Zuckerberg scheint in der Krise immer mehr die Chance zu erkennen, Facebook von einem ‚sozialen‘ zu einer Art Forschungsnetzwerk zu entwickeln. So spendete er nicht nur 25 Millionen US-Dollar für den Forschungshub Covid-19 Therapeutics Accelerator, die Plattform vernetzt sich auch stetig weiter und rief gar die globale Koalition Covid-19 Mobility Data Network ins Leben, in der Facebook eine Führungsrolle übernimmt. In kalkulierter Care-Arbeit kooperiert das Unternehmen nun mit dem Who’s who der amerikanischen Universitätslandschaft (von der Harvard School of Public Health bis zur Princeton University) sowie der Bill & Melinda Gates Stiftung. Ziel der „nicht-pharmazeutischen Intervention“ ist es, mit den Echtzeiterkenntnissen von Facebook – bei Gebrauch von Apps wie Facebook Messenger können etwa die jeweiligen Standortdaten erfasst werden – die Verbreitung des Virus präziser zu bestimmen, um so prädiktive Modelle zu erstellen, die den Verlauf der Krise prognostizieren.
Wurden ähnliche Verfahren vor Monaten noch vornehmlich dazu verwendet, die Präferenzen der User*innen zu erforschen, ihr Konsumverhalten vorherzusagen, um bewegungsbasiert Werbung zu schalten, soll die überwachungskapitalistische Datensammelleidenschaft – ähnlich wie bei Googles „Mobility Reports“ – nun in neuem, heilsamem Licht erscheinen. In den Worten Zuckerbergs: „Die Welt war schon früher mit Pandemien konfrontiert, doch dieses Mal haben wir eine neue Supermacht: die Fähigkeit, Daten für das Gute zu sammeln und auszutauschen.“
Der Beweis, dass Facebooks „Supermacht“ tatsächlich hilfreich in der Krise ist, dass die Karten der Bewegungsmuster mehr als ein Placebo sind, steht weitestgehend aus. Doch soll niemand am guten Willen der Plattform zweifeln und so startete sie im Februar 2021 eine Initiative, die Gesundheitsorganisationen wie auch Ministerien anbot, Anzeigenplätze im Wert von 120 Millionen US-Dollar zu nutzen, um zum Beispiel Impfkampagnen zu bewerben.
Facebook scheut weder Kosten noch Mühen, um die Öffentlichkeit von seinem Systemupdate, von seinen digitalen Therapieangeboten zu überzeugen. Es will nicht mehr als profithungrige Marketingplattform wahrgenommen werden, die der Demokratie schadet und zerschlagen gehört. Viel lieber möchte es als wohlmeinendes, fast achtsames Unternehmen gelten – als Unternehmen, das mit unseren Daten für die Allgemeinheit Sorge trägt. Dass die Arbeit am Image leicht als Healthwashing – saubere Hände sind das Gebot der Stunde – erscheinen kann, ist offenkundig, doch im Silicon Valley wissen sie schon lange, dass sich kaum etwas besser verkaufen lässt als das Versprechen auf eine bessere, gesündere Zukunft.
Amazon: ein gesundes Ökosystem
Jenseits der dynamischen Kartendienste und selbstlosen Proklamationen tat sich zuletzt ein weiterer Player hervor, der weniger forschend denn geschäftstüchtig agierte: Amazon. Der „Allesverkäufer“ aus Seattle profiliert sich ganz im Zeichen der Gesundheit. Das selbst ernannte „kundenorientierteste Unternehmen der Welt“ launchte während der Pandemie eine ganze Reihe neuer Projekte, die zwar nicht als Akut- und Ersthilfe, aber weit darüber hinaus wirken sollen.
Bereits 2018 erwarb das Unternehmen mit Pillpack eine Online-Apotheke und verkündete im November 2020 seine Ambitionen, mit Amazon Pharmacy einen Service zu etablieren, der verschreibungspflichtige Medikamente im Sortiment hat. Das neue Geschäftsfeld – der Markt ist allein in den USA mehr als 900 Milliarden US-Dollar schwer – scheint Teil einer langfristigen Strategie, die zuletzt weiter ausformuliert wurde.
