Polen ist nicht Ungarn. Dennoch prophezeite Jarosław Kaczyński im Herbst 2011, auch Warschau werde bald Budapest sein. Soeben hatte er als Spitzenkandidat der nationalkonservativen Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) ein weiteres Mal bei Parlamentswahlen das Rennen gegen die konservativ-liberale Konkurrenz von der PO (Bürgerplattform) deutlich verloren. Budapest sollte an diesem Wahlabend signalisieren, dass die Verhältnisse sich ändern werden, denn an der Donau regierte bereits seit mehreren Monaten die nationalkonservative Fidesz (Ungarischer Bürgerbund) mit absoluter Mehrheit. Kaczyński versprach dem erstaunten Publikum, bald allein regieren zu wollen. Seitdem ist viel Wasser die Weichsel hinuntergeflossen. Jarosław Kaczyński ist seinem ehrgeizigen Ziel nicht näher gekommen. Allerdings bleiben Kaczyński noch anderthalb Jahre Zeit, um bei den nächsten turnusmäßigen Sejm-Wahlen im Herbst 2015 zumindest die absolute Mehrheit der Parlamentssitze zu erzielen.

Denn anders als in Ungarn hat sich in Polen rechts von den starken Nationalkonservativen bisher keine Formation dauerhaft etablieren können. Am ehesten gelang das noch der erzkatholischen LPR (Liga Polnischer Familien), die bei den Sejm-Wahlen 2005 unter Roman Giertych mit acht Prozent recht erfolgreich war, 2007 aber am Parlamentseinzug scheiterte und seitdem nur noch ein randständiges Dasein fristet. Giertychs großes politisches Vorbild ist Roman Dmowski, der Begründer des modernen oder bürgerlichen Nationalismus in Polen. Dmowskis politisches Erbe ist in Polen seit jeher umstritten. Hervorgehoben werden oft Dmowskis Verdienste für den Nationalstaat, dessen erster moderner Ideologe er in Polen gewesen war. Bereits 1903 rief er in einer auch von Rosa Luxemburg im fernen Berlin registrierten Broschüre dazu auf, den polnischen Nationalismus zu modernisieren, ihn von den überlebten Traditionen der Adelsaufstände aus dem 19. Jahrhundert zu befreien und auf alle politische Romantik zu verzichten. Wenn Marek Edelman, aktiver Teilnehmer der beiden Warschauer Aufstände 1943 (Ghetto) und 1944, zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor einem leichtfertigen Umgang mit Dmowski warnte, dann galt das dem Antisemiten, der Roman Dmowski ohne allen Zweifel gewesen war. Denn bereits frühzeitig stieß er bei seinem Bestreben, in Polen modernen Nationalismus durchzusetzen, auf die jüdische Frage. Auch das wurde bei Rosa Luxemburg frühzeitig thematisiert. Giertychs Versuch scheiterte, nun versuchen es Nachfolger, die sich auch auf Dmowski berufen und sich entschieden radikaler verstehen. Ein Budapest an der Weichsel bräuchte eine Gruppierung, die in der Lage wäre, Parlamentsmandate zu erobern. Also so etwas wie Jobbik, die mit einem rassistischen und offen antidemokratischen Profil bei den Parlamentswahlen 2010 immerhin 12 Prozent der Wählerstimmen auf sich ziehen konnte. Tatsächlich hat sich vor nunmehr bald zwei Jahren in Polen eine »Nationale Bewegung« (Ruch Narodowy; RN) gegründet, die sich gleichermaßen als Partei und als Sammelbecken für nationalistische Strömungen versteht. In einer ideologischen Grundsatzerklärung werden die langfristigen Ziele benannt: Die Stärkung der nationalen Identität auf den Fundamenten des Christentums sowohl in Polen selbst als auch in den außerhalb der Grenzen liegenden Gebieten, in denen es polnische Minderheitengruppen gibt. Die traditionelle Familie sei, so die Autoren, das Fundament des Gemeinschaftslebens, die jungen Menschen müssten ein Anrecht haben auf patriotische Erziehung, das durch das gegenwärtige Schulsystem unterlaufen werde. Wichtiges Ziel sei die Souveränität des Staates, die aus den Händen derjenigen zurückgeholt werden müsse, die fremde Interessen vertreten und zu den korrumpierten Eliten oder Finanzoligarchen gehörten. Zugleich gehe es um kulturelle Souveränität, die RN wolle vor allem originäres polnisches politisches Denken fördern, was als zentralen Bezugspunkt Dmowski meint. Schließlich müsse wirtschaftliche Souveränität angestrebt oder verteidigt werden, etwa durch Verteidigung des polnischen Złoty statt der im Raum stehenden Übernahme der EU-Gemeinschaftswährung. Ausdrücklich spricht die Erklärung der Nationalen Bewegung die jungen Polen an, die als entscheidende