Entsprechend ihrer gewachsenen weltwirtschaftlichen Bedeutung versuchen die BRICS, auch ihr politisches und institutionelles Gewicht zu vergrößern. So haben sie diverse bilaterale Konflikte und nationale Interessen zurückgestellt und durch eine verstärkte Kooperation und Koordination erfolgreich ihr gemeinsames Sanktionspotenzial mit dem Ziel gestärkt, einen Wandel der vom Westen dominierten Weltordnung voranzutreiben. Die BRICS, eher politische Plattform als ein formales Bündnis, und die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit belegen dies beispielhaft – in beiden sind Indien ebenso wie Russland und China Vollmitglieder. Zusammen ist es ihnen gelungen, beim Internationalen Währungsfonds (IWF) und bei der Weltbank eine neue Verteilung der Stimmrechte zu ihren Gunsten durchzusetzen. Darüber hinaus wurden dem IWF und der Weltbank gegen den Widerstand der USA alternative, wenn auch noch nicht konkurrenzfähige Finanzinstitutionen an die Seite gestellt, zum Beispiel der zunächst mit 100 Milliarden US-Dollar ausgestattete BRICS-Reservefonds (Contingency Reserve Arrangements) und die New Development Bank (Neelsen 2014 u. 2016). Trotz dieser Erfolge und der Regelung, dass alle beteiligten Staaten formal das gleiche Stimmrecht haben und mit gleich hohen Finanzeinlagen vertreten sind, ist man sich in Indien des großen Ungleichgewichts bei der Wirtschaftskraft bewusst: So repräsentiert China zwei Drittel des Sozialprodukts aller fünf Mitgliedsstaaten, die Kaufkraft in Indien beträgt gerade einmal 40 Prozent von der in China und unter Berücksichtigung der Wechselkurse kommt Indien nur auf 20 Prozent des chinesischen Sozialprodukts.
Auch in anderen internationalen Foren wie dem Kreis der G20 oder der UNO verständigen sich die Regierungsvertreter der BRICS in der Regel vorab auf gemeinsame Positionen, um eine gerechtere multipolare Ordnung durchzusetzen. So besteht unter ihnen Einigkeit, dass die Grundpfeiler der UNO wie nationale Souveränität, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und territoriale Integrität sowie Gleichheit der Mitglieder unter gar keinen Umständen angetastet werden sollten. Dementsprechend stimmte man gemeinsam gegen militärische Interventionen der USA bzw. der NATO ohne ein UN-Mandat, wie im Fall von Libyen. Ähnlich verhält es sich bei Umweltfragen: Sowohl in Kopenhagen als auch bei der UN-Klimakonferenz Ende 2015 in Paris trat man gemeinsam dafür ein, dass die Industrieländer wegen ihrer unverhältnismäßig hohen Treibhausgasemissionen in der Vergangenheit sowie wegen ihres weiterhin nicht universalisierbaren imperialen Lebensstils Vorleistungen erbringen müssen. Nur so könnten in den Ländern des globalen Südens Handlungsspielräume für eine nachholende wirtschaftliche Entwicklung entstehen. Das Recht auf Entwicklung dürfe nicht gegen Umweltbelange ausgespielt werden.
Das “asiatische Jahrhundert”: Indiens Weltmachtambitionen im Schatten Chinas
Der Aufstieg Asiens und der Niedergang des Westens signalisieren eine doppelte epochale Zäsur. Da ist zum einen das historische Ende einer fast 500-jährigen von Gewalt, Völkermord, Enteignung und systematischer Unterentwicklung in großen Teilen der Welt gekennzeichneten Herrschaft des Westens. Da ist zum anderen die Hoffnung Indiens und Chinas auf eine Renaissance ihrer früheren kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Macht. Bis zu ihrer Kolonialisierung durch Europa stellten sie nicht nur rund die Hälfte der Weltbevölkerung, sondern gehörten auch zu den reichsten Ländern. Indien will im angebrochenen „asiatischen Jahrhundert“ seine frühere Rolle als regionale und globale Führungsmacht zurückgewinnen. Dazu bedarf es eines international wettbewerbsfähigen, technologisch und wirtschaftlich starken Fundaments. Vorbild und Konkurrent zugleich ist dabei China (vgl. Turowski in dieser Online-Sonderausgabe). Chinas rund 25-jährigen Vorsprung möglichst schnell aufzuholen, ist oberstes Ziel der Regierung von Narendra Modi.
