Die Aufstände dieses Sommers haben die Vereinigten Staaten dazu gezwungen, sich mit dem tief in der Gesellschaft verankerten Rassismus auseinanderzusetzen. Der Lynchmord an George Floyd zerriss den Segregationsschleier und enthüllte die Lebensrealität von Millionen Afroamerikaner*innen – und den nicht enden wollenden Verlust immer mehr Schwarzer Leben. Der Tod Zehntausender Afroamerikaner*innen durch das sich rapide verbreitende Corona-Virus, die Aufnahmen von der Hinrichtung von Ahmaud Arbery durch zwei Weiße Männer in Georgia, die Berichte vom brutalen Mordan Breonna Taylor durch die Polizei in Louisville und dann der schreckliche Mord an Floyd in Minneapolis haben einer breiteren Öffentlichkeit bewusst gemacht, dass es im Schwarzen Amerika einen Polizeistaat gibt.

Im Juni wurde deutlich, dass die Beharrlichkeit und Dauer der Proteste eine historische Veränderung in der Wahrnehmung Weißer Menschen ausgelöst hatten. Eine landesweite Umfrage zeigte eine beispiellose Verschiebung der öffentlichen Meinung. Demnach waren 71 Prozent der Weißen Bevölkerung der Ansicht, dass Rassismus und Diskriminierung in den USA ein «großes Problem» darstellten, und 55 Prozent sahen die Wut der Protestierenden als gerechtfertigt an. In einer anderen Umfrage brachten 55 Prozent Unterstützung für die Black-Lives-Matter-Bewegung zum Ausdruck. Diese Zeitenwende spiegelte sich in einer Welle öffentlicher Versöhnungsgesten wider. Führungskräfte überall gestanden die Rolle ihres Unternehmens in der Aufrechterhaltung rassifizierter Ungleichheit ein – wenn sie sich auch nicht gänzlich dafür verantwortlich erklären wollten.

Die Nascar untersagte das Zeigen der Konföderiertenflagge auf ihren Veranstaltungen. Juneteenth, schon lange ein inoffizieller Feiertag unter Afroamerikaner*innen, wurde plötzlich zum offiziellen, entlohnten Feiertag. Der ehemalige Präsident George W. Bush verurteilte «systemischen Rassismus». In gewisser Weise ist der schnelle, reflexartige Rückgriff auf eine symbolische Anerkennung des Rassismus nichts Neues: Kein anderes Land ergeht sich so oft im ausgehöhlten Nichts leerer Entschuldigungen wie die USA. Wenn es um Schwarze Amerikaner*innen geht, lässt sich das am besten in der Ankündigung angeblich großer Bürgerrechtsgesetze erkennen, die am Ende «kompromittiert, verschoben oder rückgängig gemacht werden», wie Historiker Leon Litwack schrieb.

Ganz klar ist es eine feige Geste, wenn Multi-Milliarden-Dollar-Unternehmen sich den Black-Lives-Matter-Slogan aneignen und damit erklären, man müsse das Leben Schwarzer Menschen wertschätzen, sich aber gleichzeitig weigern, ihren Arbeiter*innen Gefahrenzulage, bezahlte Pausen oder existenzsichernde Löhne zuzugestehen. Trotzdem zeigen die Bemühungen der Elite, sich vom «systemischen Rassismus» reinzuwaschen, noch einmal deutlich, dass Rassismus sich nicht nur in brennenden Kreuzen und im N-Wort ausdrückt: Rassismus findet sich im Immobilienmarkt, im Hochschulwesen, im Arbeitsmarkt und ganz sicher im Polizeiwesen wie im Strafjustizsystem. Jetzt, da die Coronavirus-Pandemie und die Aufstände die strukturellen Probleme der amerikanischen Gesellschaft offengelegt haben, werden auch wieder strukturelle Lösungsansätze diskutiert. So konnte die noch vor wenigen Monaten nur aus marginalisierten Ecken erhobene Forderung, die Polizeibudgets zu kürzen («defund the police»), zum zentralen Stichwort der sich wieder im Aufschwung befinden Black-Lives-Matter-Bewegung werden.

Die Parallelen zu den Freiheitskämpfen der 1960er Jahre sind offenkundig. Genau wie jetzt argumentierten damals Schwarze Revolutionäre, wie Martin Luther King Jr., gegen die rassistische Behauptung, Armut und soziale Marginalisierung hätten ihre Ursache in gestörten Familienstrukturen, die typisch sei bei Schwarzen Familien. Sie schafften damit Platz für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Leben Schwarzer Menschen in den USA. Damals wie heute zeigten militante Aktivist*innen den Zusammenhang zwischen Schwarzer Armut und allgegenwärtiger rassistischer Diskriminierung auf – wie er sich an öffentlichen Schulen, im Berufsleben oder im Zugang zu guten Wohnverhältnissen zeigt. Sie verwiesen auch auf die finanziellen Interessen hinter der Aufrechterhaltung dieser Ungleichheit. Militante Schwarze Aktivist*innen sahen in der finanziellen Misere vieler Schwarzer Menschen einen Beweis dafür, dass ihre marginalisierten Communities eine Art «Kolonien» innerhalb der Vereinigten Staaten darstellten. Einige bezeichneten die bedrückenden Lebensumstände in Schwarzen Stadtvierteln als «internen Kolonialismus», der sich zum Beispiel in der Praxis weißer Vermieter*innen ausdrückte, astronomische Summen für rattenbefallene Wohnungen zu verlangen oder darin, dass in Läden Ratenzahlungen mit unverantwortbaren Zinssätzen angeboten wurden – all das war möglich, weil Afroamerikaner*innen einen faktisch segregierten und monopolisierbaren Markt darstellten.

Als Antwort auf diesen organisierten Diebstahl prägten die Schwarzen Militanten Stokely Carmichael und Charles V. Hamilton 1967 in ihrem bahnbrechenden Buch «Black Power» den Begriff des «institutionellen Rassismus». Carmichael und Hamilton unterschieden dabei zwischen «individuellen» rassistischen Handlungen und emotionslosen «institutionellen» Vorgängen, in denen weniger die Intentionen der Täter*innen relevant waren, als die Auswirkungen auf das Leben Schwarzer Menschen. Institutioneller Rassismus, so schrieben sie, sei «weniger offensichtlich, weitaus subtiler, und schwerer zu erkennen. Die Auswirkungen auf ein menschliches Leben sind allerdings nicht weniger vernichtend.» Weiter beschrieben Carmichael und Hamilton, wie der institutionelle Rassismus «schwarze Menschen in heruntergekommenen Slums festhält, wo sie täglich der Habgier ausbeuterischer Vermieter*innen, Händler*innen, Kredithaie und diskriminierender Immobilienmakler*innen ausgesetzt sind. Die Gesellschaft tut entweder so, als sei sie sich dieser Situation nicht bewusst, oder nicht in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen.»

