In der Corona-Krise erobern die Tech-Konzerne um Google und Co. neue Geschäftsfelder und drängen mit kalkulierter Vehemenz in den Gesundheitsmarkt. Dabei nutzen die Monopolisten die Pandemie nicht nur für die Imagepflege, sondern forcieren eine infrastrukturelle Macht, die auf eine überwachungskapitalistische Biopolitik zielt. 

Schon lange ist bekannt, dass Big Tech die Welt als auslesbare Karte versteht. Wurden bereits jede Straße, jeder Hügel und jedes Haus erfasst, jedes Buch und Foto ins Digitale übersetzt, wird seit geraumer Zeit auch unser Verhalten immer eindringlicher datafiziert und aggregiert, seine Muster analysiert: Man will nicht nur viel, man will alles kartieren. Durch diesen fast faustischen Erfassungsdrang kommt es nicht nur zu ökonomischen, sondern auch topologischen Verschiebungen. Denn je mehr digitale Devices das Ich und die Welt sondieren, desto größer der Einfluss der Monopolisten und desto elastischer die Grenze zwischen digitaler Repräsentation und analoger Wirklichkeit, zwischen Karte und Gebiet.

Karten sind nicht nur dazu da, um die Welt zu beschreiben, sich zu orientieren und zu navigieren. Sie machen die Welt gangbar, beherrschbar. Fast folgerichtig erscheint es da, dass die ambitionierten Digitalkonzerne stets weiter nach noch unerschlossenen Terrains suchen und dabei zuletzt vor allem den menschlichen Körper als Terra incognita ausmachten. Devices wie die Apple Watch bilden freilich nur die erste Wegmarkierung einer großflächigen Kartierung des Lebens. Schon 2019 antwortete Apple-Chef Tim Cook nahezu stellvertretend für das Silicon Valley auf die Frage, was der wichtigste Beitrag seiner Firma für die Menschheit sein solle: „die Gesundheit“.

Dieser Ehrgeiz hat in der Corona-Krise eine neue Potenz erreicht. Denn der virologische Ausnahmezustand hat nicht nur gezeigt, wie allgegenwärtig wir auf die Services von GAFA (Google, Apple, Facebook, Amazon) setzen und wie wir von ihnen abzuhängen scheinen. Er eröffnete für die IT-Giganten auch die Möglichkeit, sich als Wegbereiter eines neuen, digitaleren Gesundheitswesens zu positionieren – ein Markt, der bis 2025 weltweit ein Volumen von 979 Milliarden US-Dollar, in Deutschland knapp 57 Milliarden US-Dollar erreichen soll (Hosseini 2020) –, um sich endlich wieder, nach allerlei Skandalen und Kongressanhörungen, als digitale Wohltäter zu präsentieren. Dass die Neuauflage des alten Selbst- bzw. eigenen Idealbildes neben wegweisenden Produkten und Services auch mit dem Ausbau der überwachungskapitalistischen Machtposition (Zuboff 2018)1 einhergeht und es nun auch in eher entlegenen Winkeln zu neuen Landnahmen kommt, ist da fast selbstverständlich. Denn die Geodäten des Digitalen wissen längst: Souverän ist, wer die besten Karten hat.

Google: die Kartierung der Körper

Einer der avanciertesten Player im Geschäft des Gesundheitsmappings ist zuallererst Alphabet respektive Google. Der Konzern aus Mountain View forschte schon an smarten Kontaktlinsen und OP-Robotern, investiert unablässig sowohl in Start-ups als auch in etablierte Firmen2 und konzentrierte sich mit seinem Unternehmen DeepMind, das auf Künstliche Intelligenz (KI) spezialisiert ist, zuletzt vor allem auf die Entwicklung von Algorithmen, mit denen Krankheitsverläufe von Patient*innen vorhergesagt, die Bettenbelegungen in Kliniken besser organisiert werden sollen.

