Wahrscheinlich war es dieses ›systemische Vakuum‹ – ein institutionelles, politisches und organisatorisches Vakuum – das alle relevanten formellen wie informellen Machtzentren dazu brachte, sich auf einen solch abseitigen politischen Weg zu begeben. Diese Machtzentren reichten von den Europäischen Institutionen, Vertretungen und Staatskanzleien über die globalen Finanzzentren bis hin zu der unmittelbarsten Macht, dem italienischen Staatsoberhaupt, das gleichzeitig als König und Königsmacher fungierte – sie alle zuzustimmten, die Figur eines absoluten Außenseiters mit einem barbarischen Stil als Ministerpräsident einzusetzen und dies als ›letzten Ausweg‹ aus der bestehenden Systemkrise darzustellen – als ob diese Extradosis Populismus nötig gewesen wäre, um ein offen anti-populäres Programm zur Regierungspraxis zu machen.
Auf der anderen Seite war Matteo Renzi der Erste, der es mit der systemischen Krise der italienischen Politik insofern aufnahm, als er sie statt als Hemmnis als Ressource betrachtete. Regierungs-, Legitimations- und Repräsentationskrise, die Krise der Parteiform und natürlich die ökonomische Krise, all das vermochte er für sein eigenes Programm zu nutzen: als Rechtfertigung für seinen Anspruch, der »einzige Mann am Steuer« zu sein, und als Rechtfertigung einer unglaublichen Personalisierung von Macht, die auf die traditionellen Institutionen nicht mehr bauen konnte. Renzi war der Erste, der sich bewusst dafür entschied, aus der Krise der repräsentativen Ordnung und der ihr zugrunde liegenden Parteiform Gewinn zu schlagen und seine eigene Rolle im Rahmen eines explizit post-demokratischen Modells aufzuwerten.
All das war von Anfang an klar. Man könnte sagen, Renzi habe sein Programm vom ersten offiziellen Akt an offensiv zur Schau gestellt: Seine erste Rede hielt er am 24. Februar 2014, gerade mal zehn Tage nach der Entmachtung von Letta, im Senat – in dem Senat, der gerade dabei war, sich selbst in eine Kammer lokaler Administrator*innen zu verwandeln. Es war eine gewollt zusammenhanglose Rede, die informell und volkstümlich erscheinen sollte, und während der er die ganze Zeit den Blick in die Ferne und die Fernsehkameras richtete, um den Eindruck zu erwecken, er spräche direkt in die Wohnzimmer der Familien – jedenfalls ganz klar über die besorgten Gesichter der vor ihm sitzenden Senator*innen hinweg. Von diesem Moment an deutete alles klar auf seinen Willen hin, reinen Tisch zu machen mit dieser ›Gesellschaft der Vermittlung‹ mit all ihren Institutionen, die zwischen Volk und Staat vermittelten, mit den geronnenen Formen einer repräsentativen Demokratie, zuvorderst dem Parlament, aber auch mit all den anderen gesellschaftlichen Organen der Interessenvertretung, den Gewerkschaften, Berufsverbänden, der Handelskammer bis hin zum Arbeitgeberverband – sie alle wollte er als zu korporatistisch hinwegfegen. Sogar seine Kleidung an diesem Tag war entsprechend inszeniert: in Hemdsärmeln (ein wenig wie die peronistischen »Hemdlosen« der 1950er Jahre), das Smartphone in der Hand, immer für einen Tweet bereit oder für ein Bild auf Facebook wie ein 15-Jähriger, und mit dem Laufschritt eines Menschen, der keine Zeit zum Plaudern hat, getrieben vom Fieber des Handelns.
Dieses Projekt der ›Ent-Mittlung‹, der Entmachtung aller repräsentativen Institutionen und der Unterordnung jeder einzelnen Instanz unter die Sphäre der Regierung, wurde in den zwei Jahren seiner Regierung mit einer unglaublichen Geschwindigkeit durchgezogen:
Mit dem Jobs Act, der neoliberalen Arbeitsmarktreform von 2014, und der massiven Einschränkung des Rechts auf Tarifverhandlungen, die Renzi abwertend als »korporatistisch« bezeichnete, verpasste er den Gewerkschaften einen herben Schlag und schränkte ihre Rolle massiv ein. Im renzianischen Sprachgebrauch hieß das: »Sie wurden plattgemacht«. Aber auch die Rolle der Arbeitgeberorganisationen wurde beschnitten zugunsten direkter Beziehungen zwischen Regierungschef (oder einem seiner Minister*innen) und einzelnen Spitzenvertreter*innen der großen Konzerngruppen, allen voran Fiat Chrysler).
Das nach Maria Elena Boschi benannte Gesetz zur Verfassungsreform vom Oktober 2015 schränkt die repräsentative Funktion des Parlaments stark ein.4 Im Grunde stellt es vor allem eine Senatsreform dar und stuft diesen zu einem Organ indirekter Vertretung zurück, in dem zudem eine Reihe von Mitgliedern der Regierung ernannt werden – letztlich zu einem Organ der Klassen-Herrschaft. Außerdem befördert es die Vertikalisierung von Entscheidungsprozessen zugunsten von Regierungsinitiativen. Die Art und Weise, mit der dieses Gesetz parlamentarisch durchgesetzt wurde – durch ein Misstrauensvotum und mit einer einfachen Regierungsmehrheit – zeigt, wie die völlig verzerrte Wahrnehmung demokratischer Prozesse durch die Regierungen die grundlegenden Prinzipien der modernen Verfassung beschädigt. Eine Verfassungsänderung kann niemals per Erlass einer Regierung zustande kommen. Es zeigt darüber hinaus auch die Verkehrung im Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative.