Im Sommer 2010 begann in China eine monatelange Streikwelle, in Indien kam es 2011 und 2012 zu wilden Streiks und Aufständen beim größten Autohersteller Maruti Suzuki. Im Februar und März 2011 haben in Brasilien 200000 Bauarbeiter gestreikt und damit eine andauernde Protestwelle begonnen, und in Südafrika haben der Streik im öffentlichen Dienst 2010 sowie die Streiks im Minensektor 2012 und 2014 historische Ausmaße der Beteiligung und Konfrontation erreicht (Nowak 2014). Die Protestwelle steht für einen Aufbruch, der auch für die Linke eine Herausforderung ist. Viele der Protestierenden können mit der Sprache der Linken nicht mehr viel anfangen – das ist in Spanien nicht viel anders als in Brasilien. Auch die großen Gewerkschaften erreichen mit ihrer Sprache und Symbolik die jüngeren Protestierenden kaum. Die Protestbewegungen versuchen einen Neuanfang und sind dabei um einen offenen Prozess bemüht – mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich bringt. Einerseits ermöglicht diese Offenheit sowohl den linken AktivistInnen wie auch den neu Politisierten Lernprozesse, bei denen mit neuen Formen des Protestes und der Politik sowie neuen Formen, sich als ArbeiterInnen zu organisieren, experimentiert wird. Andererseits bleibt vieles politisch diffus, was sich auf Dauer als unproduktiv für die Bewegungen entpuppen könnte.

Diffuse Bewegung, diffuse Theorie

Diese Unklarheit gibt es nicht nur in der Protestbewegung, sie prägt auch einen Teil der Diskussion der Linken. Es war kein Zufall, dass das Manifest Der kommende Aufstand zum Bestseller wurde. Ein politisches Echo fand das Buch zum Beispiel in Gruppen wie den anarchistischen Feuerzellen in Athen, die Politik explizit ablehnen und auf Zerstörung und Militanz setzen – es sind immerhin ein paar Tausend AktivistInnen. Der kommende Aufstand war unter anderem deutlich geprägt von Alain Badious Schriften – Badiou ist in den letzten Jahren wohl wie kaum ein anderer politischer Philosoph der Linken zur großen Referenz für Widerstand aufgestiegen. Was macht aber die Attraktivität von Badious Philosophie aus, die sprachlich schwer zugänglich ist und so gar nichts mit der Weise zu tun hat, wie Linke in der Regel die Gesellschaft analysieren? Badious politische Philosophie zielt darauf, dass nach den Erfahrungen des Leninismus und Maoismus als Leitideologien der radikalen Linken nun eine radikale Abkehr von staatlichen Politiken geboten sei. Er plädiert in einem harschen Bruch mit seinen früheren Überzeugungen für eine Basisorganisierung, ohne jeglichen Kontakt zum herrschenden politischen System. Als Grundlage des Widerstands sieht er die subjektive Entscheidung eines Kollektivs, mit allem Bestehenden zu brechen. Ein starker Dezisionismus, nach dem sich emanzipatorische Politik auf ein »Wahrheitsereignis«, einen Aufstand oder eine Revolution gründe und nach dem es keine anderen Kriterien für Politik als die Treue zu diesem Ereignis gebe. Der Ansatz ist skeptisch gegenüber demokratischen Abstimmungen, sie würden dieses Ereignis nur verwässern und