In solchen KI-Anwendungen wurden enorme Potenziale erkannt, die allerdings auf das Sammeln einer großen Menge von Patientendaten angewiesen sind. Um an diese zu gelangen, ging Google in den letzten Jahren entweder Kooperationen mit externen Gesundheitsdienstleistern ein, über die – häufig ohne das Wissen der Patient*innen – Millionen von Datensätzen über Krankheitsverläufe erworben wurden (Hurtz 2019). Oder der Konzern führte die Datenakkumulation gleich selbst durch. Denn bereits seit 2017 verfügt Alphabet mit dem Subunternehmen Verily, vormals Google Life Sciences, über einen Spezialisten für Großstudien, der nichts weniger als das „Redesign der Zukunft der Gesundheit“ verspricht.

So arbeitet Verily im „Project Baseline“ (zusammen mit Google) immer wieder an Studien, die mal einzelne Krankheiten wie Typ-2-Diabetes oder Depressionen erforschen, mal den kompletten Lebensstil ganzer Alterskohorten vermessen, um die Entwicklungen von Krankheiten zu untersuchen. Dafür statten die Forscher*innen seit 2018 für die „Health Study“ 10.000 Menschen über vier Jahre hinweg mit sogenannten Study Watches aus, um sämtliche (In-)Aktivitäten (von der Schrittzahl bis zur Schlafqualität) zu tracken. Zugleich sollen die Proband*innen kontinuierlich Fragebögen ausfüllen, Checkups in Kliniken und Tests – vom Seh- bis zum Gentest – absolvieren, die dem Konzern Einblick in alle Bereiche des Lebens (und Sterbens) eröffnen. All dies geschieht unter dem Motto: „We have mapped the world. Now let’s map human health.“

Das Know-how des Projekts wird seit Beginn der Pandemie noch breitflächiger eingesetzt. Während staatliche Institutionen zauderten, machten Google und Verily Nägel mit Köpfen: Sie entwickelten bereits im März 2020 eine Webseite, die einzelnen Regionen und Bundesstaaten in den USA dabei hilft, Testverfahren effizienter zu koordinieren. In Zusammenarbeit mit lokalen Behörden eröffneten die Unternehmen kurzfristig und unbürokratisch Teststationen und konnten im Drive-Through-Modus und dank eines eigenen, zertifizierten Testlabors nicht nur ein rasches Corona-Screening anbieten, sondern sich auch als zupackender Hoffnungsträger auf die Landkarte der Krisenbekämpfung setzen. Fortlaufend wurden seither die Kapazitäten ausgebaut, weitere Städte und Gemeinden erschlossen, sodass sich bis Februar 2021 über das „Project Baseline“ knapp 1,7 Millionen Bürger testen ließen. Zugleich aktualisierte Verily auch sein Studienangebot. Seit Kurzem werden – u.a. mit den Teilnehmenden der öffentlichen Corona-Screenings –, die Immunreaktionen auf Covid-19 wie auch die Verbreitung von Antikörpern in der Bevölkerung erforscht. Dass auch die Teilnehmenden der weitestgehend kostenlosen Tests ihren Beitrag leisten, scheint dann nur logisch: „(Data-)Sharing is Caring“, so heißt es im Silicon Valley.

Mussten die Unternehmen vor Jahren noch teure Kooperationen eingehen, um an kostbare Gesundheitsdaten zu gelangen, wird Alphabet mit Google und Verily immer mehr selbst zu einem Gesundheitsdienstleister. Dabei dienen die Infrastrukturen, Cloud-Anwendungen und neuen Datensätze nicht allein der Forschung, sondern mehr und mehr auch der eigenen Geschäftsentwicklung. So launchte Verily mit „Healthy at Work“ jüngst auch das Programm für ein zeitgemäßes Gesundheitsmanagement, mit dem Unternehmen und Institutionen eine Art beständiges Covid-19-Screening an der Belegschaft durchführen können: Mitarbeitende füllen dabei via App täglich einen Symptomfragebogen aus, sodass die Arbeitgeber den Gesundheitszustand (bis zum Impfstatus) überwachen können – mit der University of Alabama oder dem Roboterauto-Firma Waymo wurden zuletzt schon die ersten Kunden bekannt.