Vom Kampf gegen die Armut zum Ausbau der Polizei

Aus der Erkenntnis, dass Schwarze Ungleichheit sich vorrangig aus institutionellem Rassismus und nicht aus irgendeiner verderblichen «Kultur der Armut» speist, ergab sich auch die Notwendigkeit institutioneller Lösungen. Vor diesem Hintergrund fand während der Amtszeit von Lyndon B. Johnson eine massive Ausdehnung des Wohlfahrtstaates statt. Auf Drängen des Präsidenten verabschiedete der US-Kongress zwischen 1963 und 1968 fast zweihundert Gesetze im Rahmen des «Kriegs gegen die Armut» («War on Poverty») und der sozialen «Great Society»-Programme. Von der Gründung des Ministeriums für Wohnungsbau und Stadtentwicklung über das kompensatorische Bildungsprogramm «Head Start» bis zu Lebensmittelmarken und der Gesundheitsversorgung durch Medicare sollten diese Maßnahmen ein Netz zur Absicherung bilden. In den 1960er Jahren wuchsen die Ausgaben für Programme zur Armutsbekämpfung um mehrere zehn Milliarden Dollar, was landesweit zu einem dramatischen Rückgang von in Armut lebenden Menschen führte. Lag die Armutsrate zu Beginn landesweiter amtlicher Messungen im Jahr 1959 bei hohen 22 Prozent, so war sie in den frühen 1970er Jahren auf 11 Prozent gesunken.

Die hohen staatlichen Ausgaben beschränkten sich aber nicht auf die Armutsbekämpfung. Aus verschiedenen Gründen stiegen Mitte der 1960er Jahre die Kriminalitätsraten. Das hatte zum einen mit der Art und Weise zu tun, wie Verbrechen gezählt und gemeldet wurden. Zum anderen trugen auch Schwarze Aufstände gegen Rassismus und Polizeigewalt zu diesem Anstieg bei, genauso wie die Abwanderung der Schwarzen Bevölkerung in die Städte, wo sie keine wirklichen Berufsaussichten vorfanden. Die ansteigende Kriminalität führte zu mehr Polizeipräsenz, was wiederum die Wahrscheinlichkeit von Missbrauch und Gewalt seitens der Polizei erhöhte.

Auch wenn die Demokrat*innen 1964 die Verabschiedung des „Civil Rights Act“ und das Ende diskriminierender «Jim Crow»-Gesetze in den Südstaaten feierten, kochte in den Schwarzen Epizentren im Norden die Frustrationen über. In Harlem und Philadelphia kam es in jenem Sommer zu Aufständen gegen Arbeitslosigkeit, Unterbezahlung, schlechte Wohnverhältnisse und die allgegenwärtige Polizeigewalt. Hunderte wurden festgenommen, die Sachschäden beliefen sich auf mehrere Millionen Dollar; all das kündete von einer neuen Phase in der Bewegung für Schwarze Rechte im ganzen Land an. Angesichts der zunehmenden Revolten gegen die Lebensumstände in urbanen Gegenden wandte sich der Präsident an die Polizeibehörden. Sie sollten die implodierenden Städte wieder unter Kontrolle zu bringen. Die Lösung – darin waren sich Demokrat*innen und Republikaner*innen einig – sei ein Ausbau und eine verbesserte Ausbildung der Polizei.

Am 8. März 1965, dem Tag nach dem historischen «Bloody Sunday»-Marsch auf Selma, Alabama, der vom inzwischen verstorbenen John Lewis angeführt wurde, kündigte Präsident Johnson eine neue Gesetzgebung an, die die amerikanischen Polizeibehörden mit staatlichen Geldern aufrüsten sollte. Ungeachtet der landesweit ausgestrahlten Bilder des brutalen Vorgehens der Polizei Alabamas gegen Bürgerrechts-Aktivist*innen auf der Edmund-Pettus-Brücke vom Vortag bezog sich Johnson in seinen Kommentaren lediglich auf die Kriminalität in Städten: «Kein Recht ist wesentlicher für unsere Gesellschaft als das Recht auf persönliche Sicherheit, und kein anderes Recht muss heute mit größerer Dringlichkeit verteidigt werden», sagte er.

Zum Ende der 1960er Jahre hatten sich die Johnson-Regierung und die nachfolgende Nixon-Regierung darauf geeinigt, die städtischen, Schwarzen Rebellionen als Schwarze Gesetzlosigkeit darzustellen, auf die man mit einer besser ausgebildeten Polizei und intensiveren Strafverfolgung antworten müsse. In ihrem Buch «From the War on Poverty to the War on Crime» (2016) hat Historikerin Elizabeth Hinton gezeigt, wie liberale Entscheidungsträger*innen auf lokaler und nationaler Ebene zwar die Ursachen für Kriminalität anprangerten, ihre Politik allerdings eine Ausdehnung exekutiver Gewalt gegen die Proteste verfolgte, die aufgrund der ausweglosen Situation in den Städten ausgebrochen waren. Die Kerner-Kommission befürwortete in ihrem Report zu den Unruhen von 1967 einerseits eine Ausweitung von Regierungsprogrammen, um der rassifizierten Ungerechtigkeit entgegenzuwirken, die die Aufstände befeuerte; in dieser Hinsicht stellte sie den Inbegriff einer interventionistischen, liberalen Regierungspolitik dar. Gleichzeitig empfahl sie aber eine exponentielle Zunahme der Polizeipräsenz in urbanen Gegenden, warnte vor einer bevorstehenden Kriminalitätswelle, die von der Schwarzen Jugend ausgehen würde, und riet zu verschiedenen Methoden zur Eindämmung von Unruhen. Die Verkündung von «Recht und Ordnung» («Law and Order»), mit der man sich in den Südstaaten der Forderung nach «Freedom Now» aggressiv entgegen gesetzt hatte, entwickelte sich nun zur Antwort des Establishments auf «Black Power». Relevant ist in diesem Kontext, dass Nixon die Aufstände als Auswüchse der «Great Society»-Sozialreformen beklagte und in ihnen die Ursache des Zerfalls der sozialen Ordnung sah. 1968 verband er diese verschiedenen Stränge in seiner Rede zur Nominierung als republikanischer Präsidentschaftskandidat: «Wir müssen am heutigen Abend ehrlich über Recht und Ordnung in den Vereinigten Staaten sprechen», so Nixon. «Die Polizei, die die Verantwortung trägt, unser Recht durchzusetzen und unsere Gerichte, die die Verantwortung tragen, es zu interpretieren, mögen sich den Bürgerrechten verpflichtet fühlen. Aber sie sollten sich auch darüber im Klaren sein, dass es das vorderste Recht eines jeden Amerikaners ist, zu Hause frei von Gewalt zu leben, und dieses Recht muss in diesem Land geschützt werden.» Schließlich stellte er fest: «Eine Flut von Sozialprogrammen hat uns überwältigt; Programme für Arbeitslose, Programme für Städte, Programme für Arme. Unser Ertrag aus diesen Programmen ist grässliche Frustration, Gewalt und Versagen im Land.»