Dazu müssen im großen Umfang ausländische Investitionen und technologisches Know-how eingeworben und transnationale Unternehmen dazu gewonnen werden, sich in Indien niederzulassen. Obwohl auch China milliardenhohe Investitionen in Aussicht gestellt hat, richtet sich die indische Regierung vor allem an die reichen Industrieländer, neben den USA insbesondere an Japan. Zudem bemüht sie sich um eine Verbesserung der Beziehungen zu den südasiatischen Nachbarn, inklusive Pakistan. Hinzu tritt eine aktive Ausrichtung auf Südostasien, die im ASEAN-Verbund sowie in der Neuorientierung der Außenpolitik von „Look East” hin zu „Act East“ zum Ausdruck kommt. In beiden Fällen stößt man auf die Konkurrenz der wirtschaftlich weit überlegenen chinesischen Volksrepublik und wird gelegentlich – wie im Fall Vietnam – Partei in einem Konflikt, der einen zunächst gar nicht unmittelbar betraf.
China stellt für Indien im derzeitigen Prozess der Restrukturierung des Einfluss- und Machtgefüges im pazifischen Raum nicht nur den Hauptkonkurrenten dar, sondern verhindert darüber hinaus die Realisierung der indischen Ambitionen, auch in ökonomischer Hinsicht aufzuholen. Das chinesische Projekt „One Belt, One Road” (OBOR) ist dafür ein anschauliches Beispiel. Es bezieht sich auf den geografischen Raum der alten Seidenstraße, die im Mittelalter Europa mit Asien verband, sowie auf eine historische maritime Handelsroute zwischen China, Südostasien und den Anrainerstaaten des Indischen Ozeans. Auch wenn Indien vom Aufbau eines solchen interkontinentalen Infrastrukturnetzwerkes durch die Belebung von Handel und Wirtschaft profitieren würde, es stünde nicht im Zentrum, sondern wäre nur Zwischenstation. So erwägt Neu-Delhi, eine Art Alternativprojekt anzustoßen. Unter dem Stichwort „Mausam“ ist geplant, die historisch gewachsenen Handels- und Kulturbeziehungen mit Südostasien, die von Burma über Thailand und Kambodscha bis Bali in Religion und Architektur sichtbar sind, wiederzubeleben.
Schon aufgrund seiner geografischen Lage sowie seiner demografischen, wirtschaftlichen und politischen Bedeutung beansprucht Indien außerdem einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, neben den fünf Vetomächten, deren Privilegien noch aus der Zeit des Zweiten bzw. des sich anschließenden Kalten Krieges stammen. Die chinesische Regierung hat zwar versprochen, dieses Vorhaben zu unterstützen, in Indien wird diese Zusage jedoch als reines Lippenbekenntnis eingeschätzt. Besonders verärgert ist man über den jüngsten Schachzug von Peking, das zusammen mit anderen Regierungsvertretern eine Aufnahme Indiens in die Nuclear Suppliers Group (Gruppe der Kernmaterial-Lieferländer) verhindert hat.
Weitere bilaterale, zum Teil noch auf die Kolonialzeit zurückgehende territoriale Konflikte vergiften darüber hinaus die beiderseitigen Beziehungen. So geht es unter anderem um den Verlauf der Grenzen im Westen, im zudem von Pakistan kontrollierten Kaschmir, sowie um umstrittene Gebiete im nordöstlichsten indischen Bundesstaat Arunachal Pradesh, der an Tibet, Myanmar und Bhutan angrenzt. 1962 war deswegen ein Grenzkrieg zwischen Indien und China entbrannt, der mit einem Waffenstillstand endete. Seitdem wurden entlang der Kontrolllinie modernste militärische Infrastrukturen errichtet und auf beiden Seiten Truppen stationiert. Immer wieder wird von bewaffneten Zusammenstößen berichtet.
