Angesichts des ganzen unreflektierten Geschwätzes über die Krise warnen manche davor, diesen Begriff allzu leichtfertig in den Mund zu nehmen und damit zu einer weiteren Banalisierung der Diskussion über die gegenwärtige Lage beizutragen. Und doch existiert eine Reihe von präzise darzulegenden Gründen, warum es zutreffend ist, heute von einer weltweiten Krise zu sprechen. Eine entscheidende Voraussetzung dafür, diese irgendwann überwinden zu können, ist ein besseres Verständnis ihres Wesens, insbesondere ihrer spezifischen Entstehungs- und Entwicklungsdynamiken. Erst wenn wir diese genauer begreifen, werden wir vielleicht eine Ahnung davon bekommen, was uns aus derzeitigen Sackgasse herausführen kann und wie sich langfristig eine politische Neuordnung bzw. ein grundlegender Gesellschaftswandel bewerkstelligen ließe.
Auf den ersten Blick wirkt es so, als sei die gegenwärtige Krise vornehmlich eine politische. In den USA findet sie ihren eklatantesten Ausdruck im Wahlsieg und in der Präsidentschaft von Donald Trump und in den damit ausgelösten Konflikten und Auseinandersetzungen. Aber wir brauchen nicht lange zu suchen, um auf Analogien in anderen Ländern und Regionen zu stoßen: Da wären die desaströse Brexit-Entscheidung in Großbritannien, die schwindende Legitimität der Europäischen Union sowie der Zerfall der sozialdemokratischen und Mitte-links-Parteien, die die stärksten Befürworterinnen der EU waren, die zunehmenden Erfolge von rassistischen und einwanderungsfeindlichen Parteien überall in Nord-, Ost- und Mitteleuropa und der Aufschwung autoritärer Kräfte in Lateinamerika, Asien und im pazifischen Raum, von denen sich einige mit gutem Recht als protofaschistisch bezeichnen lassen. Die politische Krise in den USA, wenn es sich denn überhaupt vorrangig um eine solche handelt, ist also keine hausgemachte, sondern eine globale.
Was ebenfalls für diese These spricht, ist, dass alle der hier genannten Entwicklungen neben vorhandenen Differenzen eine Gemeinsamkeit aufweisen: Alle sind mit einer dramatischen Schwächung, wenn nicht gar mit einem Zusammenbruch der Autorität der etablierten politischen Klassen und politischen Parteien verbunden. Es kommt einem so vor, als hätten überall auf der Welt die Menschen mehrheitlich ihren Glauben an den herrschenden Common Sense verloren, der über viele Jahrzehnte hinweg den politischen Status quo in ihren Ländern gestützt hat. Es scheint, als hätten die Eliten in den Augen der Massen an grundlegendem Vertrauen eingebüßt und als sehnten sich die Menschen nach neuen Ideologien, nach neuen Organisationen und nach einer neuen Führerschaft. Angesichts des schieren Ausmaßes dieses Autoritätsverlusts ist es unwahrscheinlich, dass wir es hier mit einem zufälligen zeitlichen Zusammentreffen zu tun haben. Es gibt also ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür, dass die Krise, mit der wir derzeit konfrontiert sind, eine weltweite politische Krise ist.
