Die Folge dieser Wirtschaftskrise: eine politische Krise, die im Juni 2013 Massendemonstrationen auslöste und jüngst in eine ideologische Krise mündete. Mit der Krise entblößte die Bourgeoisie ihr grausames und zutiefst unsoziales Gesicht. Die Stärkung der sozialen Rechte der Armen unter der Regierung der Arbeiterpartei PT, zum Beispiel der jährlich steigende Mindestlohn, Zugang zu Universitäten, Quoten für Minderheiten und einkommensschwache Gruppen im Land, Arbeiter*innenrechte für Hausangestellte, Einkommenstransfer-Systeme, Mittel für die armen Regionen im Norden und Nordosten, wurden von der Oberschicht in den Metropolen und der mit dem Agro-Business verbundenen ländlichen Bourgeoisie entschieden zurückgewiesen. Diese Kreise wollten nicht länger hinnehmen, dass Afrobrasilianer*innen, Indigene oder die Arbeiterschicht aus dem Nordosten nun neben weißen Student*innen der oberen Mittelschicht aus dem Süden in Hörsälen sitzen oder zusammen in einem Flugzeug reisen konnten. Die Unterschiede zwischen "uns und den anderen" waren im sozialen Raum verwischt worden, obwohl doch die ökonomischen Unterschiede noch immer sehr groß waren. Die ideologische Krise beschränkt sich nicht auf die oberen Schichten. Bemerkbar macht sie sich vor allem in der „Mittelschicht“ und der unteren „Mittelschicht“, deren Mitglieder sich in der Hochphase der PT-Ära (2002–16) an einem hohen Konsumniveau, Zugang zu Universitäten und regulärer Beschäftigung erfreuen konnten. Mit der Wirtschaftskrise verloren diese gesellschaftlichen Gruppen jedoch ihre materiellen Zugewinne und bilden heute eine Masse von arbeitslosen oder prekär angestellten Arbeiter*innen, die mit öffentlichen Dienstleistungen von geringer Qualität leben müssen. Diese breite Masse von rechtlosen Arbeiter*innen (die typischen Uber-Fahrer*innen oder informellen Kosmetikverkäuferinnen) richtete ihren Groll gegen die PT (der sogenannte Anti-Petismo). Unter diesen prekär angestellten Arbeiter*innen gewannen rechts-konservative Einstellungen neue Bedeutung – Anti-Feminismus, LGBT-feindliche Einstellungen und Anti-Kommunismus –, die durch die Missionierung von evangelikalen Pfingstkirchen und die Verbreitung von "Fake News" zusätzlich gestärkt wurden. Zusätzlich zu alledem befindet sich das traditionelle Parteienspektrum, und das schließt selbst rechte Parteien mit ein, in einer Krise der politischen Repräsentation. Erste Anzeichen dafür zeigten sich bei den Protesten gegen die PT-Regierung im Juni 2013, als nicht nur Grundrechte auf Transport, Gesundheit und Bildung eingefordert wurden, sondern auch der Unmut gegenüber allen politischen Parteien laut wurde. Die diffuse Einschätzung, „Politik geht mit Korruption einher“, ist mittlerweile weit verbreitet. Als Lösung für die ineffiziente Politik wurde die Idee der Meritokratie in Stellung gebracht, also die Ideologie einer Leistungsgesellschaft, die auf Verdiensten und persönlicher Anstrengung basiert. Die Repräsentationskrise verschärfte sich nach den Wahlen im Jahr 2014 und sie durchdrang auch das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff im Jahr 2016. Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen identifizieren sich längst nicht mehr als „Arbeiterklasse“, geschweige denn mit der „Arbeiterpartei“. So kam der Zeitpunkt, an dem sich viele dieser „Arbeiter*innen ohne Rechte“ ideologisch hinter Jair Bolsonaro stellten, der dieses „Vakuum“ im politischen Raum zu besetzen verstand. Die „antipolitische“ Stimmung erfasste dann auch die breiten Bevölkerungsschichten und leistete schließlich einer extremen, auf Hass gründenden Politisierung Vorschub. Bolsonaro inszenierte sich als charismatische Führergestalt, die alle Bürger*innen von „sämtlichen Übeln“ befreien würde. Er versprach unter seiner Führung – als einfacher Mann des Volkes, der dessen Sprache spricht und dessen Vorlieben und Kultur teilt – die Probleme des Landes zu lösen. Mittels der sozialen Medien gelang es Bolsonaro auf diese Weise, ein Gefühl der Nähe zu seinen Unterstützer*innen zu erzeugen. Als zweiter Aspekt macht das „Bolsonaro-Phänomen“ auch die Grenzen eines Klassenkompromisses deutlich. In verschiedenen Teilen der Welt hingen gemäßigte linke und sozialdemokratische Parteien, wenn sie einmal an der Regierung waren, immer wieder der Illusion an, eine Versöhnung der Klassen wäre möglich. Und da die wirtschaftlichen Bedingungen höhere Staatsausgaben zuließen, konnte die PT die Interessen der unterschiedlichen sozialen Klassen und Schichten bis zu einem gewissen Punkt tatsächlich bedienen. Ein langfristiger Klassenkompromis war angesichts der Folgen der Finanzkrise jedoch unmöglich. Der Möglichkeit beraubt, für einen Ausgleich der sich widersprechenden Klasseninteressen zu sorgen, gelang es dem brasilianischen Staat in den letzten Regierungsjahren der PT auch nicht länger, den Zusammenhalt zwischen den unterschiedlichen Fraktionen der herrschenden Klasse aufrechtzuerhalten. Das ist ein dritter Aspekt, der in der aktuellen Situation mitbedacht werden muss. Die Schaffung großer staatlicher Monopole, die bestimmten Sektoren zugute kamen und andere Sektoren benachteiligten (zum Beispiel die Vergabe günstiger Kredite an einige Baukonzerne durch die nationale Entwicklungsbank BNDES), die Versuche der Regierung, die Energie- und Gaspreise künstlich zu stabilisieren, die Regulierung der Erdöl- und Erdgasgewinnung im Pré-Sal-Gebiet vor der brasilianischen Küste und andere Maßnahmen stellten (aus Marktperspektive) einen erheblichen staatlichen Eingriff in die Wirtschaft dar, was zu Konflikten zwischen verschiedenen Teilen der Bourgeoisie führte.
Die Fragen zum Skandal wurden breit in der Öffentlichkeit diskutiert und führten schließlich zur Festnahme von PT-Abgeordneten und der moralischen Niederlage der gesamten Linken. Den Tiefpunkt dieser Niederlage markierte die Verhaftung von Lula da Silva – ein höchst politisches Unterfangen, vor allem angesichts der Geschwindigkeit, mit der er verurteilt und ins Gefängnis gesteckt wurde. Denn es liegen keine handfesten Beweise gegen ihn vor; seine Verurteilung beruhte ausschließlich auf Vorwürfen anderer Politiker*innen und Geschäftsleute, die bereits im Gefängnis saßen. Als Lula noch die Umfragen anführte, hatte Bolsonaro schlechte Karten, die Wahl zu gewinnen. Doch als Lula die Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen verwehrt wurde, lag es auf der Hand, dass die Wahlergebnisse zu Gunsten Bolsonaros ausfallen würden. Vor diesem Hintergrund inszenierte sich Bolsonaro gegenüber den brasilianischen Wähler*innen als Anti-Establishment-Kandidat – als politische Führungsfigur, deren Regierungsmitglieder sich durch erwiesene Verdienste in Unternehmen und öffentlichen Institutionen auszeichnen würden. Unter seiner Regierung würden Abgeordnete nicht länger auf Grundlage ihrer politisch-ideologischen Einstellungen ernannt. Selbstredend ist das nie passiert. Stattdessen ist schlicht eine Ideologie durch eine andere ersetzt worden. Und auch hier ist es Bolsonaro gelungen, das politische Vakuum zu füllen.