So erprobt Amazon seit Kurzem die telemedizinische Plattform Amazon Care, die eine umfassende, wenngleich kontaktlose Rundumversorgung – zunächst nur für die eigene Belegschaft im Großraum Seattle – ermöglichen soll. Via Chat oder Videocall können sich die Mitarbeiter*innen jederzeit von Ärzt*innen diagnostischen Rat holen, gegebenenfalls Haustermine vereinbaren oder sich direkt beim (und in gewisser Weise vom) Arbeitgeber betreuen lassen. Die medizinische Behandlung soll reibungsloser, schneller und effizienter werden. Wartezimmer lassen sich dabei genauso wie der Gang zur Apotheke vermeiden, denn natürlich kann die Medizin bei Amazon Pharmacy geordert werden. Noch ist das Konzept ein Versuchsballon, doch das Unternehmen rechnet damit, dass es alsbald flächendeckend genutzt werden kann. Bis dahin sollen die Mitarbeitenden herhalten, dürfen sich nicht nur während der Arbeit überwacht, sondern auch im Krankenstand besser „versorgt“ fühlen. Amazon verkauft diese Rundumerfassung als Teil neuer Therapien, kurz: „Healthcare built around you.“
Neben Amazon Care hat das Unternehmen bereits im Sommer 2020 mit Amazon Halo einen Fitnesstracker auf den Markt gebracht, der den Marktführern wie Apple Watch oder Googles Fitbit Konkurrenz machen soll. Auch dieses Device lässt sich zur Corona-Nachverfolgung einsetzen, doch zielt es entschieden auf postpandemische Märkte: Anders als eine Smartwatch hat das Halo-Band (dt. Heiligenschein) keinen Screen, ist dafür aber mit allerlei KI versehen, die für neue Dimensionen in der Gesundheitsanalyse sorgt. Das Halo kann nicht nur Schritte zählen, den Pulsschlag oder die Hauttemperatur messen, es ermöglicht auch eine Körperfettanalyse über eine Art 3-D-Scan. Diese soll doppelt so präzise sein wie die üblichen Methoden zur Gewichtsmessung (Waagen oder Body-Mass-Index). Nötig dazu allein: Die Nutzer*innen müssen sich halb nackt abfotografieren und die Fotos in die Amazon-Cloud hochladen. Anschließend wird eine Simulation des Körpers errechnet und, wie es heißt, ein „kompletteres Bild der eigenen Gesundheit“ erstellt. Selbst die Washington Post (deren Eigentümer der Amazon-Gründer Jeff Bezos ist) nannte dieses Gerät die „invasivste Technologie, die wir getestet haben“ – und verwies dabei vor allem auf ein anderes Feature des smarten Device: Denn auch die Stimme soll via Mikrofon aufgezeichnet werden können, um via affective computing sowohl Rückschlüsse auf die emotionale Verfasstheit seines Trägers zu ziehen als auch seine Wirkung auf Fremde anzuzeigen. Klingt die Nutzerin glücklich, frustriert, müde, gestresst oder interessiert? Schwang ein freundlicher Ton oder doch eine passiv-aggressive Konnotation mit? All dies wird aufgenommen, kann in Echtzeit analysiert werden und soll neben dem mentalen Wohlbefinden auch der verbesserten Fremdwahrnehmung dienen.
Amazon kennt bereits die Konsum- und Streamingvorlieben seiner Kund*innen und weiß, wer wann zu Hause ist. Doch während der Corona-Krise hat das Unternehmen die Ein- und Übersichten noch erweitert, will nun auch Körper und Geist erfassen. Mit Amazon Pharmacy, Amazon Care und Amazon Halo schafft der Konzern peu à peu ein digitales Gesundheits- und damit ein vollumfängliches Ökosystem, das eine konsequentere Durchdringung des Lebens mit überwachungskapitalistischen Mitteln ermöglicht. Amazon wird zum ständigen Begleiter, zur ultimativen Anlaufstelle des Alltags – man will nicht mehr nur Lebensmittel liefern, sondern selbst zum Lebens-Mittel werden.
