Die aufbrechenden Kämpfe und Forderungen der verschiedenen Bewegungen gegen den Neoliberalismus verweisen auf neue Paradigmen, mit denen ein tiefgehender Wandel eingeleitet werden kann: auf Gesellschaften hin, die durch mehr Gerechtigkeit und Gleichheit charakterisiert sind und die aus ihrer Vielfalt und der Demokratie heraus Alternativen schaffen. In die verfassungsgebenden Prozesse in Venezuela, Bolivien und Ecuador fließen bereits neue Bedeutungen und Horizonte kritischen Denkens ein. Eine der Achsen der neuen Verfassung Ecuadors ist das Konzept des »Sumak Kawsay«, des »Guten Lebens«. Im »Desarrollismo« wurde »Entwicklung « nach genau dem Wachstumsmodell konzipiert, das nun global zu den multiplen Krisen geführt hat. Letztere verdeutlichen, dass die Länder des Südens unmöglich den »extraktivistischen« (einseitig auf Ausbeutung von natürlichen Ressourcen orientierten) und zerstörerischen Weg weiter verfolgen können. Zudem hat der Fortschritt unter dem Paradigma der »Modernisierung« in der Vergangenheit den Ländern des globalen Südens nur kärgliche (oft negative) Resultate gebracht. Die damit verbundenen ungleichen Macht- und Handelsverhältnisse zwischen Norden und Süden müssen aufgebrochen werden. Neue Produktions- und Konsumformen sowie neue Organisationsformen des Lebens müssen etabliert werden. Um diese Transformation in die Wege zu leiten, brauchen wir Kreativität und ein Denken über Grenzen hinweg. Eine der wichtigsten paradigmatischen Veränderungen in diesem Wandel liegt darin, das überkommene Konzept von »Entwicklung« in Frage zu stellen und uns auf der Suche nach neuen Konzepten dem Wissen der indigenen Völker, den sozialen Kämpfen und kritischen Theorien zu öffnen. Aus der Perspektive der Subalternen muss gefragt werden: Wer bestimmt, wie etwas »zu sein hat«, was Entwicklung und Fortschritt bedeuten? Wer profitiert vom Fortschritt? Was wird modernisiert? Unter dem hegemonialen Blick wird alles, was nicht ins Konzept des Fortschritts passt, abgewertet und unsichtbar. So wird »Unterentwicklung« konstruiert. Die Vorstellung von Rückschritt, dem Nicht-Gewollten, muss überwunden werden. Sie ignoriert den Reichtum der Vielfalt und der subalternen Sektoren, die aber eine konstitutive Achse unserer Gesellschaften sind. Die Sinn-Konstruktion von Entwicklung und Unterentwicklung bildet ein Wahrheitsregime, das die große Mehrheit unserer Bevölkerung unsichtbar macht. Eduardo Galeano sprach davon, dass die kapitalistischen und neo-kolonialen Gesellschaften andauernd »Niemande« hervorbringen:
Die Niemande: die Niemandskinder, die Habenichtse. Die Niemande: die Keinen, die zu Niemand gemachten, die Hasenfüße, die das Leben Sterbenden, die Verdammten, die zweimal Verdammten: Die nicht sind, auch wenn sie da sind. Die nicht Sprachen, sondern Dialekte sprechen. Die nicht Religionen, sondern Aberglauben anhängen. Die nicht Kunst, sondern Kunsthandwerk fertigen. Die nicht Kultur, sondern Folklore betreiben. Die nicht Menschen, sondern Menschenmaterial sind. Die nicht Gesichter, sondern Arme haben. Die nicht Namen, sondern Nummern tragen. Die nicht große Geschichte schreiben, sondern als Randnotizen der Verbrechensberichte erscheinen. Die Niemande, billiger als die Kugel, die sie tötet. (Galeano 1991, 59)
Die kapitalistischen Gesellschaften konstruieren zwei Formen der Hierarchie: Ungleichheit und Ausgrenzung. Das System der Ungleichheit nimmt eine Unterordnung »innerhalb« vor, z.B. die Hausangestellten, die Arbeiter in einem Betrieb. Aber im System der Ausgrenzung verschwindet, was unten ist, es existiert nicht (de Sousa Santos 2006, 54). Man verwehrt diesen Personen Teile ihrer Menschlichkeit (die eigene Sprache, das Ausüben einer Religion). Beides, Ungleichheit und Ausgrenzung, verstärken sich gegenseitig. Konzepte des Fortschritts, der Moderne und der Entwicklung operieren mit einer Vorstellung der linearen Zeit, in der die Geschichte nur eine Richtung kennt; die entwickelten Länder gehen voran, formen das Gesellschaftsmodell, dem gefolgt wird. Was nicht hinein passt, wird als wild, simpel, primitiv, zurückgeblieben und vormodern betrachtet. Dass die weniger entwickelten Länder in einigen Aspekten entwickelter sein könnten als die so genannten entwickelten Länder, ist undenkbar (ebd., 24). Maß der Entwicklung und der Modernisierung ist die industrielle Entwicklung. Externe Faktoren für die »Unterentwicklung« werden negiert, der Zusammenhang mit der kapitalistischen Entwicklung nicht ergründet. Die Stadt gilt als Ort der Moderne, während das Land, das Ländliche, als der Raum des Traditionellen, des Rückständigen betrachtet wird. Die traditionellen Kulturen werden als Hindernis für Entwicklung betrachtet. Es hat sich gezeigt, dass ökonomisches Wachstum nicht notwendigerweise Entwicklung mit sich bringt und dass »Unterentwicklung« und »Entwicklung« zwei Seiten einer Medaille sind.