Wie setzt sich Bolsonaros Regierung zusammen?
Die Umstrukturierung des brasilianischen Staates begann mit wesentlichen Veränderungen seiner institutionellen und bürokratischen Struktur. Aus der Zusammenlegung der Ministerien für Finanzen, Planung, Industrie und Handel und Arbeit entstand ein „Superministerium“ für Wirtschaft, das jetzt der Kontrolle eines Ultraliberalen untersteht: Paulo Guedes. Im Rahmen seines Superministeriums entstand nun eine Reihe neuer Räte, Ausschüsse und Sekretariate, die der neuen wirtschaftlichen Linie folgen. Dazu gehören das „Sekretariat für Entbürokratisierung“ und das „Sekretariat für Denationalisierung und Desinvestition“. Unter ihrer Ägide sind die Privatisierung staatlicher Unternehmen, eine Rentenreform, eine Ausweitung der Arbeitsreform, eine größere Handelsliberalisierung und der Verkauf von indigenem Land an Ölkonzerne geplant. Gleichzeitig wurden viele der staatlichen Institutionen aufgelöst, die von der PT-Regierung geschaffen worden und mit dem Sozial- und Arbeitssektor verbunden waren. Dazu zählen das Arbeitsministerium, das Ministerium für Städte und Stadtplanung, der Nationalrat für Nahrungsmittel- und Ernährungssicherheit, das Kulturministerium, das Amt für Indigene Angelegenheiten FUNAI und das Ministerium für landwirtschaftliche Entwicklung. Doch es änderte sich nicht nur die institutionelle Struktur des Staates, es wurden auch viele öffentliche Ämter neu besetzt. Weit in die Ferne gerückt ist das Wahlversprechen, Ämter auf Grundlage von besonderen Verdiensten zu vergeben. Stattdessen besetzte Bolsonaro wichtige Schaltstellen mit Personen, die politisch und ideologisch auf Linie sind. Sie stammen im Wesentlichen aus zwei Gruppen: Vertreter des Militärs sind jetzt in allen Ministerien vertreten und stellen zusammen ein Drittel aller hochrangigen Positionen, entweder als Minister oder an anderen wichtigen Positionen. Zu den Ministerien, die nun Militärs unterstehen, gehören das Verteidigungsministerium, das Ministerium für Bergbau und Energie, das Ministerium für Wissenschaft und Technologie, das Ministerium für Infrastruktur, das Amt für Institutionelle Sicherheit sowie das Amt des Vizepräsidenten. Die andere große Gruppe, deren Interessen offensichtlich mit denen des Militärs kollidieren, sind Anhänger*innen der erzkonservativen Ideologie rund um Olavo de Carvalho, ein in den USA lebender selbst erklärter Philosoph. Carvalho gibt Online-Kurse, steht Personen wie Steve Bannon nahe und hat großen Einfluss unter Bolsonaros Gefolgschaft.