Neben Verilys Gesundheitsmapping nutzt Alphabet auch herkömmliche Pfade der Kartierung, erstellt über Google Maps „Google Covid-19 Community Mobility Reports“, die alle paar Tage Aufschluss über die aktuellen Bewegungstrends der Bevölkerung geben. Dafür werden aggregierte und anonymisierte Standortdaten von Smartphonenutzer*innen verwendet, die normalerweise anzeigen, wie gut ein Ort – etwa ein Park oder eine Bar – besucht ist. Derlei Daten sollen nun dazu dienen, mögliche Risikogebiete der Ansteckung evidenzbasiert zu lokalisieren und zu eruieren, inwiefern Maßnahmen zur Kontakteinschränkung greifen oder nicht. Aus dem komfortablen Service des Konzerns kann so ein behördliches Tool werden. In Mountain View weiß man, was das bedeutet: Denn die vermessenen Karten wirken nicht allein als selbstloser Dienst an der Öffentlichkeit, sie legitimieren auch die Datenakkumulation des Überwachungskapitalisten, bilden als angenehme Nebenwirkung eine Grundlage, sich neue Räume anzueignen.

Apple: tragbare Forschung

Doch die kalifornischen Tech-Unternehmen denken noch einen bzw. mehrere Schritte weiter. Es wird aktuell nicht nur versucht, historische Bewegungsmuster auszuwerten, es geht auch darum, proaktiver zu sein, um dem Virus schon früher, das heißt ‚hautnah‘ auf die Schliche zu kommen. Im Sommer 2020 wurden einige Studien entwickelt, die besonders auf die sensorische Fähigkeit von Fitnesstrackern und Smartwatches setzen. Neben Googles Fitbit nimmt vor allem die Apple Watch eine Schlüsselposition am Handgelenk ein, ermöglicht es seinen Nutzer*innen, zu „citizen scientists“ zu werden und via App persönliche Daten – von der täglichen Aktivität bis zum Schlafrhythmus – zur Früherkennung von Covid-19 zu spenden.'

Forscher*innen vom Mount Sinai Health System, einem Verbund von acht New Yorker Krankenhäusern, haben etwa in der „Warrior Watch Study“ herausgefunden, dass die Apple Watch kleinste Veränderungen in der Herzfrequenz – als mögliches Anzeichen einer Infektion – wahrnehmen kann und somit bereits bis zu sieben Tage, bevor Symptome spürbar werden, auf das Virus hinweisen könnte (Fayad et al. 2021): „Diese Technologie ermöglicht es uns nicht nur“, erklärt der Co-Autor der Studie Zahi Fayad, „Gesundheitszustände zu tracken und vorherzusagen, sondern auch zeitnah und über die Distanz einzugreifen, was im Zuge einer Pandemie, in der Menschen Abstand halten müssen, essenziell ist.“

Die renommierte medizinische Forschungseinrichtung Scripps Research, die Universität Stanford oder das Robert Koch Institut (mit der Corona-Datenspende-App) haben ähnliche Studien entwickelt, die über die Herzfrequenz hinaus noch weitere Daten – von der Schrittzahl über den Sauerstoffgehalt im Blut bis hin zur Hauttemperatur – erfassen (Snyder et al. 2020). Solche Forschungen erscheinen in der aktuellen Situation dann leicht als Krisenphänomen, doch sind sie im Silicon Valley längst Alltag.

So können die Nutzer*innen der Apple Watch ihre Daten seit 2019 auch über Apples hauseigene Research-App allerlei Universitäten, Krankenhäusern oder Institutionen wie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Verfügung stellen, damit Bereiche von der Herzgesundheit bis zum Zyklus erforschen lassen, um so bei der Entwicklung neuer wissenschaftliche Erkenntnisse oder innovativer Produkte zu helfen. Der tiefe Einblick in intime Daten ist hier kein Makel, er ist Teil des Services, Teil des Konsumerlebnisses, und so erscheint Überwachung auch hier immer mehr, wie der Soziologe Nils Zurawski generell bemerkt, als „ein Feature“ (Zurawski 2021, 92). Ganz selbstverständlich heißt es dann auch bei Apple: „Die Zukunft der Forschung bist du.“