seien keine geeignete Möglichkeit der Veränderung – wenn, dann könne nur eine andere Form der Demokratie Emanzipation bringen (Badiou 2003; 2011, 14). Badious Bruch mit dem Staat und dem politischen System der parlamentarischen Demokratie vollzieht letztlich die mit dem Neoliberalismus und der Krise verbundenen Exklusion der Mehrheit von (auch früher schon begrenzten) demokratischen Entscheidungen nach und deckt sich mit der Empfindung in den Bewegungen, dass Demokratie nur außerhalb der bestehenden Parteien möglich sei. Somit greift Badious antistaatlicher Voluntarismus mehrere Erfahrungen auf: Die repräsentative Demokratie mit ihrem Parteiensystem wird zunehmend als Konsensmaschine wahrgenommen, in der alle Parteien mehr oder weniger dasselbe vertreten. Auch frührere Institutionen der Gegenmacht wie Gewerkschaften werden als Verwalter des Neoliberalismus gesehen. Eine Orientierung an Arbeitsplatz oder sozialstruktureller Lage ist angesichts der zersplitterten Milieus, dem Mainstream der Subkulturen und der schnell wechselnden Arbeitsverhältnisse für immer weniger Menschen der Ausgangspunkt ihrer Politisierung. Die verschiedenen ›Postismen‹ wie Postmodernismus, Postkolonialismus oder Postfeminismus sind genauso wie der Marxismus als Einflüsse zwar noch relevant, geben aber keine umfassendere Orientierung mehr. Der voluntaristische Entschluss zum Widerstand entspricht eben der Erfahrung, sich ohne umfassendere Orientierung oder große Utopie Protestbewegungen anzuschließen – und dies auch oftmals genauso schnell wieder sein zu lassen. Damit ›trifft‹ Badious Anweisung zum Widerstand, die vieles offen lässt, die Erfahrung einer neuen Generation von Protestierenden. Die Sprache, die Badiou verwendet, ist dabei hoch abstrakt und schwer zu verstehen, aber seine Anleihen bei Mathematik und geometrischer Theorie haben eine Aura des Neuen, die die nüchternen Begriffe des Marxismus nicht bieten. Zugleich ist es problematisch, dass es bei Badiou keine Grundlage, keine Kriterien für den Widerstand als den eigenen Glauben und die Entscheidung von Kollektiven gibt – es handelt sich um eine quasi religiöse Anrufung, die Voluntarismus und autoritäre Formen des Widerstands begünstigt: »Mit ›popularer Diktatur‹ meinen wir eine Instanz, die legitim ist, gerade weil ihre Wahrheit sich aus der Tatsache ableitet, dass sie sich selbst legitimiert [...] Niemand ist der Delegierte von irgend jemand anderem.« (Badiou 2012, 59f, übers. d. Red.) Es wird lediglich festgeschrieben, dass der Widerstand sich gegen den Staat zu richten habe – die mangelnde Bestimmung von positiven Zielen oder politischen Gegnern bringt zwar eine große Offenheit mit sich, bleibt politisch aber unbestimmt. Die mangelnde Einbettung in soziale und ökonomische Analysen lässt zudem kein Subjekt des Widerstands erkennen, obwohl die Zusammensetzung der aktuellen Revolten darüber viel Aufschluss geben könnte (Mason 2013). Doch für Badiou (2005) ist jede Soziologie, die mit Zahlen oder Statistiken arbeitet, Herrschaftsideologie, die vom Ereignis ablenkt .

