Therese Caherty von der Trade Union Campaign to Repeal the 8th Amendment (Gewerkschaftskampagne zur Streichung des achten Verfassungszusatzes) erläutert die Motivation dahinter: »Der achte Zusatz betrifft uns alle, Frauen und Männer. Die Gewerkschaftsbewegung steht für Gleichberechtigung und Solidarität. Wir glauben, dass wir keine gleichberechtigte Gesellschaft schaffen können, wenn das Recht von Frauen auf Gesundheitsversorgung eingeschränkt wird.« Auchin Deutschland haben die Gewerkschaften – neben der GEW auch der DGB auf seinem Bundeskongress im Juli 2018 – Beschlüsse gefasst, in denen sie die Streichung von § 219a verlangen. Der Verband Evangelischer Frauen in Deutschland, der Deutsche Juristinnenbund e.V., die Bundesärztekammer und die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin haben sich ähnlich positioniert.
Eine breite Bewegung, die von Initiativen, Parteien und Gewerkschaften getragen wird, ist nicht nur zentral, um Druck aufzubauen, damit der § 219a fällt. Sie ist auch nötig, um einen gesellschaftlichen Konsens zum Recht auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung zu erreichen und damit Angriffe von rechts abzuwehren. Aus diesem Grund hat sich 2012 das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung gegründet. Seither organisiert das Bündnis Proteste gegen den jährlich stattfindenden bundesweiten »Marsch für das Leben« (vormals »1000-Kreuze-Marsch»). Mit dem jährlichen Aktionstag im September wird versucht, neben den anderen Protestformen ein vielfältiges, aber auch niedrigschwelliges Angebot mit einem Schwerpunkt auf Aufklärung und Solidarität mit internationalen Pro-Choice-Bewegungen zu schaffen. Mittlerweile hat das Bündnis über 40 Mitglieder. Dabei werden bewusst diverse Akteure angesprochen. Auch Massenorganisationen wie Parteien und Gewerkschaften sind grundsätzlich willkommen.
Auf den Demonstrationen sprachen Vertreter*innen der Behindertenbewegung, Migrant*innen, Gewerkschafter*innen sowie viele internationale Aktivist*innen. Ihre Geschichten und Perspektiven sind unterschiedlich und fließen in die gemeinsame Auseinandersetzung ein. Die Treffen des Bündnisses sind grundsätzlich für alle offen, um über unterschiedliche Erfahrungen, Sprachen und Herangehensweisen hinweg eine gemeinsame Stärke zu entwickeln.
Zugleich ist in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern ein wachsender Einfluss der Bewegung für »Lebensschutz« und deren Verflechtung mit rechten Kräften zu beobachten. In Frankreich gelang es dem Front National im vergangenen Jahr, Abtreibung zum Wahlkampfthema zu machen, gemeinsam mit einer Bewegung junger Leute, die sich »Überlebende« nennen und online zu Flashmobs und Aktionen des zivilen Ungehorsams mobilisieren (vgl. Krause 2017). Ihr digitaler Auftritt ähnelt der antifeministischen Kampagne der Identitären Bewegung in Deutschland, die Frauen dazu aufruft, sich gegen die angeblich überbordende Gewalt von geflüchteten Muslimen zu wehren. Die Ideologie der »Lebensschutz«-Bewegung ist Ausdruck eines reaktionären bis extrem rechten Weltbilds: Eine »natürliche« Geschlechterordnung zementiert die heterosexuelle Ehe und Familie als Keimzelle der Gesellschaft, worin die Frau die Rolle der Hausfrau und Mutter erhält. Alles, was das Bild der alten Ordnung bedroht, wie etwa die Homo-Ehe oder Trans*Sexualität, wird aktiv bekämpft. Die AfD fordert in ihrem Grundsatzprogramm eine »Willkommenskultur für Neu- und Ungeborene« und die Erhöhung der Geburtenrate von »deutschstämmigen Frauen«, um das »Überleben« des deutschen Volkes zu sichern. Feministische Kämpfe mit Antirassismus und dem Kampf gegen rechts zu verbinden, bleibt deswegen eine zentrale Aufgabe der Bewegung und der Proteste gegen Abtreibungsgegner*innen in Deutschland und auf europäischer Ebene. Denn es wird deutlich: Hier stehen die Freiheitsrechte von vielen auf dem Spiel.