Wer Apples und Googles Forschungen im Gesundheitssektor in den vergangenen Jahren verfolgt hat, den überraschte die Zusammenarbeit bei der Kontaktverfolgung im April 2020 wenig. Es habe für die beiden Konzerne „nie einen wichtigeren Moment“ gegeben, hieß es, um mit der „Kraft der Technologie“ zu helfen, die Welt zu retten. So warteten die Tech-Monopolisten nicht, bis staatliche Akteure ihre Aufgabe bei der Entwicklung ihrer Corona-Warn-Apps erfüllten. Stattdessen präsentierten sie – ganz direkttechnokratisch – eine eigene „umfassende Lösung“, das heißt die notwendige, eigens entwickelte Schnittstelle, die einen dezentralen, anonymisierten Datenaustausch via Bluetooth möglich macht und heute den Standard für fast sämtliche nationale Tracing-Apps in Europa bildet. Dass die beiden Konzerne so eine eherne Norm schufen, die nahezu unhintergehbar ist, zeigt einmal mehr den Ausnahmecharakter ihrer Autorität, ihre infrastrukturelle Macht.

Facebook: Hilfe zur Selbsthilfe oder Healthwashing?

Google und Apple sind jedoch nicht die einzigen Mitglieder im technologischen Krisenstab. Auch Facebook erkennt in der Notlage seine Mission, will sich – ähnlich wie Google – als rettender Kartendienst neu erfinden. So hat das soziale Netzwerk nicht nur ein Corona-Virus- Informationszentrum für den Newsfeed entwickelt und konsequenter als je zuvor Fake News – vor allem bei Impfungen – bekämpft. Für die Carnegie Mellon University und die University of Maryland sprach das Unternehmen außerdem gezielt User*innen an, um einen Fragebogen zu bewerben, der den Forschenden half, wöchentlich „interaktive Karten selbst berichteter Symptome“ zu erstellen – und so das Virus zu tracken. Jeden Tag beantworten mehr als 50.000 Menschen Fragen über Symptome wie Husten oder Fieber, Alter und Wohnort und zu Gefühlen der Angst und Depression (Spice 2020). Facebook erhält diese Daten nicht, will im Hintergrund bleiben und als die neutrale Infrastruktur sozialen Austauschs gelten, die es so gern sein möchte; ein Idealbild, das gerade angesichts der letzten Datenskandale stark gelitten hatte.

Zugleich gibt sich Facebook keineswegs mit der Rolle des unbeteiligten Mediums zufrieden. So weitete die Plattform im kalifornischen Selbstverständnis, jedes Problem sei nur ein Mangel an Daten, die hauseigenen Krankheitspräventions-Karten („Disease Prevention Maps“) aus. Auch dieses Projekt soll „die Effizienz von Gesundheitskampagnen und die Reaktion auf Epidemien“ steigern und wurde bereits 2019 beim Cholera-Tracking in Mosambik eingesetzt. Mit neu entwickelten Tools wie den Co-location Maps, Movement Maps oder Network Coverage Maps erfasst der Konzern nun, wie der Bewegungsradius und die sozialen Kontakte zur Verbreitung des Corona-Virus beitragen, ob die Ausgangsbeschränkungen greifen oder neue Maßnahmen anempfohlen sind. Das Motto der Kartierungsverfahren wirkt auch hier wie ein altbekanntes Versprechen: „Data for Good3.

Zuckerberg scheint in der Krise immer mehr die Chance zu erkennen, Facebook von einem ‚sozialen‘ zu einer Art Forschungsnetzwerk zu entwickeln. So spendete er nicht nur 25 Millionen US-Dollar für den Forschungshub Covid-19 Therapeutics Accelerator, die Plattform vernetzt sich auch stetig weiter und rief gar die globale Koalition Covid-19 Mobility Data Network ins Leben, in der Facebook eine Führungsrolle übernimmt. In kalkulierter Care-Arbeit kooperiert das Unternehmen nun mit dem Who’s who der amerikanischen Universitätslandschaft (von der Harvard School of Public Health bis zur Princeton University) sowie der Bill & Melinda Gates Stiftung. Ziel der „nicht-pharmazeutischen Intervention“ ist es, mit den Echtzeiterkenntnissen von Facebook – bei Gebrauch von Apps wie Facebook Messenger können etwa die jeweiligen Standortdaten erfasst werden – die Verbreitung des Virus präziser zu bestimmen, um so prädiktive Modelle zu erstellen, die den Verlauf der Krise prognostizieren.