Als wäre dieser Befund in seinen Konsequenzen an sich schon nicht weitreichend genug, hört die Geschichte hier noch lange nicht auf. Denn die hier erwähnten Phänomene machen nur eine Dimension einer umfassenderen Krise aus, die aus weiteren Dimensionen – ökonomischen, ökologischen und sozialen – besteht, die sich zu einer gesamtgesellschaftlichen Krise summieren. Will man die politische Krise verstehen, dann muss man sich auch mit Blockierungen und Fehlentwicklungen in anderen, vordergründig nicht politischen Bereichen befassen, da die politische Krise in großen Teilen eine Reaktion auf diese Prozesse darstellt. In den USA gehören zu diesen Fehlentwicklungen die metastasenhafte Ausdehnung der Finanzindustrie; die massive Zunahme von prekären McJobs im Dienstleistungssektor; die rasante Steigerung der Verschuldung von Privathaushalten, die Voraussetzung für den massenhaften Kauf von im Ausland hergestellten Billigprodukten ist; vermehrte Kohlenstoffemissionen und extreme Wetterereignisse, die mit einem um sich greifenden Klimaskeptizismus einhergehen; Masseninhaftierung und alltägliche Polizeigewalt gegen Nichtweiße, was Ausdruck eines strukturellen Rassismus ist; immer größere Belastungen für Familien und das Gemeinschaftsleben aufgrund ausufernder Anforderungen der Arbeitswelt und eines weiteren Abbaus sozialstaatlicher und öffentlicher Leistungen. All dies zusammen hat schon seit geraumer Zeit gewaltig an unserer gesellschaftlichen Ordnung genagt, ohne dass es bislang zu einem politischen Erdbeben gekommen wäre. Aber inzwischen erscheint vieles möglich, was vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre. In der heute weit verbreiteten Ablehnung der gängigen Politikangebote findet eine objektive systemische Krise ihre subjektive politische Artikulation. Der politische Teil der gesamtgesellschaftlichen Krise äußert sich in einer Krise der Hegemonie.
Donald Trump verkörpert wie kaum ein anderer diese Krise der Hegemonie. Das heißt, sein für viele überraschender Aufstieg und Wahlerfolg lassen sich nur dann richtig deuten, wenn wir uns mit der Ideologie, den Akteuren und der Politik derjenigen beschäftigen, die Trump an der Macht abgelöst hat, und mit den Gründen und Prozessen, die zu einer Schwächung der Ersteren beigetragen haben. Zu diesem Zweck ist es unerlässlich, an einige theoretische Überlegungen von Antonio Gramsci anzuknüpfen. Mit dem Begriff „Hegemonie” kennzeichnet Gramsci den Prozess, mit dem es einer herrschenden Klasse gelingt, die eigene Dominanz als natürlich erscheinen zu lassen. Hegemonial ist eine Klasse dann, wenn sie es schafft, die der eigenen Weltsicht zugrunde liegenden Grundannahmen als gesamtgesellschaftlichen Common Sense durchzusetzen. Ihre organisatorische Entsprechung ist der “hegemoniale Block”, bestehend aus durchaus disparaten gesellschaftlichen Kräften, die die herrschende Klasse zu einer Koalition zusammenschmiedet und mithilfe derer sie ihren politischen Führungsanspruch geltend macht. Die beherrschten Klassen müssen, um dieses Arrangement zu Fall zu bringen, einen neuen, überzeugenderen Common Sense aufbieten sowie ein mächtigeres politisches Bündnis bzw. einen „gegenhegemonialen Block“ aufbauen.
Dieser Analyse von Gramsci ist noch ein weiterer Punkt hinzuzufügen. Jeder hegemoniale Block zeichnet sich durch eine Reihe von Annahmen darüber aus, was gerecht und richtig ist bzw. darüber, was ungerecht und falsch ist. Spätestens ab Mitte des 20. Jahrhunderts fußte die kapitalistische Hegemonie in den USA und großen Teilen Europas auf bestimmten Positionierungen und Einschätzungen, die zwei verschiedene Aspekte von Recht und Gerechtigkeit betreffen: Bei dem ersten geht es um Verteilungsgerechtigkeit, bei dem zweiten um Anerkennung. Bei dem ersten wird darüber verhandelt, nach welchen Kriterien eine Gesellschaft bestimmte Güter, vor allem Einkommen, verteilen soll. Damit sind die wirtschaftlichen Strukturen einer Gesellschaft angesprochen und wenn auch manchmal eher indirekt die dort existierenden Klassenverhältnisse und -spaltungen. Mit Anerkennung ist gemeint, für wen oder was in einer Gesellschaft Respekt und Wertschätzung aufgebracht werden, welche moralischen Kriterien über die gesellschaftliche Zugehörigkeit und Stellung von Menschen entscheiden. Hier geht es um die gesellschaftliche Rangordnung bzw. um gesellschaftliche Hierarchien.
