Ich stehe an einer betonierten Rampe und starre auf den Ausgang. Neben mir öffnet und schließt sich die Glastür. Es riecht nach Desinfektionsmittel und diesem bestimmten Geruch des Alters. Es ist Sonntag oder Samstag. Ich warte, dass meine Mutter durch die Tür kommt, müde das Fahrrad die Rampe hochschiebt. Sie hatte Frühschicht. In dieser Erinnerung bin ich acht, vielleicht auch neun. Ich turne ungeduldig am Geländer rum, bis meine Mama endlich durch die Tür kommt. Natürlich später als das eigentliche Schichtende.

Meine Mutter arbeitet Schicht, seit ich denken kann. Das musste sie, so sagte sie: »Das gibt mehr Geld.« Viel Arbeiten, wenig Geld, noch weniger Zeit. Arbeit ist nicht nur Notwendigkeit, sie ist auch Identität. Nach ihr richtet sich noch immer für viele die Bewertung eines Menschen, besonders in Ostdeutschland. Vollzeiterwerbstätigkeit wird auch bei Personen mit hoher Sorgeverantwortung kaum infrage gestellt – eine Art proletarischer Fatalismus. Auch ich habe das lange nicht infrage gestellt. Meine Schwester und ich haben viel Zeit in Früh- und Spätbetreuungen verbracht, früh schon vieles allein gemacht: Arztbesuche, Einkaufen, den kleinen Bruder sitten. Etwas anderes schien mir gar nicht möglich. Ich erinnere das Gefühl, wieder mal die Letzte zu sein im Hort, oder Sprüche von einer Lehrerin, ob ich denn wenigstens ein Foto meiner Mutter hätte. Zum Ende der DDR waren etwa 90 Prozent der Frauen in Erwerbsarbeit (Radtke 1991, 26). Berufstätigkeit war Teil des Selbstbildes der meisten Frauen und auch Teil des Frauenbildes in den neuen Bundesländern nach der Wende. Die Mütter meiner Freund*innen waren fast alle berufstätig, auch wenn sich manche als »Postbote« bezeichneten statt als »Postbotin«. »Hausfrauen« galten eher als suspekt und wurden oft isoliert. Es passte nicht zum Arbeitsethos in der DDR und zur Idee, dass Erwerbsarbeit und Emanzipation Hand in Hand gehen. Diese Haltung hält sich auch in der Kindergeneration bis heute. Aber waren mit dem Erreichen eines Ziels der proletarischen Frauenbewegung schon Emanzipation und Unabhängigkeit erreicht? Und was ist eigentlich Ostfeminismus?

Gleichstellung in der DDR

Die relative ökonomische Unabhängigkeit der Frauen in der DDR brachte zwar eine Änderung des patriarchalen Systems, aber nicht dessen Ende. Die Abhängigkeit vom einzelnen Mann wurde geringer, aber letztlich durch den Staat ersetzt. Dieser war auch weiterhin männlich und bestimmte, wie Frauen leben sollten. Erwerbsarbeit spielte eine größere Rolle. Selbstverständlich unterlagen auch Männer diesen Zwängen, eine Veränderung des Männerbilds, etwa durch einen Hausarbeitstag für Väter, ging mit der Gleichstellungsidee in der DDR jedoch nicht einher. Die sozialistische Frau hingegen sollte laut Walter Ulbricht (1968) Arbeiterin, Mutter und Kämpferin für den Sozialismus sein, sprich auch politisch und gesellschaftlich engagiert. Letzteres aber eher nur in »unwichtigen« Positionen. Das heißt, Frauen organisierten vor allem frauen- und familienspezifische Veranstaltungen oder waren Schriftführerinnen. In hohen politischen Ämtern blieben sie die Ausnahme. Im Zentralkomitee saß entweder eine oder gar keine Frau, im Politbüro gab es bis zum Schluss keine einzige. 

Ökonomische Zwänge und der Mangel an Arbeitskräften zu Beginn der DDR führten dazu, dass Frauen in der Arbeitswelt benötigt wurden. Gab es in den ersten Dekaden ehrliche Bemühungen einer realen Gleichstellung, fiel diese, ähnlich wie in der BRD, schon bald kleinbürgerlichen und traditionellen Geschlechter- und Familienvorstellungen zum Opfer – besonders, nachdem der kriegsbedingte Mangel männlicher Arbeitskräfte nicht mehr akut war (vgl. Pappai 2008).

Die Sehnsucht nach einer vermeintlich heilen Welt im Kontrast zu den Kriegserfahrungen gab es auch im Sozialismus, was eine Retraditionalisierung der Familie »als kleinste Keimzelle des Sozialismus« nach sich zog, ohne die arbeitsrechtlichen Errungenschaften infrage zu stellen. Dies führte zwangsläufig zu einer Überbelastung von Frauen und besonders von Müttern.