Wurden ähnliche Verfahren vor Monaten noch vornehmlich dazu verwendet, die Präferenzen der User*innen zu erforschen, ihr Konsumverhalten vorherzusagen, um bewegungsbasiert Werbung zu schalten, soll die überwachungskapitalistische Datensammelleidenschaft – ähnlich wie bei Googles „Mobility Reports“ – nun in neuem, heilsamem Licht erscheinen. In den Worten Zuckerbergs: „Die Welt war schon früher mit Pandemien konfrontiert, doch dieses Mal haben wir eine neue Supermacht: die Fähigkeit, Daten für das Gute zu sammeln und auszutauschen.“

Der Beweis, dass Facebooks „Supermacht“ tatsächlich hilfreich in der Krise ist, dass die Karten der Bewegungsmuster mehr als ein Placebo sind, steht weitestgehend aus. Doch soll niemand am guten Willen der Plattform zweifeln und so startete sie im Februar 2021 eine Initiative, die Gesundheitsorganisationen wie auch Ministerien anbot, Anzeigenplätze im Wert von 120 Millionen US-Dollar zu nutzen, um zum Beispiel Impfkampagnen zu bewerben.

Facebook scheut weder Kosten noch Mühen, um die Öffentlichkeit von seinem Systemupdate, von seinen digitalen Therapieangeboten zu überzeugen. Es will nicht mehr als profithungrige Marketingplattform wahrgenommen werden, die der Demokratie schadet und zerschlagen gehört. Viel lieber möchte es als wohlmeinendes, fast achtsames Unternehmen gelten – als Unternehmen, das mit unseren Daten für die Allgemeinheit Sorge trägt. Dass die Arbeit am Image leicht als Healthwashing – saubere Hände sind das Gebot der Stunde – erscheinen kann, ist offenkundig, doch im Silicon Valley wissen sie schon lange, dass sich kaum etwas besser verkaufen lässt als das Versprechen auf eine bessere, gesündere Zukunft.

Amazon: ein gesundes Ökosystem

Jenseits der dynamischen Kartendienste und selbstlosen Proklamationen tat sich zuletzt ein weiterer Player hervor, der weniger forschend denn geschäftstüchtig agierte: Amazon. Der „Allesverkäufer“ aus Seattle profiliert sich ganz im Zeichen der Gesundheit. Das selbst ernannte „kundenorientierteste Unternehmen der Welt“ launchte während der Pandemie eine ganze Reihe neuer Projekte, die zwar nicht als Akut- und Ersthilfe, aber weit darüber hinaus wirken sollen.

Bereits 2018 erwarb das Unternehmen mit Pillpack eine Online-Apotheke und verkündete im November 2020 seine Ambitionen, mit Amazon Pharmacy einen Service zu etablieren, der verschreibungspflichtige Medikamente im Sortiment hat. Das neue Geschäftsfeld – der Markt ist allein in den USA mehr als 900 Milliarden US-Dollar schwer – scheint Teil einer langfristigen Strategie, die zuletzt weiter ausformuliert wurde.