Wärmestrom durch konkrete Projekte der Solidarität

Für einen politisch produktiven Impuls müsste eine ›Erdung‹ des produzierten utopischen Überschusses gelingen: Der utopische Überschuss revolutionärer Ideologien, der als »Wärmestrom« (Bloch) notwendig ist, bedarf der Konkretion bezüglich der Ideen für eine nachrevolutionäre Gesellschaft und zugleich einer Einbettung des aktuellen Projekts in die realen Lebensbedingungen. Beides, die konkrete Vision sowie die Verortung des politischen Subjekts in der gegebenen Gesellschaft, vermisst man bei einigen der Krisenprotesten und vor allem auch bei linken DenkerInnen wie Alain Badiou, Giorgio Agamben oder Judith Butler. Möglicherweise war die erste Phase des Protestzyklus seit 2008 unvermeidlich von nicht zentralisierter Basisdemokratie geprägt. Jede Generation des Protests muss ihre eigenen Erfahrungen machen, und die Rückkopplung der ausführenden FunktionärInnen mit den einfachen AktivistInnen reflektiert die schlechten Erfahrungen mit der repräsentativen Demokratie und den alten Massenorganisationen wie Parteien und Gewerkschaften. Dabei signalisiert der antistaatliche revolutionäre Impuls von Badious Kommunismus eine ›saubere Lösung‹. Die gibt es jedoch nicht. Slavoj ŽiŽek hat zudem die betont horizontal nicht-hierarchischen Organisationsformen der Proteste kritisiert: Sie würden der gesellschaftlichen Tendenz der Zersplitterung von Lebenswelten keine eigene universalistische und vereinheitlichende Vision entgegensetzen (Žižek 2014). Žižeks Kritik ist zwar zutreffend, sein Vorschlag aber, es bedürfe einer starken Führerfigur, um die Proteste schlagkräftig zu vereinen, stellt nur die andere Seite der Medaille dar: die Unfähigkeit zu einer politischen Diskussion, die die sozioökonomische ›Ist‹-Situation mit einem politischen ›Soll‹ verbindet. Dabei ist für die Protestbewegungen die Frage nach den Organisationsformen, über die Konsens hergestellt und garantiert wird, zentral: Occupy in den USA hat sich daran gespalten, die spanische Bewegung scheint hingegen konstruktive Lösungen zu finden (Candeais/ Völpel 2014). Žižek hat mit seiner Kritik durchaus einen Nerv getroffen, denkt aber zu wenig realpolitisch, um der schwierigen Frage nach neuen Mechanismen der Repräsentation mit konkreten Antworten begegnen zu können. An dieser Stelle führt die Position Badious auch nicht weiter. Seine vermeintlich saubere Lösung umgeht diese wichtigen Diskussionen organisatorischer Fragen und nährt die Illusion, nach der das möglichst konsequente und ›treue‹ Festhalten am Anti-Institutionalismus der Weg zum gesellschaftlichen Glück sei. In den alltäglichen Konflikten wird immer wieder deutlich, dass ›der Staat‹ aber keine Einheit ist, sondern ein Netzwerk von Machtpraxen, in die auch vorgeblich ›autonome‹ Gruppierungen verwickelt sind – dies war bereits Ende der 1970er Jahre von Michel Foucault und Nicos Poulantzas zu lernen. Beide haben aus dem Scheitern staatlicher Lösungen wie Sozialdemokratie und Stalinismus die Folgerung gezogen, dass sich der Bruch mit dem kapitalistischen Staat nur auf dessen eigenem Terrain vollziehen kann – jedoch nicht in Form einer bloßen ›Eroberung‹ des bestehenden Staates, da in dessen Institutionen bereits bestimmte Funktionen und Machtverhältnisse eingeschrieben sind. Der späte Althusser und sein Schüler Badiou haben aus derselben Enttäuschung mit staatlichen Sozialismen eine andere Folgerung gezogen: Der kapitalistische Staat könne nur von außen bekämpft werden. Dabei bleibt das ›Außen‹ eine Illusion und so etwas wie eine Erlösungsphantasie – da alle politischen Bewegungen in irgendeiner Weise auf den Staat bezogen sind. Die Bewegungen stehen vor der Schwierigkeit, diese Einsicht in Politik zu überführen, die nicht wieder sofort in die neoliberale Hegemonie integriert wird. Der vielzitierte ›Wärmestrom‹ stellt sich bei diesem