilhabe auf einer gesicherten existenziellen Grundlage zusammenzubringen, anknüpft. Wie ließen sich die Interessen der Beschäftigten an Flexibilität und ein Kampf für bessere Arbeitsbedingungen verbinden? Der Weg kann nicht sein, Modelle zu entwickeln und zu propagieren. Plakative Forderungen wie »30 Stunden bei vollem Lohn- und Personalausgleich« werden von Beschäftigten und gewerkschaftlich Aktiven nicht aufgegriffen. Sie werden als nicht durchsetzbar wahrgenommen: Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst hatten neun Wochen gestreikt, um die Verlängerung der Arbeitszeit auf 40 Stunden zu verhindern, mussten aber die Verlängerung um eine halbe Stunde akzeptieren – wie lange müssten sie wohl für neun Stunden Arbeitszeitverkürzung und den vollen Lohn und Personalausgleich streiken? Auch das 4in1-Modell1 – das ja eher als orientierendes Konzept gedacht ist, aber eine Arbeitszeit von 25 Wochenstunden anzielt – müsste so übersetzt werden, dass sich politisch dafür streiten lässt und es in die Kämpfe der gewerkschaftlich Organisierten eingehen kann. Jetzt weist es keinen Weg, weder Einstiege noch Ansätze der Durchsetzung. Es gibt aber viele konkrete Auseinandersetzungen in Betrieben oder ganzen Branchen um eine an den Interessen der Beschäftigten orientierte Regulierung der Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen. Dazu gehören tarifliche Regelungen zum Gesundheitsschutz, Initiativen gegen die Entgrenzung der Arbeitszeit, betriebliche Aktivitäten gegen Niedrigstundenverträge (z.B. bei H&M) usw. Von hier aus kann Kritik zugespitzt, können Kämpfe verallgemeinert werden. Der öffentliche Dienst könnte dabei eine Vorreiterrolle einnehmen. In den Betrieben beginnt ein Arbeitsplatzabbau (Kosteneinsparpläne bei Siemens, Daimler, Metro, Zwangsurlaub bei MAN, Schichtenreduzierung bei VW usw.); das sollte Ausgangspunkt für eine Debatte zur Umverteilung von Arbeitszeit durch Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich sein. Die Debatte um die Verlängerung oder Neuauflage der Kurzarbeiterregelung – die ja eine subventionierte Arbeitszeitverkürzung auf Zeit ist, bei der davon ausgegangen wird, dass die Kapazitätsauslastung wieder steigen wird – muss um die Frage genereller Arbeitszeitverkürzung erweitert werden. Überkapazitäten werden z.B. in der Automobilindustrie durch Standortschließungen (Belgien, Frankreich) und Arbeitsplatzvernichtung abgebaut. Sie können wesentlich sozialer durch Arbeitszeitverkürzung abgebaut werden. Hier könnte ein europäisches Projekt der Arbeitszeitverkürzung entstehen. Eine Wiederholung der Tarifkämpfe der 1980er Jahre um die 35-Stundenwoche ist unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen kaum vorstellbar. Das notwendige Klima für eine Mobilisierung für Arbeitszeitverkürzung muss erst entstehen. Deshalb ist eine langfristig angelegte Kampagne für das Projekt einer Neuregulierung der Arbeitszeit so notwendig. Ohne die Beteiligung der Gewerkschaften ist ein solches Projekt undenkbar. Derzeit fehlt schon der politische Wille. Auch sind die Interessen der Einzelgewerkschaften unterschiedlich; im exportorientierten industriellen Bereich gibt es starke Elemente von Wettbewerbskorporatismus. Mit der Rente erst ab 67 darf es keine Versöhnung geben. Gerade im Bundestagswahljahr kann diese Frage erneut auf die Tagesordnung gesetzt und mit der Debatte um die Arbeitszeit verknüpft werden. Wo ist der Ort der LINKEN in dieser Auseinandersetzung? Die Linke und im Besonderen die Parteilinke könnte in dieser Debatte sowohl innerhalb der Gewerkschaften als auch in der Gesellschaft eine wichtige Funktion einnehmen. Sie könnte in den Gewerkschaften die Diskussion um eine neue Arbeitszeitinitiative anstoßen. Die beschriebenen Tendenzen verschlechtern ja nicht nur die existenziellen Bedingungen für die Beschäftigten, sondern auch die Handlungsmacht der Gewerkschaften. Dem Verlust an Regulierungsmacht geht der Verlust von Organisationsmacht voraus. Die Partei die Linke könnte gerade im Wahljahr eine gesellschaftliche Debatte anstoßen und an einem fortschrittlichen Zukunftsentwurf arbeiten, der Fragen von »guter Arbeit«, »Umverteilung der Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung«, »Re-Regulierung der Arbeitszeit« und »Vereinbarung von Leben und Arbeit« zusammenfügt.  

Anmerkung

1 Die Vier-in-einem-Perspektive von Frigga Haug zielt auf eine Neubestimmung und radikale Umverteilung gesellschaftlich notwendiger Arbeit (vgl. LuXemburg 2/2011, 122ff).   Erschienen in LuXemburg 4/20122, 88ff.