So erprobt Amazon seit Kurzem die telemedizinische Plattform Amazon Care, die eine umfassende, wenngleich kontaktlose Rundumversorgung – zunächst nur für die eigene Belegschaft im Großraum Seattle – ermöglichen soll. Via Chat oder Videocall können sich die Mitarbeiter*innen jederzeit von Ärzt*innen diagnostischen Rat holen, gegebenenfalls Haustermine vereinbaren oder sich direkt beim (und in gewisser Weise vom) Arbeitgeber betreuen lassen. Die medizinische Behandlung soll reibungsloser, schneller und effizienter werden. Wartezimmer lassen sich dabei genauso wie der Gang zur Apotheke vermeiden, denn natürlich kann die Medizin bei Amazon Pharmacy geordert werden. Noch ist das Konzept ein Versuchsballon, doch das Unternehmen rechnet damit, dass es alsbald flächendeckend genutzt werden kann. Bis dahin sollen die Mitarbeitenden herhalten, dürfen sich nicht nur während der Arbeit überwacht, sondern auch im Krankenstand besser „versorgt“ fühlen. Amazon verkauft diese Rundumerfassung als Teil neuer Therapien, kurz: „Healthcare built around you.“

Neben Amazon Care hat das Unternehmen bereits im Sommer 2020 mit Amazon Halo einen Fitnesstracker auf den Markt gebracht, der den Marktführern wie Apple Watch oder Googles Fitbit Konkurrenz machen soll. Auch dieses Device lässt sich zur Corona-Nachverfolgung einsetzen, doch zielt es entschieden auf postpandemische Märkte: Anders als eine Smartwatch hat das Halo-Band (dt. Heiligenschein) keinen Screen, ist dafür aber mit allerlei KI versehen, die für neue Dimensionen in der Gesundheitsanalyse sorgt. Das Halo kann nicht nur Schritte zählen, den Pulsschlag oder die Hauttemperatur messen, es ermöglicht auch eine Körperfettanalyse über eine Art 3-D-Scan. Diese soll doppelt so präzise sein wie die üblichen Methoden zur Gewichtsmessung (Waagen oder Body-Mass-Index). Nötig dazu allein: Die Nutzer*innen müssen sich halb nackt abfotografieren und die Fotos in die Amazon-Cloud hochladen. Anschließend wird eine Simulation des Körpers errechnet und, wie es heißt, ein „kompletteres Bild der eigenen Gesundheit“ erstellt. Selbst die Washington Post (deren Eigentümer der Amazon-Gründer Jeff Bezos ist) nannte dieses Gerät die „invasivste Technologie, die wir getestet haben“ – und verwies dabei vor allem auf ein anderes Feature des smarten Device: Denn auch die Stimme soll via Mikrofon aufgezeichnet werden können, um via affective computing sowohl Rückschlüsse auf die emotionale Verfasstheit seines Trägers zu ziehen als auch seine Wirkung auf Fremde anzuzeigen. Klingt die Nutzerin glücklich, frustriert, müde, gestresst oder interessiert? Schwang ein freundlicher Ton oder doch eine passiv-aggressive Konnotation mit? All dies wird aufgenommen, kann in Echtzeit analysiert werden und soll neben dem mentalen Wohlbefinden auch der verbesserten Fremdwahrnehmung dienen.

Amazon kennt bereits die Konsum- und Streamingvorlieben seiner Kund*innen und weiß, wer wann zu Hause ist. Doch während der Corona-Krise hat das Unternehmen die Ein- und Übersichten noch erweitert, will nun auch Körper und Geist erfassen. Mit Amazon Pharmacy, Amazon Care und Amazon Halo schafft der Konzern peu à peu ein digitales Gesundheits- und damit ein vollumfängliches Ökosystem, das eine konsequentere Durchdringung des Lebens mit überwachungskapitalistischen Mitteln ermöglicht. Amazon wird zum ständigen Begleiter, zur ultimativen Anlaufstelle des Alltags – man will nicht mehr nur Lebensmittel liefern, sondern selbst zum Lebens-Mittel werden.

GAFA: plattformökonomischer Imperialismus

Konzerne wie Google, Apple, Facebook und Amazon sind längst keine einfachen Unternehmen mehr, sie sind zu engmaschigen Infrastrukturen geworden, die nicht nur Daten über unser Onlineverhalten, unsere Präferenzen und Eigenschaften sammeln, sondern uns auch immer eindringlicher „umsorgen“ – ihr Einstieg in den Gesundheitsmarkt macht dies mehr als deutlich. Vor diesem Hintergrund wirkt die Pandemie wie ein Beschleuniger von Wandlungsprozessen, die bereits vor ihr einsetzten, nun jedoch noch konzentrierter verfolgt werden. So weiten die Konzerne ihren Aktionsradius beharrlich aus, schwingen sich mit Subunternehmen, Forschungsnetzwerken und tragbaren Technologien zu Kartografen von Leib und Leben auf und üben sich letztlich in einer Art plattformökonomischem Imperialismus, der jetzt auch die „Eroberung des Körpers“ (Paul Virilio) zu seiner Sache macht: Wie hieß es schon beim „Project Baseline“ von Verily: „Make your mark on the map of human health.“