Die fortdauernden Spannungen infolge dieser ungeklärten Territorialfragen rückten erst jüngst wieder anlässlich einer Reise des Dalai Lama, der nach seiner Flucht aus Tibet 1959 mit seinen Anhängern Zuflucht in Indien gefunden hatte, auf die Tagesordnung. Der Dalai Lama besuchte vor Kurzem ein in dem umstrittenen Gebiet gelegenes Kloster. Die Regierung in Peking sah ihren Verdacht, es habe sich dabei um kein rein religiös, sondern vor allem ein politisch motiviertes Unternehmen gehandelt, durch Aussagen des Gouverneurs von Arunachal Pradesh erhärtet. Dieser hatte nämlich von der Grenze zu „Südtibet“ gesprochen und damit die Zugehörigkeit Tibets zur Volksrepublik bzw. die Ein-China-Politik infrage gestellt. Peking protestierte gegen den Besuch und behauptete, dieser habe den chinesisch-indischen Beziehungen „schweren Schaden“ zugefügt.
Die auf Dauer schwerste Belastung stellt wohl das Verhältnis Chinas zu Pakistan dar, dem Erzfeind Indiens seit dem Ende der britischen Kolonialherrschaft, das 1947 die Teilung Britisch-Indiens in die zwei unabhängigen Staaten Indien und Pakistan besiegelte. Diese war mit einem massiven Bevölkerungsaustausch und Vertreibungen verbunden, die zu zwölf Millionen Flüchtlingen führten und fast eine Million Todesopfer forderten. Seitdem ist das muslimische Kaschmir geteilt und sind dessen Zugehörigkeit und politischer Status umkämpft. Drei Kriege, bewaffnete Grenzkonflikte sowie Atomwaffen auf beiden Seiten sind die Folgen. Hinzu kommen von pakistanischem Territorium ausgehende Selbstmordattentate. Der Konflikt bezieht selbst den Nachbarn Afghanistan mit ein. Für Islamabad ist eine pakistanfreundliche Regierung überlebenswichtig. Neu-Delhi ist dagegen bestrebt, seine wirtschaftliche und politische Überlegenheit gegenüber Pakistan auszunutzen und Afghanistan mit entsprechenden Anreizen als engen Verbündeten an sich zu binden.
Vor diesem Hintergrund stellt die traditionell enge politische und militärische Zusammenarbeit zwischen China und Pakistan (auch in Bezug auf Nuklearwaffen) ein unüberwindliches Hindernis für engere indisch-chinesische Beziehungen dar. Jüngste Entwicklungen haben diese Kluft weiter vertieft. So verläuft der Pakistan-China Economic Corridor, der Teil der OBOR-Initiative ist, durch das von Indien beanspruchte Kaschmir. Mehr noch: Der geplante Endpunkt des wirtschaftlichen Korridors ist die von China mit Sonderrechten ausgestattete und zum Tiefseehafen mit umfassender Infrastruktur ausgebaute Region um Gwadar. Selbst wenn mit diesem Projekt vor allem die ökonomische Erschließung Tibets und des Westen Chinas beabsichtigt ist, bleibt für Neu-Delhi entscheidend, dass damit sein Rivale China einen direkten Zugang zum Indischen Ozean erhalten wird. Der Korridor soll die für Peking lebenswichtigen Energieimporte aus dem Vorderen Orient auch in Krisenzeiten sicherstellen und die Transportzeit verkürzen. Er ist als Ersatz für die Seeroute durch das leicht zu blockierende Nadelöhr der Straße von Malakka gedacht. Aus Sicht aber von Neu-Delhi gefährdet diese Planung nicht nur die Rolle Indiens als uneingeschränkte maritime Vor- und Ordnungsmacht in der Region, sondern ist ein weiteres Glied in einer „Perlenkette“ von chinesischen Stützpunkten im Indischen Ozean, Ausdruck einer Strategie der Einkreisung, mit der China versuche, Indien zu „erdrosseln“.