Die Wende hin zur Politik der Strafverfolgung 

Indem sie das Schwarze Aufbegehren als gesetzloses Chaos darstellten, lenkten zuerst Johnson und dann Nixon den Fokus vom systemischen Rassismus auf die Kriminalität. Die Politikwissenschaftlerin Naomi Murakawa beschrieb diese Situation folgendermaßen: «Die USA hatten kein rassifiziertes Kriminalitätsproblem; sie hatten ein Rassismus-Problem, das zu Kriminalisierung führte.»

Die Politik instrumentalisierte die Kriminalitätsfrage, um von den Ursachen der Unruhen abzulenken, gleichzeitig stellte Kriminalität aber auch eine Realität im Leben der Schwarzen Arbeiterklasse dar. Der lang anhaltende Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit wich in den frühen 1970er Jahren einer Rezession, die noch mehr Leiden und Verzweiflung mit sich brachte. Zwischen 1972 und 1975 stieg die Arbeitslosenrate in der Schwarzen Bevölkerung von 10 auf 15 Prozent. In der gleichen, kurzen Zeitspanne verzeichneten bundesweite Statistiken einen Zuwachs von Gewaltverbrechen um vier Millionen, was in Schwarzen Communities wiederum zu einem spürbaren Verlangen führte, dass dagegen mehr unternommen werden sollte – auch auf polizeilicher Ebene, wie Rechtwissenschaftler James Forman Jr. festgestellt hat. Die Mittel, die aus den «Great Society»-Programme abgezogen wurden, hätten die schlimmsten Ausmaße der Rezession von 1973 bis 1975 lindern können, und damit auch die ansteigenden Kriminalitätsraten. Zahlreiche Umfragen, die nach verschiedenen Unruhen gemacht wurden, zeigten, dass eine Mehrheit der Meinung war, bessere Jobs, Wohnbedingungen und Aussichten könnten der Ungleichheit entgegenwirken. Und sie stimmten auch zu, dass Kriminalität eine Folge von Ungleichheit sei. Als der Wohlstand der 1960er Jahre in den 1970er Jahren von Rezession und Stillstand abgelöst wurde, gewannen jedoch rassifizierende Ressentiments an Zugkraft und bestimmten die Reaktion auf die damalige soziale Krise.

Der Wechsel zu einer Politik der Strafverfolgung war nicht bloßer eine politische Idee, die sich von einer Regierung zur anderen wieder ändern würde. Er bedeutete einen grundsätzlichen Wandel in der amerikanischen Politik. Dies wurde unter anderem am zunehmenden Widerwillen deutlich, den die Demokraten nun Sozialhilfen und der Ursachenanalyse für Kriminalität entgegenbrachten. Die Entwicklung lässt sich auch an den veränderten Ausgabenmustern im gesamten Strafjustizsystem aufzeigen.

Von 1977 bis 2017 stiegen die nationalen und lokalen Ausgaben für Polizeibehörden, an die Inflationsrate angepasst, von 42 Milliarden Dollar auf 115 Milliarden Dollar. Auch die sinkenden Kriminalitätsraten in den frühen 1990er Jahren änderten nichts an dieser extremen Zunahme. Das Center for Popular Democracy hat festgestellt, dass heutzutage Chicago, Oakland, Houston, Minneapolis, Orlando und Detroit jeweils mindestens dreißig Prozent ihres gesamten und nicht zweckgebundenen Budgets für ihre Polizeibehörden verwenden. Die mehreren hundert Millionen Dollar, die Kommunen im ganzen Land zur Beilegung von Gerichtsverfahren in Zusammenhang mit Polizeigewalt bezahlen, sind in diesen Ausgaben noch nicht berücksichtigt. Nach Berichten von ABC News haben Gerichtsverfahren gegen Polizist*innen allein im letzten Jahramerikanische Steuerzahler*innen mehr als 300 Millionen Dollar gekostet. Viele Stadtverwaltungen sehen dies wohl als notwendiges Übel an.

Vierzig Jahre lang hat die Demokratische Partei unter der Befürchtung regiert, man könnte ihr vorwerfen, nicht hart genug gegen die Kriminalität durchzugreifen. Auf nationaler und auf regionaler Ebene hat die Partei deshalb eine Politik der harten Hand verfolgt und beispielsweise der Aufstockung von Polizeimitteln den Vorrang vor anderen Programmen gegeben, die notwendig wären, um Rassismus-bedingte Ungerechtigkeiten zu beheben. Es ist bezeichnend, dass Philadelphia, die Stadt mit der höchsten Armutsrate US-amerikanischer Großstädte, seit 1977 kein öffentliches Krankenhaus mehr hat. Gleichzeitig finanziert Philadelphia ungeachtet sinkender Kriminalitätsraten ihre Polizei mit jährlich mehreren hundert Millionen Dollar.

Die "Defund"-Kampagne bringt erste Erfolge

In den Tagen, nachdem die Proteste auch die Straßen Philadelphias erreicht hatten, wollte Bürgermeister Jim Kenney eine geplante Erhöhung der Polizeimittel um 19 Millionen Dollar bewilligen. Gleichzeitig waren städtische Haushaltskürzungen im Wert von 370 Millionen Dollar vorgesehen. Es sollten unter anderem 21 Prozent der Gelder für Initiativen gegen Gewaltund 18 Prozent für eine Beschwerdestelle der Polizei (Police Advisory Committee) gekürzt werden. Zudem wollte Kenney Millionen bei Sozialwohnungsprogrammen kürzen – trotz der enormen Wohnungsnot, mit der sich arme und der Arbeiterklasse angehörende Schwarze Mieter*innen und Eigentümer*innen konfrontiert sehen.