(Um-)Verteilung und Anerkennung sind zwei wesentliche normative Komponenten von Hegemonie und Politik. Wenn wir dies berücksichtigen und den Erkenntnissen von Gramsci hinzufügen, dann sehen wir, dass das, was Trump und Seinesgleichen groß gemacht hat, das Zerbrechen des vormals hegemonialen Blocks war und damit zusammenhängend die Auflösung des für ihn charakteristischen normativen Nexus zwischen (Um-)Verteilung und Anerkennung. Erst wenn wir uns diese Verbindung noch einmal deutlich vor Augen führen sowie die Gründe für ihr Scheitern, kommen wir dem, wofür Trump und dessen Politik steht, näher und können eine Vorstellung davon entwickeln, was nach ihm kommen könnte. Erst dann wird klarer werden, welche Art von gegenhegemonialen Block das Zeugs dazu hätte, die gegenwärtige Krise zu beenden. Ich werde im Folgenden erklären, was ich damit meine.
Die jahrzehntelange Hegemonie des progressiven Neoliberalismus
Der die US-amerikanische Politik vor der Machtübernahme von Trump & Co. maßgeblich bestimmende hegemoniale Block war der des progressiven Neoliberalismus. Das mag nach einem Widerspruch in sich klingen, aber es handelte sich dabei um eine überaus reale und machtvolle Koalition aus zwei eher ungewöhnlichen „Bettgenossen“. Zusammengefunden hatten in diesem Block zum einen Teile der neuen sozialen Bewegungen (Feminismus, Antirassismus, Multikulturalismus, Ökologiebewegung und Bewegungen für LGBTQ-Rechte), die man als liberalen Mainstream bezeichnen könnte, zum anderen die dynamischsten High-End-Sektoren der US-Wirtschaft: das Finanzwesen und die mit Informationen sowie “Symbolen“ und Bildern befassten Bereiche (also Wall Street, Silicon Valley und Hollywood). Was dieses ungewöhnliche Paar zusammenhielt, war, dass es in Bezug auf die beiden Aspekte (Um-)Verteilung und Anerkennung bestimmte Haltungen teilte.
Der progressive neoliberale Block vertrat ein auf Enteignung setzendes, plutokratisches Wirtschaftsprogramm und ergänzte es mit einer liberalen, auf meritokratischen Werten basierenden Politik der Anerkennung. Was die distributive Komponente dieses Amalgam anging, war deren Ausrichtung eindeutig neoliberal. Die diesen hegemonialen Block anführenden Klassen waren darauf aus, die Marktkräfte von der eisernen Hand des Staates und des Mühlsteins der hohen Besteuerung als Grundlage von Umverteilung zu befreien und damit die Wirtschaft noch weiter zu liberalisieren und zu globalisieren. Am Ende lief das in auf eine zunehmende Finanzialisierung des Kapitalismus hinaus. Dessen Kennzeichen sind: Abbau von Beschränkungen für weltweite Kapitalströme, die Deregulierung des Bankensystems, die Ausweitung eines überaus rücksichtslosen Kreditwesens, eine weitere Deindustrialisierung und Schwächung der Gewerkschaften sowie die forcierte Ausbreitung von prekären und schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen. In der Regel wird diese Art von Politik gern mit Ronald Reagan in Verbindung gebracht, es war aber der Demokrat Bill Clinton, der diesen Strategien maßgeblich zur Durchsetzung verholfen und zu ihrer Konsolidierung beigetragen hat. Damit wurden die Lebensstandards der Arbeiterklasse und großer Teile der Mittelschicht langfristig gesenkt, während das obere eine Prozent immer reicher wurde und vor allem das gehobene Management profitierte.