Wo wird das Pro-Kopf-Einkommen ausgezahlt? Hungerkünstler aller Länder, erkundigt euch! In unseren Breiten sind die Zahlen besser dran als die Bezahlten. Wie viele florieren, wenn die Wirtschaft floriert? Wie viele entwickelt die Entwicklung? (Galeano 1991, 67)
Zwar haben die Dependenztheoretiker die multiplen Beziehungen zwischen Entwicklung und Unterentwicklung aus geopolitischer Perspektive beleuchtet, doch die Grenzen dieser Produktionsweise und der Ausbeutung der Natur wurden nicht reflektiert, auch nicht in den sozialistischen Gesellschaften. Das Hauptaugenmerk wurde auf die Nord-Süd-Beziehungen und die Verewigung der Abhängigkeiten gelegt. Fragen, wie Alternativen in den kapitalistischen Gesellschaften voran gebracht werden könnten, gerieten aus dem Blick – die »eigenständige« Entwicklung nach denselben Maßstäben der Moderne führten oft in die Unbeweglichkeit. In den 1980er Jahren wurde mit der Wiederherstellung der liberalen Ordnungen und dem Boom des Neoliberalismus »Entwicklung« an ökonomisches Wachstum, lineare Geschichte und Fortschritt gebunden. Die Idee der Umverteilung wurde durch den Begriff des Trickle-Down-Effektes ersetzt. In den 1990er Jahren traten angesichts der zerstörerischen Auswirkungen des neoliberalen Modells normativ-wertegeleitete Entwürfe von Entwicklung in die Debatte. Sie sind nicht so sehr theoretisch geleitet. Im Mittelpunkt steht, Entwicklung nach »menschlichem« und »nachhaltigem« Maßstab zu denken. Entwicklung müsse den Mensch ins Zentrum stellen, nicht Märkte oder Produktion. Nicht das Bruttoinlandsprodukt sei zu messen, sondern die Lebensqualität. Statt nur auf ökonomisches Wachstum zu schauen, bezeichnet »menschliche Entwicklung« die Erweiterung von Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung ganz unterschiedlicher Natur wie Subsistenz, Emotionen, Verständnis, Partizipation, Freiheit, Identität, Kreativität etc. Lebensqualität ist gegeben, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, ein langes und gesundes Leben zu führen, Kenntnisse zu erwerben und Zugang zu den notwendigen Ressourcen zu haben, um einen angemessenen Lebensstandard zu erreichen (PNUD 1997, 20). In diesem Sinne ist der Fokus mehr darauf ausgelegt, was die Menschen »tun und sind«, und weniger auf was sie »haben«. Diese Perspektive geht von den Möglichkeiten der Menschen aus, von ihrer Art zu denken, ihren Bedürfnissen, ihren kulturellen Werten, ihrer Organisation. Dennoch dürfen die Befriedigung und Erweiterung der Bedürfnisse nicht die Zukunft belasten – daher ist die Rede von »nachhaltiger« Entwicklung, die ein sozial gerechtes ökonomisches Wachstum gewährleistet und nicht die Ressourcen der zukünftigen Generationen verbraucht. Produktionsformen und Konsummuster müssen auf die Bewahrung und Wiederherstellung der Umwelt ausgerichtet sein und die Harmonie zwischen den Menschen und der Natur suchen. Nachhaltige Entwicklung ist nicht realisierbar, ohne den Respekt vor historischer und kultureller Diversität. Sie setzt die Gleichheit von Rechten und Chancen von Frauen und Männern, von Bevölkerungsgruppen und Ländern, von Kindern und Erwachsenen voraus. Sie impliziert die uneingeschränkte zivilgesellschaftliche Teilhabe an demokratischen Praxen. Doch keine dieser Konzeptionen stellt den Kapitalismus in Frage, sie zielen auf »menschliche« Entwicklung innerhalb kapitalistischer Gesellschaften. Viele Theoretiker gehen heute davon aus, dass Kapitalismus und Nachhaltigkeit sich ausschließen. Nachhaltigkeit bedeutet dann, die Grundlagen des kapitalistischen Akkumulationsmodells zu transformieren. Doch mit Ausnahme der Dependenztheorien wird die Rolle gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Konflikte in der Transformation und bei der Formierung gegenhegemonialer Diskurse in diesen Ansätzen entnannt. Diese sind von zentraler Bedeutung für emanzipative Strategien zur Konstruktion einer neuen Gesellschaft.