Die Protestierenden in Philadelphia haben dieser Politik der Kenney-Verwaltung einen Riegel vorgeschoben. Am 6. Juni drängten sich mehrere zehntausend Menschen auf dem Benjamin Franklin Parkway im Stadtzentrum, um in einer spontan organisierten Demonstration unter dem Black-Lives-Matter-Banner gegen den Haushaltsplan zu protestieren. Der Protest war der größte, den Philadelphia seit Jahren gesehen hatte, und zwang den Bürgermeister dazu, von der Erhöhung der Gelder für die Polizei abzusehen und einige der Kürzungen für Jugendprogramme rückgängig zu machen. Trotz dieser Änderungen kann die Polizei von Philadelphia immer noch mit 727 Millionen Dollar rechnen, dem größten Posten im kommunalen Haushalt. Auch wurden keine Polizeibeamt*innen entlassen, während hunderte von städtischen Angestellten aufgrund der Pandemie ihre Arbeit verloren. Kenney behauptete Solidarität und Sympathien gegenüber den Protestierenden, allerdings sieht man erst am Haushalt einer Stadt, wie wichtig ihren Politiker*innen Schwarze Menschen tatsächlich sind.

Gewalt statt Sicherheit

Die Floyd-Aufstände haben neue Bewegung in den Kampf für echte Sicherheit in den Communities der Schwarzen Arbeiterklasse gebracht: Sie unterstrichen die Notwendigkeit von sicher finanzierten öffentlichen Dienstleistungen, guten Arbeitsplätzen und sicheren und schönen Wohnverhältnissen fern von bedrohlicher Polizeipräsenz. Diese neue Welt lässt sich allerdings nur schwerlich aus der Realität existierender Gewalt und Kriminalität hervorbringen. Mit Ausbruch der Unruhen kam es landesweit auch zu einer dramatischen Zunahme der Waffengewalt in Schwarzen Gemeinden. In Philadelphia gab es 30 Prozent mehr Schießereien als im Vorjahr; am Wochenende um den 4. Juli wurden innerhalb von 24 Stunden 23 Menschen angeschossen oder erschossen. In Atlanta wurden am selben Wochenende 31 Menschen in 11 verschiedenen Vorfällen angeschossen, fünf davon kamen dabei ums Leben. New York City zählte über die Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag 64 Schießereien und 10 Tote. In Chicago begannen die Schießereien fast zeitgleich mit den Protesten gegen Polizeibrutalität auf den Straßen. Sechs Tage nach dem Mord an George Floyd am 31. Mai wurden in Chicago 18 Menschen ermordet, die meisten Schwarz. Nie zuvor in den 60 Jahren seit Anfang der Aufzeichnungen hat es eine so hohe Anzahl an Toten durch Waffengewalt innerhalb von 24 Stunden gegeben.

In Chicago und auch an anderen Orten sind Afroamerikaner*innen nicht nur diejenigen, die am meisten unter der Waffengewalt leiden, sondern auch diejenigen, die sich gegen Kriminalität in ihrem Stadtviertel organisieren. Ihre Bemühungen werden normalerweise nicht wahrgenommen, da sie nicht in das gängige «Recht und Ordnung»-Weltbild passen. Stattdessen haben Donald Trump und eine Unzahl rechter Fanatiker*innen das Ausmaß an Schwarzem Sterben in Chicago zu einem rassistischen Bild verdreht. Der Schmerz, den Schwarze Communities auf Grund der rücksichtslosen Waffengewalt erfahren, ist für sie zweitrangig – falls sie ihn überhaupt wahrnehmen. Trump und sein Gefolge in der Republikanischen Partei kümmern sich nicht um Leben und Tod Schwarzer Menschen in den Vereinigten Staaten. Trump hat einmal Baltimore als «ekelhaftes, ratten- und nagetierverseuchtes Chaos» beschrieben, in dem «kein Mensch leben wollen würde.» Der Grundtenor der Aussage machte deutlich, dass jede beliebige Stadt mit einem großen Anteil Schwarzer Bevölkerung gemeint sein könnte. Seit über 50 Jahren pushen Republikaner*innen an der vordersten Front Maßnahmen, die die Mühsal, die zum Inbegriff Schwarzen Lebens geworden ist, noch verstärken. Die meisten Afroamerikaner*innen sind sich darüber im Klaren – deshalb stößt die Republikanische Partei auch auf taube Ohren, wenn sie sich mit ihren mit der Ideologie weißer Vorherrschaft («white supremacy») verpesteten Reden an das Schwarze Amerika wendet.

Mit ihrer Rhetorik rund um die Kriminalität zwischen Schwarzen Menschen (Black-on-Black crime) instrumentalisiert die Rechte nicht nur Schwarzes Sterben zu ihrem politischen Vorteil, sie erschwert zudem die wichtige Unterscheidung zwischen horizontaler Gewalt einerseits und staatlicher Gewalt andererseits. Diese Unterscheidung zu machen, bedeutet nicht, die tiefe Verzweiflung und Trauer über sinnlose Morde zu verharmlosen, die Schwarze Stadtviertel Chicagos und anderer Städte in Angst versetzen. Vielmehr verdeutlicht der Blick auf die Polizeipräsenz in diesen Commuities, wie sehr sie von polizeilicher Gewalt und deren Methoden der Einschüchterung durchdrungen sind.

Polizeibrutalität ist seit Jahrzehnten das zentrale politische Schlagwort, hinter dem sich Schwarze Communities sammeln. Sie ist der eindeutige Beweis dafür, dass arme und der Arbeiterklasse angehörende Afroamerikaner*innen als Bürger*innen zweiter Klasse behandelt werden. Wenn die Polizei dich nach Belieben auf der Straße anhalten kann, um dich zu befragen, zu durchsuchen und zu schlagen, womöglich festzunehmen und gelegentlich zu ermorden, dann bist du kein*e gleichberechtigte*r Bürger*in. Die Begegnung Schwarzer Menschen mit der Polizei und dem Strafjustizsystem stellt oft tiefe und erschütternde Einschnitte im Leben der Betroffenen dar. Der Verlust einer geliebten Person durch lokale Waffengewalt ist selbstverständlich auch ein furchtbares Ereignis, es fehlt jedoch ein Element, das für Begegnungen mit der Staatsgewalt zentral ist: die Aufhebung grundlegender sozialer und Menschenrechte.