Gute Bedingungen und Wahlfreiheit für alle
In den USA werden antirassistische feministische Praxen rund um das Thema sexuelle Selbstbestimmung häufig unter dem Begriff »reproduktive Gerechtigkeit« subsumiert, wobei das uneingeschränkte Recht auf Schwangerschaftsabbruch hier nicht der alleinige Fokus ist. Für viele insbesondere indigene und schwarze Frauen* geht es nämlich nicht nur um das Recht auf den Abbruch ungewollter Schwangerschaften, sondern angesichts von Rassismus und eugenischer Bevölkerungspolitik vielerorts auch um das Recht, Kinder zu bekommen (vgl. Fried 2017). Darüber hinaus sind es auch in Deutschland regelmäßig soziale Gründe, die für einen Abbruch angegeben werden: befristete Arbeitsverhältnisse, Wohnraummangel, Armut. Insofern schließt reproduktive Gerechtigkeit auch das Recht aufs Kinderkriegen ein und thematisiert somit, dass es bestimmter gesellschaftlicher und sozialer Bedingungen bedarf, damit es tatsächlich für alle, die es wollen, möglich wird, Kinder zu bekommen und großzuziehen. Die Notwendigkeit, gesellschaftliche Rahmenbedingungen für Kinder und Eltern zu verbessern, wird von den »Lebensschützern« häufig als Scheinargument gegen Abtreibung benutzt.
Sie fokussieren jedoch allein auf den Schutz »des ungeborenen Lebens«, wobei ihnen die Konsequenzen für ungewollt Schwangere völlig gleichgültig sind. Darum ist es unsere Aufgabe als Linke, diesen Widerspruch zu thematisieren und politische Forderungen zu entwickeln, die vernünftige soziale und gesellschaftliche Absicherung beinhalten, unter anderem gute Arbeitsverhältnisse sowie Wohn- und Lebensformen, Maßnahmen zur Entprekarisierung, mehr Beratung, Kitaplätze und Bildungsangebote sowie gute Strukturen für Menschen mit Behinderung und vieles mehr. Außerdem ist es wichtig, sich mit weiteren Aspekten der sexuellen und reproduktiven Selbstbestimmung zu befassen, zum Beispiel mit dem kostenlosen Zugang zu Verhütungsmitteln und medizinischer Versorgung für alle, einschließlich geflüchteter Frauen und LGBTI*-Menschen.
Auf diese Weise kann dem Missverständnis entgegengewirkt werden, es handele sich allein um eine Frage von individueller Autonomie und Abwehrrechten gegenüber dem Zugriff des Staates. Es geht auch um die notwendigen gesellschaftlichen Bedingungen für wirkliche Wahlfreiheit für alle. Beide Aspekte – Autonomie und gesellschaftliche Verantwortung – gleichermaßen zu thematisieren, ist in der Praxis nicht immer einfach und funktioniert nicht widerspruchsfrei. Denn innerhalb des bestehenden stigmatisierenden Diskurses geht es auch darum, einen klaren Punkt zu setzen gegen jede Bevormundung und moralisierende Vereinnahmung individueller Entscheidungen. Ein Beispiel ist die Debatte um Pränataldiagnostik und Spätabtreibungen. Neben der notwendigen Kritik an der Pathologisierung und Stigmatisierung von Behinderung als »privatem« Problem und dem Druck, der auf Frauen ausgeübt wird, muss zugleich verhindert werden, dass Lebensschutz wiederum gegen das individuelle Entscheidungsrecht von Frauen ausgespielt wird.
In der politischen Arbeit geht es nicht zuletzt darum, ein oft fragiles Bündnis aus äußerst unterschiedlichen Akteuren mit unterschiedlichen politischen Verortungen anhand eines gemeinsamen Interesses (dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung) zusammenzuhalten und in seiner Arbeit nicht zu überfrachten. Reproduktive Gerechtigkeit ist zudem in der deutschen Debatte als Begriff kaum eingeführt und mit wenigen konkreten Praxen verknüpft. Darum bleibt es vorerst ein inspirierendes Leitbild, das verhindern kann, den Blick zu sehr auf eine einzige Forderung zu verengen. Als nächster Schritt steht jedoch zunächst an, die Schlagkraft der immer noch wachsenden und äußerst diversen Bewegung für das Recht auf Abtreibung auszubauen und zu stärken.
Wir haben mit der Debatte um § 219a den langersehnten Impuls und neuen Schwungfür den Kampf um sexuelle Selbstbestimmung bekommen. Diesen Moment der Enttabuisierung sollen wir perspektivisch nutzen, um gesellschaftliche Mehrheiten für ein breit gefasstes Recht auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung sowie reproduktive Gerechtigkeit zu schaffen. In Münster, Frankfurt und Hamburg haben Aktivist*innen in den letzten Monaten neue Bündnisse für sexuelle Selbstbestimmung gegründet. Feministische Proteste waren überall dort zu beobachten, wo die »Lebensschutzbewegung« auf die Straße geht und wo rechte Kräfte Druck auf Ärzt*innen, Beratungsstellen und ungewollt Schwangere ausüben. Das legt den Grundstein für den Aufbau einer gut vernetzten, bundesweiten Pro-Choice-Bewegung, die dem Rechtsruck und den Angriffen auf sexuelle und körperliche Selbstbestimmung etwas entgegensetzen kann.