Diejenigen, die sich eine solche politische Ökonomie ausgedacht hatten, waren jedoch keine progressiven Neoliberalen. Diese Ehre gebührt den Rechten: ihren intellektuellen Koryphäen Friedrich Hayek, Milton Friedman und James Buchanan, ihren visionären Politikern Barry Goldwater und Ronald Reagan sowie zahlungskräftigen Wegbereitern wie den Gebrüdern Charles und David Koch, um nur einige zu nennen. Es wäre der rechten “fundamentalistischen” Variante des Neoliberalismus und ihren Vertreter*innen allerdings nicht allein gelungen, in einem Land hegemonial zu werden, dessen Common Sense damals noch stark von Werten des New Deals geprägt war, von der “Rights Revolution“ und von den Überbleibseln sozialer Bewegungen, die aus der Neuen Linken hervorgegangen waren. Für den Siegeszug des neoliberalen Projekts bedurfte es einer neuen Verpackung. Damit es mehr Leute ansprach und überzeugte, musste es mit anderen, nicht ökonomisch begründeten Emanzipationsbestrebungen verbunden werden. Es bedurfte eines progressiven Etiketts. Nur so konnte eine zu tiefst regressive politische Ökonomie zum dynamischen Zentrum des neuen hegemonialen Blocks werden.
Die Aufgabe, die entscheidende noch fehlende Zutat beizusteuern, nämlich eine progressive Politik der Anerkennung, fiel den sogenannten “New Democrats” unter der Führung von Bill Clinton zu. Diese knüpften an fortschrittliche zivilgesellschaftliche Kräfte und Bewegungen an und förderten damit die Ausbreitung eines Anerkennungsethos, das auf oberflächliche Weise egalitär und emanzipatorisch ist. Mit ihm wurden Ideale wie “Diversität”, die Gleichstellung von Frauen, LGBTQ-Rechte, Überwindung des Rassismus, Multikulturalismus und Umweltschutz assoziiert, aber auf eine spezifische Art und Weise interpretiert, die völlig kompatibel war mit der „Goldman Sachsification“ der US-Wirtschaft. Umweltschutz wurde übersetzt in Emmissionshandel, gesellschaftliche Gleichberechtigung in das Recht auf ein Eigenheim für alle, was mit der massenhaften Vergabe von „zweitklassigen“ Krediten einherging, die man bündelte und als hypothekenbesicherter Wertpapiere einfach weiterverkaufte. Gleichheit wurde mit Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit (Meritokratie) gleichgesetzt.
Die Reduzierung auf meritokratische Gleichheitsvorstellungen erwies sich als besonders verhängnisvoll. Das progressive neoliberale Programm für eine gerechtere gesellschaftliche Ordnung zielt nämlich nicht auf die Abschaffung von Hierarchien, sondern sieht lediglich vor, das Personal in den oberen Stellungen zu “diversifizieren”. Besonders „talentierte“ Frauen, People of Color und Angehörige sexueller Minderheiten sollen dazu “ermächtigt” und ermutigt werden, sich um Spitzenpositionen zu bewerben. Dieses Ideal hat einen eindeutigen Klassenbias: Man will zwar, dass „leistungsstarke“ Individuen aus „unterrepräsentierten Gruppen“ gesellschaftlich aufsteigen, aber nicht, damit diese eine andere Politik verfolgen. Am Ende sollen sie sich damit zufriedengeben, nun auf gleicher Augenhöhe mit heterosexuellen weißen Männern ihrer eigenen Klasse agieren zu können. Die feministische Variante dieses liberal-individualistischen Emanzipationsverständnisses, das leider auch andere soziale Bewegungen erfasst hat, ist allgemein bekannt. Propagiert wird, „sich bietende Chancen zu ergreifen“ oder „die gläserne Decke zu durchbrechen“. Wer von dieser Strategie profitiert, sind in erster Linie diejenigen, die eh schon über das für den Aufstieg erforderliche soziale, kulturelle und ökonomische Kapital verfügen. Alle anderen lässt man weitgehend im Stich.