Das ist keine Übertreibung, sondern die gelebte Erfahrung, die nicht nur durchschnittliche Schwarze Chicagoer*innen machen müssen. Die Polizeibehörden Chicagos sind unter Afroamerikaner*innen in der Stadt berühmt-berüchtigt: von ihrer Rolle in der Ermordung des Black Panther-Aktivisten Fred Hampton im Jahr 1969 bis hin zum Folterskandal, der sich von den 1970er Jahren bis in die 1990er Jahre zog und für den sich die Stadtverwaltung 2016 endlich verantwortlich erklärte, als den überlebenden Opfern eine Entschädigung ausgezahlt wurde. Das Vermächtnis von Rassismus und Brutalität besteht weiter. Man werfe zum Beispiel einen Blick auf den Bericht der Kontrollkommission für die Polizei von Chicago (Chicago Police Accountability Task Force) von 2016, die vom damaligen Bürgermeister Rahm Emanuel nach dem Mord am 17-jährigen Laquan McDonald eingesetzt wurde. Der Kommission zufolge belegt McDonalds Tod „den tiefen und lang anhaltenden Konflikt zwischen Schwarzen und Latino-Communities einerseits und der Polizei andererseits. Dies sei deutlich eine Folge des Schusswaffengebrauchs der Polizei, aber auch der täglichen und allgegenwärtigen polizeilichen Übergriffe, die Menschen aller Altersgruppen, Ethnien und Geschlechter in ganz Chicago daran hinderten, sich in ihrer eigenen Nachbarschaft frei zu bewegen. Ohne Vorwand angehalten zu werden, verbal und körperlich misshandelt, in manchen Fällen festgenommen und dann ohne rechtliche Beratung inhaftiert – so lautet die Erfahrung, von der man immer wieder hört.“

Tatsächlich kam die Untersuchung zu folgendem Schluss: «Die Unterlagen der Polizeibehörde von Chicago belegen die weit verbreitete Annahme, dass die Polizei keinerlei Wertschätzung für die Leben von People of Color hat.»

Für die politische Rechte und auch für viele Entscheidungsträger*innen der Demokratischen Partei in Chicago ist es sehr einfach geworden, Fragen von Kriminalität und Gewalt auf böse Einzeltäter*innen zu reduzieren, unter denen sich dann auch mal ein*e Polizeibeamt*in finden lässt. Viel schwieriger ist es hingegen damit umzugehen, dass rassistische Segregation, Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt und andere ausbeuterische Immobilienpraktiken den Schwarzen Communities über Jahrhunderte die Luft zum Atmen genommen wurde. Chicagos Stadtverwaltung hat die Situation von einer Regierung zur nächsten nur verschlimmert. Öffentliche Schulen wurden geschlossen, Sozialwohnungen abgerissen, psychotherapeutische Einrichtungen aufgegeben – und somit arme und der Arbeiterklasse angehörende Schwarze Menschen im Stich gelassen. Um die 32 Prozent Schwarzer Chicagoer*innen leben unterhalb der offiziellen Armutsgrenze – eine Ziffer, an der sich in den letzten fünfzig Jahren kaum etwas verändert hat, und die sechs Prozentpunkte über der nationalen Armutsrate für Schwarze Menschen liegt. Chicago ist eine reiche Stadt, aber diejenigen, die es am nötigsten hätten, profitieren von diesem Reichtum nicht.

Und obwohl die Stadt heutzutage pro Kopf mehr für ihre Polizeibehörden ausgibt als vor fünfzig Jahren, ist das Schwarze Chicago nicht sicherer geworden – sowohl die Gewalt unter den Einwohner*innen als auch die staatliche Gewalt belasten auch die psychische Gesundheit der Bevölkerung. Eine kleine Studie aus dem Jahr 2017 belegt, dass 29 Prozent Schwarzer Frauen in einem im Süden der Stadt gelegenen Viertel an posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, und weitere sieben Prozent eine Reihe der dafür typischen Symptome aufweisen. Eine neuere Studie zu Chicago zeigt, dass die Kombination aus Polizeigewalt und Gewalt unter den Einwohner*innen zu mehr sozialer Isolation, Einsamkeit und Hypervigilanz führen. All diese Faktoren erhöhen den Stress und verschärften die ungesunden Lebensumstände, was wiederum dazu beiträgt, dass schwere Krankheitsverläufe bei COVID-Infektionen unter Afroamerikaner*innen besonders häufig sind. Auch die Selbstmordrate unter Schwarzen in Chicago im Jahr 2020 übertrifft jetzt schon die des gesamten Vorjahres. Diese Communities brauchen keine Polizeipräsenz, sondern ärztliche Versorgung und Pflege und die Ressourcen, um sich nach jahrzehntelangem Rassismus und institutioneller Vernachlässigung wieder zu erholen.

Eine Regierung nach der anderen hat es in Chicago versäumt, die Stadt für gewöhnliche Schwarze Bürger*innen lebenswert zu gestalten. Stattdessen wird das alte Rezept, nämlich mehr in die Polizei und weniger in die Nachbarschaften zu investieren, von jeder neuen Verwaltung nur neu aufgelegt. Dass auf die dringende Not in Chicagos Schwarzen Arbeitervierteln keine Antworten gefunden werden, hat viele dazu gezwungen, die Stadt zu verlassen. Zwischen 2000 und 2016 sind – Zuzüge eingerechnet – mehr als 200.000 Schwarze Chicagoer*innen aus der Stadt geflohen. Der üblichen Erklärung, sie hätten der Gewalt zwischen den Anwohner*innen in Schwarzen Vierteln entkommen wollen, sei entgegengehalten, dass 60 Prozent von ihnen arbeitslos waren.

Armut ist ein zentraler Faktor der eskalierenden Gewalt

Die Coronavirus-Pandemie hat gezeigt – und der Floyd-Aufstand hat es bestätigt – dass große, strukturelle Maßnahmen das absolute Minimum wären, damit Schwarzes Leben in den USA tatsächlich wertgeschätzt wird. Die Forderung, die Polizei-Budgets zu kürzen, adressiert sowohl das Ausmaß der Krise als auch die Notwendigkeit einer ebenso umfassenden Antwort. Die Forderung lenkt den Blick auf den Widerspruch, dass die Polizei kontinuierlich steigende Ausgaben verzeichnet, , während weite Teile des öffentlichen Sektors ausgetroknet wurden. Städte im ganzen Land sind der lebende Beweis dafür. Um Lücken im Haushalt zu füllen, wurden Privatisierungen vorangetrieben und andere marktorientierte Lösungen gewählt. Sozialbauwohnungen wurden durch profitorientierte Wohngesellschaften ersetzt; öffentliche Schulen und Krankenhäusergeschlossen und zu Eigentumswohnungen gemacht; Öffnungszeiten in Bibliotheken auf das absolute Minimum reduziert. Jugend- und Arbeitsbeschaffungsprogramme gehören der Vergangenheit an. Gleichzeitig haben sich Polizeibehörden als nahezu immun gegen die Kündigungen und Sparmaßnahmen erwiesen, denen alle anderen öffentlichen Stellen ausgesetzt sind. Tatsächlich werden die Kürzungen öffentlicher Mittel, die Armut bekämpfen und soziale Mobilität stärken könnten, zum ewigen Vorwand für mehr Polizei.