Stütze für nationales politisches Gedankengut gewonnen werden sollen. Zugespitzt könnte gesagt werden, dass nach Auffassung der Führungsleute der RN es um einen Entscheidungskampf geht, den Polen gegen den »EU-verordneten Sozialismus« führt. Erklärtes politisches Ziel in diesem Jahr ist der Einzug ins Europäische Parlament. Die RN-Spitzen rechnen mit einer halben Million Stimmen, die in Polen drei Abgeordnetenmandate bringen könnten. Giertych hält diese Prognose für völlig übertrieben, er geht fest von einem Misserfolg der Bewegung aus, der dann auch dazu führen könnte, dass sich die Bewegung wieder in ihre einzelnen Bestandteile auflösen wird. Die RN hat ihr Europawahlprogramm frühzeitig festgezurrt, sie setzt dabei auf zwei wichtige Säulen: zum einen auf die grundsätzliche Konfrontation mit dem »System«, zum anderen auf eine »Revolution der Generationen«. Jetzt sei die jüngere Generation endlich an der Reihe, denn in den etablierten Parteien herrschten fast überall Leute, die bereits in den Wendejahren auf der politischen Bühne getanzt hätten. Fast automatisch gleitet hier der Blick zu Jobbik, die sich ja als Partei der Jugend geriert. Diese Trennlinie zum »System« und zu den »Alten« soll in Polen den gewünschten Erfolg garantieren, der dann in Brüssel in politische Wirkung umgesetzt werden soll. Um fünf Punkte geht es: Erstens müsse anstelle des föderativen Europas ein Europa der Vaterländer aufgebaut werden, in dem die vollen nationalen Souverä- nitätsrechte an die jeweiligen Mitgliedsländer zurückgehen. Zweitens müsse entschieden die »Linkskultur der EU« bekämpft werden, etwa durch die konsequente Zurückdrängung der Gender-Frage und durch die Verteidigung der »natürlichen Familie« und Ehe zwischen Mann und Frau. Das Abfackeln eines Regenbogenmonuments in der Warschauer Innenstadt am 11. November 2013 ist jüngster Ausdruck für diesen Spuk, der tatsächlich böse Blüten treibt. Drittens gehe es um den Schutz der polnischen Minderheiten im Ausland. Viertens müsse die EU-Klima- und Energiepolitik offen bekämpft werden, weil sie gegen das nationale Interesse Polens gerichtet sei und die Interessen ausländischer Kapitalgruppen befördere. Hier geht es vor allem um Polens Rolle als mit Abstand größter Steinkohleproduzent und als einer der führenden Braunkohleproduzenten in der EU. Und schließlich spielt auch zugerichtete Geschichtspolitik die entsprechende Rolle. Am stärksten tritt die RN bisher gegen die sogenannte Linkskultur in der EU auf, so als ob Polen von hier aus Sozialismus drohen würde. Im Kern geht es um ein erzkonservatives oder erzkatholisches Gesellschafts- und Familienverständnis, das durch »forcierte Gender-Propagierung« und durch einen »Homosexuellen-Kult« in der Öffentlichkeit untergraben werde. Die scharfe Polarisierung zielt vornehmlich auf junge Menschen und hat dort auch einen nicht zu unterschätzende Wirkung. Allerdings geht die gesellschaftsweite Tendenz seit dem EU-Beitritt in eine andere Richtung – immer größere Kreise der Bevölkerung in Polen sprechen sich bewusst gegen eine Diskriminierung oder Bekämpfung sexueller Minderheiten aus. Traut man den aktuellen Umfragen, drohen in Warschau vorerst keine Budapester Verhältnisse. Die Gründe liegen auf der Hand: Polens EU-Integration ist bisher gelungen, nichts deutet darauf hin, dass es auf absehbare Zeit anders werden könnte. Das bestehende demokratische System ist mittlerweile robust genug, dass auch weit nach rechts gehende nationalkonservative Positionen integriert werden können. Die PiS ist trotz der immerhin 30 Prozent, die sie in Wahlumfragen derzeit erreicht, weit davon entfernt, in die Lage versetzt zu werden, die Verfassung in ihrem Sinne zu verändern. Und schließlich haben zivilgesellschaftliche Initiativen in den zurückliegenden Jahren ihre Handlungsmöglichkeiten und ihren Einfluss in der Öffentlichkeit stärken und erweitern können. Signifikant dafür ist der öffentliche Umgang mit Gender und Homosexualität, dank des konsequenten und mutigen Wirkens vieler Initiativen konnte rechtspopulistisches Gedankengut wirkungsvoll eingedämmt werden. Wenn ein Regenbogensymbol abgefackelt wird, wie in Warschau im letzten Jahr, dann ist dies auch Ausdruck tiefer Ohnmacht aufseiten derjenigen, die gern andere Verhältnisse hätten.