Sumak Kawsay: Hin zu einem »Leben in Fülle«

»Sumak Kawsay«, das »Leben in Fülle« der andinen Kulturen ist ein Beitrag zu dieser Debatte mit ganz anderen erkenntnistheoretischen Konzepten und einer Kosmovision. Die Idee von »Entwicklung« existiert nicht wirklich in der Vorstellung dieser Kulturen, denn die Zukunft liegt hinter uns. Sie ist es, die wir nicht sehen können und nicht kennen; während wir die Vergangenheit vor uns liegen haben: wir sehen sie, wir kennen sie, sie formte uns, mit ihr gehen wir voran. Auf diesem Wege begleiten uns unsere Ahnen. Sie leben mit uns, sind Teil von uns. Himmel und Erde, äußere und innere Welt sind Teil eines Ganzen, innerhalb einer spiralförmigen (nicht linearen) Perspektive der Zeit. Beim Versuch, die andinen Konzepte zu erklären, musste ich auf das »Wir« zurückgreifen, weil die Welt nicht aus der Perspektive des »Ichs« des Abendlandes verstanden werden kann. Die Gemeinschaft sorgt, schützt, fordert und ist Teil von uns. Folglich ist das andine Denken ein kollektives. Die Gemeinschaft ist Stütze und Basis der Reproduktion dieses kollektiven Subjekts, das wir alle sind und das jeder einzelne ist. Das menschliche Wesen ist Teil eines Ganzen, das nicht nur in seinen Teilen verstanden werden kann. Die Gesamtheit drückt sich in jedem Wesen und jedes Wesen in der Gesamtheit aus. Die Natur ist Teil dieser Gemeinschaft. Sie zu schädigen, bedeutet daher uns selbst zu schaden. Jede Handlung, jedes Verhalten hat kosmische Konsequenzen, die Hügel ärgern sich oder sind fröhlich, sie lachen oder sie sind traurig, sie fühlen und denken. Das »Sumak Kawsay« oder »Erfülltes Leben« drückt diese Kosmovision aus. Das erfüllte Leben zu erlangen, ist Aufgabe des Wissenden. Es besteht darin, zu umfassender Harmonie mit der Gemeinschaft und mit dem Kosmos zu gelangen. Boaventura de Sousa Santos schlägt eine »kulturelle Übersetzung« vor, um die Debatte über die Schaffung einer neuen Gesellschaft zu bereichern: Wir sprechen nicht mehr von ökonomischem Wachstum und vom Bruttoinlandsprodukt, wir reden von breit gefächerten Beziehungen zwischen den Menschen, der Natur, dem gemeinschaftlichen Wesen, den Vorfahren, der Vergangenheit und der Zukunft. Das Ziel, das uns zusammenführt, ist nicht mehr die von der linearen Perspektive der Geschichte ausgehende »Entwicklung«, sondern die Konstruktion der Gesellschaft des »Buen Vivir«. Die Konzeption des Buen Vivir hat Berührungspunkte mit anderen Konzepten aus der Geschichte des abendländischen Denkens. Aristoteles spricht in seinen Reflexionen über Ethik und Politik von »Gut Leben«. Für ihn ist der Sinn des Menschseins das Glück. Dabei ist nur das Glück aller das Glück jedes Einzelnen, es realisiert sich in der politischen Gemeinschaft, der Polis. Isoliert können wir das Glück nicht erreichen, nur in der Gesellschaft können wir die Tugend, gut zu leben oder glücklich zu sein, besitzen. Allerdings erkennt die aristotelische Konzeption vom »Gut Leben« weder die Beziehungen des Menschen mit der Natur noch die spirituellen Dimensionen der Beziehungen mit den Vorfahren und der Natur, die in der Vision der andinen Kichwa-Völker so wichtig sind.