Als Alexandria Ocasio-Cortez vor kurzem nahelegte, dass die zunehmende Kriminalität in New York mit dem finanziellen Druck zu tun haben könnte, unter dem die Bürger*innen angesichts der Pandemie stehen, erntete sie Entsetzen. Ocasio-Cortez erklärte: «Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass die Leute ihre Miete nicht zahlen können und ihnen das Angst macht. Dann gehen aus dem Haus, um Essen für ihre Kinder zu besorgen, und haben kein Geld. Sie kommen also in eine Lage, in der sie denken, entweder klauen sie jetzt etwas Brot oder sie müssen am Abend hungrig ins Bett gehen.» Und weiter: «Die Vorstellung, Gewaltverbrechen seien auf irgendeine Weise immun gegen oder unabhängig von der wirtschaftlichen Situation, in der sich die Leute befinden, ist meiner Meinung nach ein Irrtum.» Schließlich: «Das ist echte Verzweiflung, selbst wenn es nicht nur um Ladendiebstahl geht – es gibt da eine Skala, die bis hin zum Gewaltverbrechen eskaliert und die sehr wohl mit der wirtschaftlichen Lage zu tun hat, in der sich eine Community gerade befindet.»

Die Aussagen von Ocasio-Cortez versetzten die Rechte logischerweise in große Aufregung versetzten. Das Weiße Haus nutzte die Gelegenheit, um Forderungen nach Budget-Kürzungen der Polizei zurückzuweisen und nannte Ocasio-Cortez’ Statement «absurd». Der Abgeordnete Ted Yoho aus Florida stellte sie auf den Treppen des Kapitols zur Rede und warf ihr vor, sie habe wohl «ihren Verstand verloren», Armut auf diese Weise mit Kriminalität zu verbinden. Als er sich von ihr abwandte, nannte er sie eine «verfickte Hure». Derartige Misogynie geht oft mit der Verachtung von Armut Hand in Hand. Ähnliche Reaktionen gab es allerdings nicht nur in der Rechten. Andrew Cuomo, Demokratischer Gouverneur von New York, brachte sich auch in die Debatte ein und behauptete, es sei «faktisch unmöglich», die Angst vor Wohnungsverlust für den Kriminalitätsanstieg in der Stadt verantwortlich zu machen. Cuomo scheint der Ansicht, das derzeit bestehende Moratorium auf Zwangsräumungen in New York bedeute, dass arme Menschen sich keine Sorgen mehr darüber machen, wie sie ihre Miete bezahlen.

Das Problem wird gravierend dadurch verschärft, dass viele durch Armut verursachte Handlungen strafbar gemacht werden, wie etwa in Autos oder im öffentlichen Raum zu schlafen, um Geld oder Essen zu betteln, in der Öffentlichkeit zu urinieren, auch Ladendiebstahl – all die Dinge, zu denen arme Menschen greifen, wenn sie nicht über die Privatsphäre und Diskretion verfügen, die mit einer eigenen Wohnung einhergehen. Solche Handlungen bringen arme Menschen direkt in Konfrontation mit der Polizei, und die Kriminalisierung von Armut macht es praktisch unmöglich, hier Auswege zu finden.

Diese Entwicklungen betreffen Afroamerikaner*innen insofern deutlich stärker, als sie häufiger von Armut betroffen sind, als weiße Menschen. Festnahmen und strafrechtliche Verurteilungen halten insbesondere Afroamerikaner*innen in erdrückender Niedriglohn- oder illegaler Arbeit gefangen, die das Gefühl von Ausweglosigkeit intensivieren, die in der Black-Lives-Matter-Generation so weit verbreitet sind. In ihrer Autobiographie «Men We Reaped» beschreibt Jesmyn Ward die vergeblichen Bemühungen ihres jüngeren Bruders, sich an der Golfküste Mississippis ein Leben aufzubauen, als «Kreislauf der Vergeblichkeit». Ward schreibt: „Er fand nie eine richtige Arbeitsstelle. Vielleicht haben ihn die Erfahrungen der jungen Männer aus dem Viertel abgeschreckt. Die meisten unter ihnen arbeiteten, bis sie entlassen wurden oder kündigten, weil der Mindestlohn zu lang auf sich warten ließ und dann zu schnell verpuffte. Zwischendrin verkauften sie Dope, bis sie wieder einmal Arbeit als Verkäufer in einem Eckladen, als Hausmeister oder Gärtner fanden.“

Ihr Bruder wurde im Alter von 19 Jahren durch einen alkoholisierten Fahrer getötet. Ward schließt: «Den American Dream gab es für ihn nicht, kein Happy-End, keine Hoffnung.»

Überwachung und Strafe

Wards Buch begleitet Leben und Tod ihres Bruders und vier weiterer junger Schwarzer Männer, die alle in ähnlichen Mühlen der Vergeblichkeit stecken und letzten Endes einen verfrühten Tod bedeuten. Wenn eine solche Hoffnungslosigkeit zum vorzeitigen Tod Weißer Menschen führt, wird sie mit mehr Empathie betrachtet. Auf der Suche nach einer Erklärung für die Phänomene, die hinter der sinkenden Lebenserwartung unter durchschnittlichen Weißen Männern und Frauen stehen könnten, haben Sozialwissenschaftler*innen den Begriff «Tod aus Hoffnungslosigkeit» («deaths of despair») geprägt. Diese Tode, deren direkte Ursache Opioidabhängigkeit, Alkoholismus und Suizid sind, werden mittlerweile vor dem Hintergrund verschärfter persönlicher Prekarität und Unsicherheit im Kontext einer Gesellschaftskrise verstanden. Im Vergleich zur vorangegangenen Ära von Kokainabhängigkeit wird Opioidmissbrauch eher als öffentliches Gesundheitsproblem angesehen. Im gesellschaftlichen Diskurs wir ärztliche Behandlung gegenüber der Inhaftierung vorgezogen.