1965 betonte das Familiengesetzbuch der DDR die Unabhängigkeit der Frauen vom Ehepartner in ihrer Berufsausübung. Und im Arbeitsgesetzbuch (AGB) hieß es, dass »überall solche Bedingungen geschaffen werden [sollen], die es den Frauen ermöglichen, ihrer gleichberechtigten Stellung in der Arbeit und in der beruflichen Entwicklung immer besser gerecht zu werden und ihre berufliche Tätigkeit noch erfolgreicher mit ihren Aufgaben als Mutter und in der Familie zu vereinbaren«.

Das AGB enthielt auch Bestimmungen zu Schwangerschaft und Mutterschaft, die sich allerdings im Laufe der 40-jährigen DDR- Geschichte erheblich veränderten. Bei all diesen Regelungen spielten die Väter und ihre Beteiligung an der Sorgearbeit keine Rolle. Die Reproduktion wurde also auch rechtlich an Frauen delegiert, kulturell war sie es ohnehin. Viele Kinderbetreuungsangebote waren betrieblich organisiert, meist aber der Arbeitsstelle der Mutter angegliedert. Über die Generationen hinweg entstand so zwar eine breite Akzeptanz für die Erwerbsarbeit von Frauen, die jedoch ihre Hauptverantwortung für Haushalt und Familie nicht infrage stellte.

Gibt es so etwas wie Ostfeminismus?

Ostfeminismus hat viel mit den emanzipatorischen Errungenschaften in der DDR zu tun. Die tatsächliche ökonomische Unabhängigkeit erleichterte es Frauen, sich aus toxischen Beziehungen zu befreien. Aber auch das Recht auf Abtreibung und eine höhere Präsenz von Frauen in industriellen und naturwissenschaftlichen Bereichen waren wichtige Emanzipationsleistungen. Sie beschränkten sich jedoch fast ausschließlich auf den Bereich der Arbeit, zu dem auch die Frage nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zählt. Diese Form der Gleichstellung hatte also auch eine Funktion hinsichtlich der Erhaltung und Reproduktion der Arbeitskraft. Die Rolle des Mannes und vor allem seine Aufgaben blieben außen vor. Weder musste er seine Einstellung ändern noch Pflichten wie etwa Erziehungszeiten übernehmen. Gleichstellung wurde so für viele Frauen zu einer alltäglichen Bürde, Freiheit und Gleichheit bedeutete sie eher nicht.

Wenn wir von Ostfeminismus sprechen, meinen wir also das Narrativ, dass in der DDR sozialisierte Frauen emanzipiert waren und sind. Das kann und sollte man niemandem absprechen. Dennoch lässt dieses Narrativ oft kein »Ja, aber« zu. Es impliziert ein Emanzipationsversprechen, das unvollständig ist. Erzählt wird nur ein Teil der Geschichte, und zwar der erfolgreiche – auch das ist verständlich. In der DDR-Zeit war es systemisch nicht gewollt, Schwierigkeiten zu benennen, und im Rückblick wollen viele die eigene Leistung nicht schmälern. Die meisten haben es ja »geschafft«, das alles zu meistern, trotz Mehrfachbelastung. Zudem wird die Abwertung, die viele Frauen durch Arbeitslosigkeit nach der Wende erfahren haben, als persönlicher Einschnitt wahrgenommen, der die vorherigen Belastungen überschattet und in ein deutlich positiveres Licht rückt.

Wenn ich von Ostfeminismus spreche, meine ich die damalige Hauptströmung. Auch in der DDR gab es selbstverständlich unterschiedliche Feminismen und besonders in den 1980er-Jahren begannen sich Frauen*gruppen zu bilden, die eine breite Palette an Forderungen stellten. Ostfeminismus ist gleichzeitig eine Abgrenzung gegenüber dem Westen. Bis heute sind sich manche Ost- und Westfeministinnen fremd, selbst wenn sie in derselben Organisation für die gleichen Ziele kämpfen. Ein gutes Beispiel ist die Sprache: Gendern wird von vielen feministischen Frauen, die in der DDR sozialisiert wurden, als elitär empfunden. Auch das ist verständlich, waren doch 70 Prozent der Arbeitslosen in den ostdeutschen Bundesländern nach der Wende Frauen. Für sie waren und sind bis heute andere Themen vorrangig. Mit der Arbeit brach eine Identität weg. Das ging zwar Männern ebenso, aber sie wurden nicht in eine tradierte Rolle zurückgedrängt. Frauen galten plötzlich als in der Erwerbsarbeit entbehrlich, da sie ja auch zu Hause eine Aufgabe zu erfüllen hatten. So sahen das zumindest viele Personalstellen, als ostdeutsche Betriebe neu strukturiert wurden. Das zog vielen den Boden unter den Füßen weg.