[1] www.valor.com.br/brasil/6098531/desemprego-no-brasil-atinge-mais-de-12-milhoes-no-fim-de-2018
[2] https://socialistproject.ca/2019/04/brazil-under-bolsonaro-social-base-agenda-and-perspectives/#easy-footnote-bottom-2-2505
[3] g1.globo.com/jornal-nacional/noticia/2013/07/medicos-voltam-protestar-contra-contratacao-de-estrangeiros.html
[4] https://oglobo.globo.com/brasil/mp-do-trabalho-processa-havan-acusada-de-coagir-funcionarios-votar-em-bolsonaro-23120279
[5] https://vejasp.abril.com.br/blog/poder-sp/oscar-maroni-festa-bolsonaro/
[6] https://g1.globo.com/politica/noticia/2018/12/11/bolsonaro-participa-de-festa-de-cantores-sertanejos-em-brasilia.ghtml
[7] www.valor.com.br/politica/5910465/avanco-de-bolsonaro-deve-gerar-euforia-hoje-no-mercado
[8] www1.folha.uol.com.br/poder/2018/09/por-que-tanta-gente-em-wall-street-torce-por-uma-vitoria-de-bolsonaro.shtml
[9] https://oglobo.globo.com/sociedade/assassinatos-de-lgbt-crescem-30-entre-2016-2017-segundo-relatorio-22295785
[10] Eine der ersten Maßnahmen unter der Regierung von Michel Temer nach dem Abschluss des Amtsenthebungsverfahrens gegen Dilma Rousseff im August 2017 war die Änderung der Rechtsvorschriften für die Erschließung des Pré-Sal-Gebiets. Die vorher obligatorische Beteiligung von Petrobras wurde aufgehoben, damit Exxon sowie Shell (die von Temer dezidiert genannt wurden) sich stärker an den folgenden Ausschreibungen beteiligen können. Vgl., Com regras mais claras, leilão do pré-sal cria expectativa positiva na economia, www.brasil.gov.br/economia-e-emprego/2017/10/com-regras-mais-claras-leilao-do-pre-sal-cria-expectativa-positiva-na-economia.
[11] https://politica.estadao.com.br/noticias/geral,um-jantar-com-steve-bannon-e-olavo-de-carvalho,70002686785
[12] www.valor.com.br/politica/5955373/brasil-pode-virar-referencia-diz-bannon
[13] www.valor.com.br/politica/6195975/velez-quer-alterar-livros-didaticos-para-resgatar-visao-sobre-golpe
[14] Guedes war im brasilianischen Mainstream bis vor Kurzem noch eine unbekannte Figur. Einem Artikel in Le Monde Diplomatique Brasil von Joana Salem und Rejane Hoeveler zufolge, beendete er sein Studium in Chicago im Jahr 1978. Seine Abschlussarbeit wurde jedoch nie veröffentlicht. Er begann 1980 während der Pinochet-Diktatur an der Universidad de Chile zu lehren. Damals leitete Pinochet die Rentenreform in Chile ein, die chilenische Arbeiter*innen zwang, zehn Prozent ihres Lohns in einen privaten Rentenfonds einzuzahlen. Heute, 30 Jahre später, erhalten 90 Prozent aller Chilen*innen nicht einmal den vollen Mindestlohn, wenn sie in Rente gehen. Etwa 1000 chilenische Rentner*innen begingen in den vergangenen fünf Jahren Selbstmord. Die geplante Rentenreform wäre das erste große Projekt, das unter der Federführung von Guedes als Wirtschaftsminister durchgeführt wird. In Chile als auch in dem Rentenreformvorschlag, den Guedes dem brasilianischen Kongress vorgelegt hat, bleibt Mitgliedern des Militärs allerdings ein anderes System vorbehalten.
[15] www.revistaforum.com.br/todo-mundo-consegue-trabalhar-hoje-ate-80-anos-diz-rodrigo-maia/
[16] https://noticias.uol.com.br/confere/ultimas-noticias/eder-content/2018/09/13/bolsonaro-promessa-carteira-trabalho-verde-amarela-direitos-trabalhistas.htm
[17] www.bbc.com/portuguese/brasil-44933382
[18] https://brasil.elpais.com/brasil/2019/01/22/politica/1548165508_401944.html
[19] https://noticias.uol.com.br/cotidiano/ultimas-noticias/2019/03/12/suspeito-de-matar-marielle-mora-em-condominio-de-bolsonaro-no-rio.htm
[20] https://exame.abril.com.br/brasil/arabes-prometem-reacao-se-bolsonaro-mudar-embaixada-em-israel/
[21] https://g1.globo.com/economia/agronegocios/noticia/2019/02/08/governo-retira-tarifa-sobre-importacao-de-leite-europeu-e-produtores-reclamam-absurdo.ghtml
[22] www.valor.com.br/financas/6180249/mercado-comeca-esperar-atraso-na-previdencia-diz-economista