Einige Amtsträger*innen begründen die Notwendigkeit von Mittelkürzungen bei der Polizei fälschlicherweise mit dem Argument, dass Ressourcen in Sozialleistungen umgeleitet werden müssten, weil die Polizei mit steigender Kriminalität konfrontiert sei, die auf Drogenmissbrauch, Obdachlosigkeit oder psychischen Erkrankungen zurück gehe. Die Abgeordnete Karen Bass, eine Demokratin aus Los Angeles und Vorsitzende der Gruppe afroamerikanischer Mitglieder des Kongresses (Congressional Black Caucus), bezeichnete «defund the police» als «den wohl schlechtesten Slogan aller Zeiten» und stellte kürzlich die rhetorische Frage, warum «die Polizei für gesellschaftliche Probleme herhalten» müsse. Sie fuhr fort: «Warum kümmern sich die Städte nicht um ihre sozialen Probleme, sodass nicht so viel Geld für die Verstärkung der Strafverfolgung ausgegeben werden muss?» Aber es entspricht schlichtweg nicht den Tatsachen, dass Polizeibeamt*innen zu Pflegekräften, Therapeut*innen und Sozialarbeiter*innen geworden sind. Diese Behauptung ist eine Geringschätzung besagter Berufe, die jahrelange Studien- und Ausbildungszeiten voraussetzen, um Menschen professionell zu unterstützen. Bass’ verzerrte Darstellung kündet auch von Verwirrung darüber, was die Polizei generell in solchen Fällen tut – nämlich Menschen, die sich in Krisensituationen befinden oder einfach arm sind, festzunehmen. Ihr Eingriff dient in keiner Weise der Schadensbegrenzung.

Die Verzweiflung, die gewöhnliche Schwarzer Menschen befällt, wird entweder ignoriert oder pathologisiert. Die zweithäufigste Todesursache bei Schwarzen Kindern und Jugendlichen im Alter von 10 bis 19 Jahren ist Suizid; die Suizidrate in dieser Bevölkerungsgruppe steigt schneller als in jeder anderen ethnischen Gruppe in den USA. Zwischen 1991 und 2017 nahmen die Suizidversuche Schwarzer Jugendlicher beider Geschlechter um 73 Prozent zu. Die Drogenmissbrauchs– und Alkoholismusraten in der Schwarzen Bevölkerung weichen nicht wesentlich von der Weißen Bevölkerung ab. Allerdings begegnet man der Entfremdung, die ihrem Drogenkonsum oft unterliegt, nur selten mit dem gleichen Verständnis. Selbst in Krankheit und Trauer werden Schwarze Menschen anders wahrgenommen. Statt nach Ursachen zu suchen, die hinter dem neuen Höchststand an – vorwiegend junge Schwarze Männer betreffende – Schießereien liegen, fällt man auf vereinfachte, rassistische Erklärungen zurück, die auf ein angeblich defizitäres Schwarzes Individuum verweisen. Auf diese Weise macht unsere Gesellschaft viele junge Schwarze Männer und Frauen unsichtbar und letzten Endes entbehrlich. Statt Mitgefühl gibt es Überwachung und Strafe.

New Jim Crow

Die politische Verknüpfung von «race» und Kriminalität trägt in den USA und in anderen Ländern maßgeblich zur Reproduktion rassistischer Ideologie bei. Die überwältigende Polizeipräsenz in Räumen, die als Schwarz wahrgenommen werden – die üblichen Polizeistreifen in bestimmten Stadtvierteln, der Einsatz von Beamt*innen zur Einschüchterung an öffentlichen Schulen, die Polizeistationen in Sozialwohngebäuden –, markieren diese Räume als Gefahrengebiete, in denen das Gesetz hart durchgreifen muss. Die Hyperüberwachung Schwarzer Gegenden führt dazu, dass Schwarze Menschen überproportional häufig festgenommen werden, was wiederum Rechtfertigung für die Forderung nach aggressiverer Polizeiarbeit und härteren Strafen bietet. Diese Polizeipraxen vermengen «race» und Verbrechen und kriminalisieren dadurch Afroamerikaner*innen. Darin liegt der institutionelle Rassismus der US-amerikanischen Polizeiarbeit.

1960 schrieb James Baldwin, dass «Polizeiarbeit in einem Ghetto nur durch Unterdrückung funktioniert.» Darüber hinaus schrieb er über Polizeibeamt*innen: „Ihre bloße Anwesenheit ist eine Anmaßung und das wäre auch dann so, wenn sie den ganzen Tag damit verbrächten, Kindern Gummibonbons auszuteilen. Sie verkörpern die Gewalt der Weißen Welt und diese Welt hat zu ihrem eigenen kriminellen Profit und Komfort schlichtweg die Absicht, den Schwarzen Mann hier eingepfercht zu halten, wo er angeblich hingehört. Die Dienstmarke, die Waffe im Holster und der schwingende Knüppel veranschaulichen lebhaft, was passiert, wenn der Schwarze Mann sich offen dagegen wehrt.“

Die Einschüchterungspraxis ist so tief ins Mark amerikanischer Polizeiarbeit eingeschrieben, dass sie unabhängig davon existiert, ob Beamt*innen Schwarz oder Weiß sind. Die vielleicht bedeutendste Änderung im amerikanischen Polizeiwesen seit der Reformära in den 1960er Jahren war wohl die landesweite Rekrutierung und Ausbildung von mehreren Tausenden Schwarzen Beamt*innen. Der multiethnische Charakter der Polizei nach der Bürgerrechtsbewegung hat aber nicht zu weniger Rassismus, Gewalt oder Festnahmen geführt. Diese Veränderungen begleiteten vielmehr den Anstieg an Masseninhaftierung und schließlich die Explosion der Black-Lives-Matter-Bewegung.