Über die Kartierungspraxen werden nicht nur neue Geschäfts- und Ertragsfelder der Konzerne konturiert oder Services entwickelt, die qua Finanz- und Datenmacht fast exklusiv von den Monopolisten angeboten werden können; sukzessive wird auch eine untergründige und durchaus heikle Souveränitätsverschiebung flagrant. Denn die IT-Unternehmen können sich während der Corona-Krise, wo herkömmliche Strukturen und Institutionen zu versagen scheinen, wo Personal – nach den Sparrunden der Vergangenheit nur logisch – fehlt, als Handelnde, als smarte Heilsbringer präsentieren, die häufig jenseits des staatlichen Zauderns Aufgaben übernehmen und ohne demokratische Abwägungsprozesse agieren. So manifestieren die Konzerne eine infrastrukturelle Macht, die nicht selten – siehe Kontaktnachverfolgung – den normativen Rahmen definiert, in dem (politisch wie sozial) gehandelt werden kann. Dass sie dabei den Alltag, den individuellen wie den Gesellschaftskörper immer tiefer sondieren, ihre digitale Landnahme und das, was man eine überwachungskapitalistische bzw. „datafizierte Biopolitik“ (Maschewski/Nosthoff 2020, 133 f.) nennen kann, plausibilisieren, liegt dann nicht nur in der Natur ihrer Devices. Es liegt auch an einer Zeit, in der sich die Menschen nach Gewissheit sehnen und deshalb jeden Tag neue Tabellen, Kurven und Werte, neue Daten verlangen; an einer Zeit, in der Probleme – soziale oder gesundheitliche – vor allem technisch gelöst werden wollen.

Was während der Pandemie verständlich, vielleicht notwendig erscheint, kann schnell eine neue Dynamik entfalten. Wenn es nach GAFA geht, haben sie noch nie genug Daten gesammelt, wissen sie stets zu wenig über das, was die Welt und uns im Innersten zusammenhält. So werden sie weiter an ihren Karten, ihren Gesundheitsservices und Infrastrukturen feilen und damit auch eine Idee von Gesellschaft systematisieren (Maschewski/Nosthoff 2019), in der der expansive, monopolistische Einsatz digitaler Technik so sehr und so anschmiegsam in unseren Alltag einsinkt, dass die Unterschiede zwischen System und Realität, Karte und Gebiet unkenntlich werden. Denn wer kann von sich heute noch behaupten, nicht den empfohlenen Wegen und vermessenen Pfaden zu folgen, nicht die smarten Geräte und Services zu benutzen – oder benutzen zu müssen?

1 Als Überwachungskapitalismus bezeichnet Zuboff ein Wirtschaftsmodell, das insbesondere auf die digitale Erfassung, Analyse und Instrumentalisierung von Nutzerdaten (vor allem zur Modifikation von Verhalten) setzt und von IT-Konzernen wie Google oder Facebook kultiviert wird.

2 Über die konzerneigenen Risikokapitalgesellschaften wie GV, Gradient Ventures oder CapitalG investiert Alphabet immer wieder in Start-ups (z. B. 2020 u. a. 15 Millionen US-Dollar in die deutsch-amerikanische Firma Klara, die Kommunikationsplattformen für das Gesundheitswesen entwickelt) oder erwirbt direkt internationale Schwergewichte wie den Fitnesstrackerhersteller Fitbit, für den Google 2019 2,1 Milliarden US-Dollar zahlte.

3 Vgl. insbesondere zu den Karten von Facebooks Data for Good, https://dataforgood.fb.com/docs/covid19/.

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