Diese von Anfang an deformierte Form von Anerkennungspolitik war äußerst folgenreich, nicht zuletzt, weil damit beträchtliche Teile progressiver sozialer Bewegungen geködert und dazu gebracht werden konnten, sich dem neuen hegemonialen Block anzuschließen. Selbstverständlich ist es nicht gelungen, alle Feminist*innen, Antirassist*innen oder Vertreter*innen des Multikulturalismus für das progressive neoliberale Bündnis zu gewinnen. Aber diejenigen, die überliefen, ob nun wissentlich oder eher unbewusst, machten den größten und sichtbarsten Teil ihrer jeweiligen Bewegungen aus, während diejenigen, die dieser Versuchung widerstanden, immer mehr an den Rand gedrängt wurden.
Im progressiven neoliberalen Block wurde den Progressiven nicht mehr als die Rolle des Juniorpartners zugestanden, sie hatten selbstverständlich viel weniger Einfluss als all die Wall-Street-, Hollywood- und Silicon-Valley-Repräsentanten. Und doch verliehen sie dieser gefährlichen Liaison etwas Unentbehrliches: nämlich Charisma, einen “neuen Geist des Kapitalismus”. Dieser neue „Geist“, der eine Aura der Emanzipation verströmte, lud den düsteren neoliberalen ökonomischen Part mit etwas Aufregendem, fortschrittlich und kosmopolitisch Daherkommenden auf, was deren Vertreter*innen eine Art moralische Überlegenheit verschaffte. So kam es, dass Maßnahmen, die eindeutig für eine umfassende Umverteilung von Reichtum und Einkommen von unten nach oben verantwortlich sind, auf einmal als akzeptabel und gerechtfertigt galten.
Um Hegemonie zu erringen, musste der neu sich herausbildende progressive neoliberale Block jedoch mindestens zwei ernsthafte Rivalen bezwingen. Zunächst einmal stand er vor der Herausforderung, die noch immer wirkmächtigen Überreste der New-Deal-Koalition aus dem Weg zu räumen. Die Aufgabe, dieses alte Bündnis aus gewerkschaftlich organisierten Arbeiter*innen, Immigrantengruppen, der afroamerikanischen Bevölkerung, den städtischen Mittelschichten und Teilen des industriellen Großkapitals zu zerstören, erledigte der Clinton’sche Flügel der Demokratischen Partei relativ geräuschlos und griff damit der Strategie von „New Labour“ in Großbritannien vor. Das über mehrere Jahrzehnte äußerst erfolgreiche New-Deal-Bündnis wurde abgelöst durch eine neue gegründete Allianz aus Unternehmer- und Bankenvertreter*innen, Suburbaniten, “symbolischen Arbeiter*innen”, neuen sozialen Bewegungen, einem großen Teil der hispanischen Bevölkerung und vielen Jungwähler*innen. Da die Organisationen der afroamerikanischen Bevölkerung keine andere Bündnisoption sahen, unterstützten sie ebenso mehrheitlich diesen neuen Block. Als 1991/92 die Nominierung des Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei anstand, punktete Bill Clinton insbesondere mit seinem Bekenntnis zu Diversität, Multikulturalismus und Frauenrechten, während er gleichzeitig die ersten Vorbereitungen traf, um sich dem Finanzsektor anzudienen.