Die Spannung zwischen Ost- und Westfeministinnen beschreibt Simone Schmollack (2018) in einem Artikel in der ZEIT: »Die einstige Sprach- und Hilflosigkeit scheint nach wie vor präsent zu sein. Die existenziellen Kränkungen, die Ostdeutsche nach der Wende empfunden haben, sind wirkmächtig und nachhaltig.« Frauen, die die DDR und die Wende erlebt haben, mussten sich oft neu erfinden. Viele gingen in die »alten Bundesländer«, andere schulten um, ihre Anpassungsfähigkeit war hoch, denn auch hier mussten sie funktionieren. Obwohl sie durch den häufigeren Arbeitsverlust als Wendeverliererinnen gelten können, haben Frauen sich mittlerweile zurückgekämpft.

Die Arbeitslosenzahlen haben sich seit den 1990er-Jahren immer weiter angeglichen. Das Narrativ, es »geschafft« zu haben, hat daher umso stärkere Plausibilität. Diese Frauengeneration verdient Bewunderung. Aber es bleibt die Frage nach dem Preis, den sie zahlen mussten, um all das zu »schaffen«. Und es bleibt die Frage, ob diese Lebenserfahrung der Maßstab sein sollte, an dem wir Gleichstellung und Emanzipation heute messen.

Auch emanzipierter Leistungsdruck bleibt Leistungsdruck

Es »zu schaffen« trotz Mehrfachbelastung und Rückschlägen wirkt bei manchen ostsozialisierten Frauen wie ein Schild, das sie vor sich hertragen. Darüber zu sprechen, welche Hürden und Verletzungen es gab, was sie gerne anders gehabt hätten, bleibt leider oft aus. Ich würde mir genau diesen Dialog zwischen den Generationen aber wünschen. Ein gemeinsames Reflektieren dieser Fragen könnte wichtige Elemente eines heutigen Feminismus zutage fördern, der diese Ost- Erfahrung einschließt, statt »von außen« oder gar »aus dem Westen« kommend wahrgenommen zu werden. Stattdessen erlebe ich oft, dass der Maßstab der eigenen Leistung an die neue Generation von Frauen und Müttern angelegt wird, auch in linken Kontexten. Dass gerade linke Menschen einen eher neoliberal anmutenden Leistungsdruck verinnerlicht haben, ist dabei ein offener Widerspruch.

Als politisch aktive Mutter erlebe ich den Spagat zwischen Erwerbsarbeit, Kinderbetreuung, politischen Ehrenämtern und Freizeit oft als unlösbare Aufgabe. Eigentlich fühle ich mich in jedem Bereich defizitär. Viele junge Feministinnen haben aber den Anspruch, sich nicht komplett in diesen Aufgaben aufzulösen, sondern Raum für die eigenen Bedürfnisse zu lassen. Reproduktionsarbeit ist auch, die eigenen Ressourcen zu schützen. Aus einem leeren Brunnen kann man nicht schöpfen, heißt es so schön.

Außerdem sind die Probleme der Mehrfachbelastung in der DDR und heute nicht so einfach miteinander zu vergleichen. Die Wende und die neoliberale Politik, die seitdem auch in den ostdeutschen Bundesländern ausgerollt wurde, haben zu erheblichen Verschärfungen beigetragen: Viele von uns pendeln, haben entgrenzte Arbeitszeiten, die Wege werden länger, Kitas sind weiter weg und ohnehin sind Plätze dort nicht mehr so leicht zu bekommen. Die Frauen und ihre Ressourcen werden also einmal mehr in Anspruch genommen. Folglich schränken viele ihre Arbeitszeiten und damit Einkommen ein, um das alles zu schaffen. Wir fordern eine faire Verteilung von Sorgearbeit, aber auch dieses ständige Aushandeln ist Arbeit. Daraus ergeben sich zentrale politische Forderungen: Erwerbsarbeit unter 38 Stunden darf nicht zu Renteneinbußen führen, es soll gefördert werden, dass Männer Elternzeit nehmen, und es muss mehr Möglichkeiten geben, Arbeit mit dem Alltag als Eltern zusammenzubringen. Insgesamt gilt es, Sorgearbeit nicht länger zur Privatangelegenheit derer zu erklären, die sie leisten müssen.