Versuch nicht einfach auf der Ebene einer besseren Theorie her, die die verschiedenen Gruppen zusammendenkt: Ihm muss eine wirkliche Verbindung zwischen den einzelnen Teilen der Bewegung entsprechen. Wir erinnern uns: Die bloß gedachte Verbindung, ohne materielle und organische Grundlage in Aktionsformen und Solidarität, war die große Schwäche der globalisierungskritischen Bewegung. Die Lernprozesse der neuen Protestbewegungen zielen mittlerweile auch auf parteipolitische Projekte, deren Anspruch es ist, sich einer grundsätzlichen Neuordnung der gesellschaftlichen Beziehungen zu verschreiben. In Griechenland und in Spanien, den Ländern mit den aktivsten Protestbewegungen in Europa, haben linke Parteien ab 2012 an Einfluss gewonnen, am spektakulärsten Syriza mit fast 30 Prozent der Stimmen, während in Spanien sich etwa 25 Prozent der Stimmen auf die drei Protestparteien Vereinigte Linke (10 Prozent), Podemos (8 Prozent) und die linksliberale Unión Progreso y Democracia (7 Prozent) verteilen. Ob und wie es diesen Formationen gelingt, sich den institutionellen Integrationsmechanismen zu entziehen und eine transformatorische Politik zu betreiben, ist offen. Gleichzeitig gibt es parteipolitische Newcomer nicht nur auf Seiten der Linken: Bei den Europawahlen kam die erst diffus linke, dann diffus rechte Partei Cinque Stelle (M5S) von Beppe Grillo in Italien auf etwa 20 Prozent der Stimmen. In gleich drei Ländern wurden Parteien rechts von den Konservativen stärkste politische Kraft: in Frankreich der Front National, in Großbritannien die UK Independence Party und in Dänemark die Dänische Volkspartei. Die gegenwärtige politische Suchbewegung äußert sich anders als 1968 nicht als Differenzierung und Spaltung der Linken, sondern vielmehr als Zersplitterung des gesamten politischen Feldes, vor allem in Europa. Damit wird deutlich, dass nicht nur die ökonomische Krise ernster ist als 1968, auch die politische Krise wird virulenter. Wenn von der Linken keine universalistische Deutung mit Hegemonialanspruch ausgeht, dann wird dieses Feld von anderen Kräften besetzt, sei es von der M5S in Italien, vom Front National in Frankreich oder von der Moslembruderschaft und den Dschihadisten in Ägypten. Trotz der Rückkehr zu Fragen wie Ungleichheit und Verteilung, Armut, Wohnen, Bleiberecht von Flüchtlingen oder Gesundheitsversorgung bleibt das subkulturell-alternative Milieu in den Zentren des Kapitalismus, bleibt die Linke fragmentiert. Doch aus einer Neuordnung des politischen Feldes könnte die Linke langfristig gestärkt hervorgehen, sofern es gelingt, sich an den ›Wärmestrom‹ der Bewegungen wieder anzuschließen. Gefragt ist die Kunst, eine klare politische Linie zu halten, die nicht die postmoderne Vielfalt des Patchworks der Minderheiten reproduziert, sondern auf Klassenmacht als Ankerpunkt orientiert – die aber dazu in der Lage ist, sich den Erneuerungs- und Lernprozessen zu öffnen, die vielfältigen Auswirkungen der bürgerlichen Klassenherrschaft auf unterschiedliche Lebensrealitäten zu beziehen und an die unterschiedlichen Betroffenheiten und Organisationsformen anzudocken.  

Literatur

Badiou, Alain, 2003: Über Metapolitik, Zürich/Berlin Ders., 2011: The Democratic Emblem, in: Giorgio Agamben u.a., Democracy, New York, 6–15 Ders., 2012: The Rebirth of History, London Castells, Manuel, 2012: Networks of Outrage and Hope, Cambridge Candeias, Mario und Eva Völpel, 2014: Plätze sichern! ReOrganisierung der Linken in der Krise, Hamburg Kraushaar, Wolfgang, 2012: Der Aufruhr der Ausgebildeten, Hamburg Mason, Paul, 2013: Why it’s kicking off everywhere, London/New York Nowak, Jörg, 2014: Globaler Frühling der Arbeiterklasse?, in: Sozialismus 41 (6), 17–20 Stiglitz, Joseph E., 2012: Preis der Ungleichheit, München Žižek, Slavoj, 2014: The Impasses of Today’s Radical Politics, in: Crisis & Critique 1 (1)