Die vorübergehende Zurückdrängung des reaktionären Neoliberalismus
Der zweite Konkurrent, den der Block des progressiven Neoliberalismus besiegen musste und mit dem ihn viel mehr verbindet, als seine Vertreter*innen öffentlich zugeben wollen, ist der reaktionäre Neoliberalismus. Dieser hat seine Heimat vor allem in der Republikanischen Partei und ist noch weniger kohärent als sein progressiver Rivale. Das, was diesen Block im Wesentlichen vom dem der „New Democrats“ und ihren Anhänger*innen unterschied, ist seine Position gegenüber sogenannten Minderheiten. Die reaktionären Neoliberalen brüsteten sich damit, kleine und mittlere Unternehmer sowie das einheimische Handwerk zu fördern, faktisch galten ihre Bemühungen aber vor allem der weiteren Stärkung des mächtigen Finanzsektors, der Rüstungsindustrie, des Ölbusiness und anderen auf Extraktivismus setztenden Energiesektoren – das alles, versteht sich, zum Wohle des oberen ein Prozent weltweit. Um diese Politik der eigenen Basis schmackhaft zu machen und diese bei der Stange zu halten, verständigten sich die Anführer*innen dieses Blocks darüber hinaus auf eine Strategie der Ausgrenzung und Konservierung von gesellschaftlichen Hierarchien. Sie vertraten einen ethnischen Nationalismus, wetterten gegen Einwanderung, äußerten sich zum Teil offen rassistisch, gaben sich prochristlich und nahmen eindeutig patriarchale sowie homophobe Positionen ein.
Für mehrere Jahrzehnte sollte dies ein eher unwahrscheinliches und alles andere als konfliktfreies Bündnis zwischen christlichen Evangelikalen, weißen Südstaatler*innen, dem ländlichen und kleinstädtischen Amerika, unzufriedenen Teilen der weißen Arbeiterklasse sowie Libertären, Tea-Party-Anhänger*innen, der Handelskammer, den Koch-Brüdern, Bankern, Immobilienmagnaten, Energiemogulen, Risikokapitalgesellschaften und Hedgefonds-Spekulanten ermöglichen. Von einigen sektorial bedingten Abweichungen einmal abgesehen, unterschied sich der reaktionäre Neoliberalismus bei den großen Themen der politischen Ökonomie aber nicht grundlegend von seinem Rivalen, dem progressiven Neoliberalismus. Wenn überhaupt, dann stritten sich die beiden Parteien hin und wieder über die Höhe der Besteuerung der Reichen, wobei die Demokraten am Ende gewöhnlich kleinbeigaben. Beide Blöcke traten für „Freihandel“ und eine Deregulierung des Finanzwesens ein, befürworteten möglichst niedrige Unternehmenssteuern, waren für eine Einschränkung von Arbeitnehmerrechten, betonten den Vorrang von Shareholder-Interessen und das Prinzip „The winner takes it all“. Zudem wählten sich beide Blöcke Führungspersönlichkeiten an die Spitze, die versuchten, die Beschneidung von sozialen Rechten und Ansprüchen als eine Bargaining-Politik zu verkaufen, von der am Ende die gesamte Gesellschaft profitieren würde. Der wesentliche Unterschied zwischen ihnen betraf die Frage der Anerkennung, bei Verteilungsfragen waren sie sich im Großen und Ganzen einig.
Am Ende hatte der progressive Neoliberalismus auch in diesem Rennen die Nase vorn. Der Preis dafür war jedoch hoch. Im Niedergang befindliche Industriezentren, insbesondere der sogenannte „Rust Belt“ im Mittleren Westen und ganze Gebiete im Süden des Landes, wurden geopfert. Es waren insbesondere drei Projekte von Bill Clinton und seinen neuen Demokraten, die diesen bereits wirtschaftlich stark gebeutelten Regionen in den 1990er Jahren die entscheidenden letzten Schläge verpassten: NAFTA, Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation (was zum Teil als demokratiefördernde Maßnahme gerechtfertigt wurde) und die Aufhebung des Glass-Steagall Act.[1]