Fortbildungen, die sich mit verinnerlichten Vorurteilen beschäftigen und andere Formen der «kulturellen Kompetenz» fördern sollen, versagen gänzlich im Bestreben, dem ungezügelten Rassismus der Polizei ein Ende zu setzen und die angestrebte soziale Ordnung herzustellen. Keine Fortbildung der Welt ändert etwas daran, dass die Polizei in bestimmten Stadtvierteln eingesetzt wird und nicht in anderen. Sie ändert nichts an der kulturellen Voreingenommenheit darüber, wer Verbrechen begeht. Und Vorerfahrungen mit dem Strafjustizsystem erhöhen die Wahrscheinlichkeit erneuter Begegnungen mit der Polizei. In ihrem Buch «The New Jim Crow» schreibt Michelle Alexander, dass in Chicago «unglaubliche 80 Prozent Schwarzer männlicher Arbeiter» vorbestraft sind. Es ist, als würden nur Schwarze Menschen Straftaten begehen. Das ist aber nur dann der Fall, wenn die Polizei lediglich in bestimmten Stadtvierteln eingesetzt wird, um Menschen zu überwachen, die dem Bild eines Straftäters entsprechen. Diese Festnahmen, und mögliche strafrechtliche Konsequenzen, konstituieren was Alexander mit «New Jim Crow» beschreibt: Die Legitimierung einer völlig sozialen Ausgrenzung ehemals Inhaftierter führt zum sozialen Tod eines großen Teils der Bevölkerung.

Wir brauchen einen Neuanfang

Hat sich einmal herausgestellt, dass die Polizei gegen moderatere Reformansätze immun ist, dann erscheinen «defund the police» oder sogar die Forderung, die Polizei ganz abzuschaffen, als vernünftige Vorschläge. Ängstliche Liberale und selbstgefällige Konservative waren sich unmittelbar nach dem Floyd-Aufstand jedoch einig, dass die Kürzung von Polizeimitteln doch für die meisten Amerikaner*innen einen Schritt zu weit gehen würde. Das American Enterprise Institute verwies auf Umfragen, die die Unbeliebtheit dieses Vorschlags belegen sollten und erwähnte insbesondere eine Umfrage, nach der 61 Prozent der Schwarzen Wähler*innen gegen «Kürzungen» bei der Polizei seien; die einzige Frage mit dieser Antwortquote bezog sich allerdings auf die völlige Abschaffung von Polizeibehörden. In der gleichen Umfrage gaben 62 Prozent der Schwarzen und 37 Prozent der Weißen Teilnehmer*innen an, dass sie «die Kürzung einiger Mittel für die Polizeibehörden in ihrer Gemeinde und deren Umverteilung in Richtung sozialer Dienstleistungen» befürworteten.

Das wirft ein Licht auf die widersprüchlichen Ansichten der afroamerikanischen Bevölkerung, aber auch darauf, wie neuartig die Forderungen der Black-Lives-Matter-Bewegung sind. Die politische Führung unseres Landes hat in den letzten 50 Jahren versucht, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die größte Gefahr für ihr Leben darin bestünde, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden. Solche Ängste lassen sich nicht innerhalb weniger Wochen auflösen.

Das Wichtige an sozialen Bewegungen ist, dass sie die Menschen dazu zwingt, sich mit einem Sachverhalt intensiver als sonst auseinanderzusetzen. Was die Polizeibrutalität angeht, haben Verbreitung und Dauer der jüngsten Proteste bewirkt, dass eine breite Bevölkerungsschicht sich mit Problemen beschäftigen musste, gegen die Schwarze Menschen schon seit über einem Jahrhundert kämpfen. Man beachte den Meinungswandel in Hinblick auf die Black-Lives-Matter-Bewegung: Heute, sieben Jahre nach ihrer Entstehung, wird sie endlich von einer breiteren Öffentlichkeit unterstützt. Jetzt, da Millionen Weißer verstehen, wie gravierend die Polizeibrutalität gegenüber Schwarzen ist, scheint die Aussicht, dass sie letztendlich eine Abschaffung der Polizei als Lösung erwägen würden, kaum noch utopisch – insbesondere in Anbetracht der täglichen Bilder rassistischer und brutaler Polizeiarbeit aus allen Teilen der USA.

Wir brauchen einen Neuanfang. Eine von vielen getragene Lösung lässt sich wohl kaum von einem Tag auf den anderen finden. Man sollte daraus allerdings auch nicht schlussfolgern, dass eine Kürzung der Polizei-Budgets unmöglich ist, oder dass wir nie im Stande sein werden, uns von einer bewaffneten Beamtenschicht zu verabschieden, die darauf bedacht ist, eine zutiefst rassistische und ungerechte soziale Ordnung zu verteidigen, di e einem Großteil der Bevölkerung, insbesondere Schwarzen Menschen, gewaltsam ihre Grundbedürfnisse versagt.

Die Streichung von Polizeimitteln ist ein erster Schritt in einem längeren Prozess, an dessen Ende die Abschaffung des amerikanischen Polizeiwesens stehen könnte. Das wiederholte Versagen umfassender und effektiver Reformen hat uns an einen Punkt gebracht, an dem Konzepte wie das Streichen von Mitteln oder die Abschaffung der Polizei auch im Mainstream angekommen sind. Diese Forderungen bedeuten nicht, dass Aktivist*innen indifferent sind gegenüber Gewalt und Kriminalität, die auch in der Arbeiterklasse existiert. Die Argumentation setzt vielmehr dabei an, auf den Zusammenhang hinzuweisen zwischen der großzügigen Finanzierung der Polizei auf der einen und einer mangelnder Förderung von sozialen Infrastrukturen auf der anderen Seite. Letztere könnten die Lebensqualität Schwarzer Menschen in Armut und von Schwarzen aus der Arbeiterklasse beitragen. Insofern könnte es tatsächlich helfen, hier etwas wegzunehmen, um es woanders besser zu nutzen, um Kriminalität und Gewalt sowie das daraus entstehende Leiden zu lindern. Den Haushalt für die Polizei auf ein Minimum zu reduzieren, wird aber nicht ausreichen, um die Ressourcen zu mobilisieren, die nötig wären, um diese Communities neu aufzubauen. Aber es würde eine jahrzehntelange Orientierung auf Recht und Ordnung in Richtung auf Versorgung und Unterstützung verschieben. Die Abschaffung des Polizeiwesens mag für einige weithergeholt sein. Tatsächlich ist aber der Rassismus der Polizei schon zu lange festgefügt. Es reicht nicht, hier und da ein bisschen daran herumzufeilen. Das ganze System muss weg, allen voran seine abscheulichste Stütze – die Unterstellung Schwarzer Kriminalität und Schuld. Die Vision einer neuen, gerechten Gesellschaft muss sich zwangsläufig der rassistischen Barbarei der amerikanischen Polizei widersetzen. Wir brauchen einen Neuanfang.

Der Text erschien zuerst im © New Yorker. Aus dem Amerikanischen von Charlotte Thießen und Lisa Jeschke für Gegensatz Translation Collectives