Viele junge Frauen und linke Feministinnen sind nicht mehr bereit, sich aufzuopfern und ausbeuten zu lassen. Zudem hat die Erwerbsarbeit für junge Menschen an Bedeutung verloren, so auch in den feministischen Kämpfen. Die Idee, dass alle weniger arbeiten könnten und so mehr Zeit für andere Dinge wie Familie, Freunde und Selbstverwirklichung vorhanden ist, ist in der Generation unter 40 deutlich häufiger vertreten als in den Alterskohorten darüber.

Solidarität statt Shittalk

Selbst in linken Kontexten wird die Mehrfachbelastung von Müttern oder jungen Eltern aber heruntergespielt: Es sei eine Entscheidung, die man treffe, und alle Frauen und Eltern vorheriger Generationen hätten ja die gleichen Hürden gemeistert. Beides ist falsch und fatal, besonders aus linker Perspektive.

Das erste Argument schiebt die Verantwortung erneut in den privaten Bereich und besonders Frauen zu. Das zweite Argument macht die eigene Erduldensfähigkeit zum Maßstab für Emanzipation. Im Zuge der feministischen Streiks ist der Slogan »Wir wollen alles verändern!« entstanden. Warum den Anspruch an ein erfülltes Leben nicht daran ausrichten?

Gerade als Linke sollten wir außerdem an einem solidarischen Umgang miteinander interessiert sein, stattdessen ist auch hier der Leistungsgedanke leitend. Denn es sind mitnichten die gleichen Bedingungen, unter denen Frauen und Mütter heute klarkommen müssen. Wir leben im Kapitalismus. Sowohl die soziale als auch die technische Infrastruktur für Eltern ist eine andere. Als Mutter lebe ich teils Hunderte Kilometer von den Großeltern und kilometerweit von dem einzigen Kitaplatz entfernt, habe ein befristetes Arbeitsverhältnis mit entgrenzten Arbeitszeiten und der Hoffnung, wenn man sich unabdingbar macht, weiterbeschäftigt zu werden. Mein Wunsch wäre, dass diese Herausforderungen gesehen werden, statt sie zu individualisieren. Mütter im Besonderen fühlen sich eh schon ständig ungenügend, das braucht man nicht noch von außen vermittelt zu bekommen.

Dialog, Verständnis, gemeinsam kämpfen

Ich würde mir wünschen, dass wir ehrlich darüber reden, wie es damals »im Osten« war, warum dieses Verständnis für die heutigen Probleme von berufstätigen Müttern und jungen Aktivistinnen schwierig ist und wie mit 30 Jahren Abstand zu dem Bruch, den die Wende für die meisten bedeutet hat, auch die eigenen Wünsche nach Emanzipation und Freiheit vielleicht anders zu formulieren wären. Ich wünsche mir diesen Dialog gesamtgesellschaftlich und in der Linken. Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, die Unterschiede anzuerkennen und die Gemeinsamkeiten zu finden – und solidarisch für eine andere Teilung der Arbeit, für ein besseres, selbstbestimmteres Leben für alle zu kämpfen.

Statt jungen Frauen vorzuwerfen, sie würden »jammern«, oder ihre Kritik gar als »West-Feminismus« abzuwerten, wie Autorinnen wie Mirna Funke es tun, würde ich mir wünschen, dass wir uns gegenseitig zuhören.

Nur wenn wir einander verstehen und uns respektieren, können wir gemeinsam einen linken Feminismus leben, der ein Ostfeminismus 2.0 ist, der die Erfahrungen der älteren Generation aufnimmt und ihn angesichts veränderter Realitäten weiterentwickelt. Ich wünsche mir dafür Solidarität unter Frauen und unter den verschiedenen Generationen von Feministinnen.

Für politische Strukturen, in denen das möglich wird, heißt das ganz praktisch, die Frage zu stellen »Was brauchst du, um hier sein zu können?« Wenn wir Menschen mit Sorgeverantwortung in linken Kontexten halten wollen, müssen wir diese Frage stellen. Aus der Frage werden sich Konsequenzen ergeben, die uns etwas kosten, aber das Problem ist nicht neu und Ideen gibt es viele: Sitzungszeiten ändern, hybride Sitzungen, verstetigte Kinderbetreuung (ohne vorherige Anmeldung!), Rotationsmodelle, Tandems und nachhaltige Strukturen im Umgang mit Sexismus und sexualisierter Gewalt. Wir (Ost-)Frauen haben schon so viele Transformationsprozesse gemeistert, wir schaffen es auch, die Linke zu einer solidarischen, feministischen Bewegung und Partei zu machen. Wir müssen nur miteinander statt gegeneinander kämpfen.