GAFA: plattformökonomischer Imperialismus
Konzerne wie Google, Apple, Facebook und Amazon sind längst keine einfachen Unternehmen mehr, sie sind zu engmaschigen Infrastrukturen geworden, die nicht nur Daten über unser Onlineverhalten, unsere Präferenzen und Eigenschaften sammeln, sondern uns auch immer eindringlicher „umsorgen“ – ihr Einstieg in den Gesundheitsmarkt macht dies mehr als deutlich. Vor diesem Hintergrund wirkt die Pandemie wie ein Beschleuniger von Wandlungsprozessen, die bereits vor ihr einsetzten, nun jedoch noch konzentrierter verfolgt werden. So weiten die Konzerne ihren Aktionsradius beharrlich aus, schwingen sich mit Subunternehmen, Forschungsnetzwerken und tragbaren Technologien zu Kartografen von Leib und Leben auf und üben sich letztlich in einer Art plattformökonomischem Imperialismus, der jetzt auch die „Eroberung des Körpers“ (Paul Virilio) zu seiner Sache macht: Wie hieß es schon beim „Project Baseline“ von Verily: „Make your mark on the map of human health.“
Über die Kartierungspraxen werden nicht nur neue Geschäfts- und Ertragsfelder der Konzerne konturiert oder Services entwickelt, die qua Finanz- und Datenmacht fast exklusiv von den Monopolisten angeboten werden können; sukzessive wird auch eine untergründige und durchaus heikle Souveränitätsverschiebung flagrant. Denn die IT-Unternehmen können sich während der Corona-Krise, wo herkömmliche Strukturen und Institutionen zu versagen scheinen, wo Personal – nach den Sparrunden der Vergangenheit nur logisch – fehlt, als Handelnde, als smarte Heilsbringer präsentieren, die häufig jenseits des staatlichen Zauderns Aufgaben übernehmen und ohne demokratische Abwägungsprozesse agieren. So manifestieren die Konzerne eine infrastrukturelle Macht, die nicht selten – siehe Kontaktnachverfolgung – den normativen Rahmen definiert, in dem (politisch wie sozial) gehandelt werden kann. Dass sie dabei den Alltag, den individuellen wie den Gesellschaftskörper immer tiefer sondieren, ihre digitale Landnahme und das, was man eine überwachungskapitalistische bzw. „datafizierte Biopolitik“ (Maschewski/Nosthoff 2020, 133 f.) nennen kann, plausibilisieren, liegt dann nicht nur in der Natur ihrer Devices. Es liegt auch an einer Zeit, in der sich die Menschen nach Gewissheit sehnen und deshalb jeden Tag neue Tabellen, Kurven und Werte, neue Daten verlangen; an einer Zeit, in der Probleme – soziale oder gesundheitliche – vor allem technisch gelöst werden wollen.
Was während der Pandemie verständlich, vielleicht notwendig erscheint, kann schnell eine neue Dynamik entfalten. Wenn es nach GAFA geht, haben sie noch nie genug Daten gesammelt, wissen sie stets zu wenig über das, was die Welt und uns im Innersten zusammenhält. So werden sie weiter an ihren Karten, ihren Gesundheitsservices und Infrastrukturen feilen und damit auch eine Idee von Gesellschaft systematisieren (Maschewski/Nosthoff 2019), in der der expansive, monopolistische Einsatz digitaler Technik so sehr und so anschmiegsam in unseren Alltag einsinkt, dass die Unterschiede zwischen System und Realität, Karte und Gebiet unkenntlich werden. Denn wer kann von sich heute noch behaupten, nicht den empfohlenen Wegen und vermessenen Pfaden zu folgen, nicht die smarten Geräte und Services zu benutzen – oder benutzen zu müssen?