»Buen Vivir« in der Verfassung von Ecuador

Der verfassungsgebende Prozess in Ecuador bot Raum für einen Paradigmenwechsel, der mit dem Buen Vivir verbunden ist. Die ecuadorianische Verfassung legt nun fest, dass das organisierte, nachhaltige und dynamische Gemeinwesen der ökonomischen, politischen, soziokulturellen und Umweltsysteme, die das »Entwicklungsregime« bestimmen, das Buen Vivir garantieren muss. Sie definiert Rechte als Voraussetzungen für das Buen Vivir und formuliert Verantwortlichkeiten für Interkulturalität und harmonisches Zusammenleben mit der Natur (Art. 275). Der Begriff Buen Vivir erlaubt so eine Verknüpfung zwischen dem »dogmatischen« und »organischen« Teil der Magna Charta – die in der vorherigen Verfassung nicht erreicht wurde –, da Rechte einen substanziellen Ausdruck der staatlichen Struktur darstellen. Die Verfassung überwindet die reduktionistische Vorstellung von »Entwicklung« als ökonomisches Wachstum und begründet eine neue Vision:, der Mensch steht im Zentrum der Entwicklung und Sumak Kawsay oder Buen Vivir ist das Ziel. Gegenüber der falschen Dichotomie von Staat und Markt, die vom neoliberalen Denken erzeugt wird, formuliert die Verfassung eine neue Beziehung zwischen Staat, Markt, Gesellschaft und Natur. Der Markt ist nicht mehr der treibende Motor der Entwicklung. Zum ersten Mal in der Geschichte erkennt eine Verfassung die Rechte der Natur an. Nach dem neoliberalen Abbau des Staates ist eine Wiederherstellung des Öffentlichen im weitesten Sinne wesentlich. Der Staat muss für die Zivilgesellschaft zurückgewonnen werden. In diesem Sinne stärkt die Verfassung den Staat, der seine Rolle in Bezug auf die Planung, Regulierung und Umverteilung wiederherstellen soll. Dennoch handelt es sich nicht um eine etatistische Vision, in der die Rolle des Marktes unkritisch durch den Staat ersetzt wird. Im Gegenteil: Rechte und Anerkennung der Partizipation werden als fundamentale Elemente der neuen Gesellschaft gestärkt und erweitert. Die Bildung einer wirklichen, sozialen und zivilgesellschaftlichen Macht wird vorangetrieben. Partizipation ist eine Querschnittsachse in der Verfassung. Niemals zuvor gab es in Ecuador oder Lateinamerika eine Verfassung, die ein solch großes Gewicht auf Mitbestimmung gelegt hat. Die verschiedenen Formen der Demokratie werden anerkannt, erstmals auch die kommunitäre Demokratie einbezogen. Das Verständnis von Diversität beschränkt sich nicht auf kulturelle Aspekte, sondern drückt sich auch im ökonomischen System aus. Die soziale Ökonomie stellt den Menschen ins Zentrum; Ökonomie muss dem Leben dienen, nicht das Leben der Ökonomie. Die perverse Logik des Kapitalismus, die Akkumulation des Kapitals als Motor des Lebens betrachtet, muss umgekehrt werden. Die soziale Ökonomie entwirft eine plurale Ökonomie, bei der die Logiken von Kapitalakkumulation und Macht der Logik der erweiterten Reproduktion des Lebens untergeordnet sind. Hierfür ist Arbeit der zentrale Begriff. Es geht darum, die ökonomischen Initiativen der Bevölkerung aus der Perspektive der Arbeit heraus zu unterstützen und nicht aus der Perspektive der Beschäftigung. Ziel ist, dass der Reichtum in den Händen der Arbeiter verbleibt. (Coraggio 2007, 68; Coraggio 2004). Die soziale Ökonomie ist »ein politischer Vorschlag, der sich auf eine kritische Theorie beruft, andere Werte bejaht und andere Rationalitäten entwirft, um Transformation von der lateinamerikanischen Peripherie her zu denken« (Coraggio 2007, 41). Sie verpflichtet sich auf einen gesellschaftlichen Transformationsprozess (ebd., 19f). »Soziale Ökonomie impliziert, die Strukturen der Reproduktion des Kapitals aufzulösen und einen organischen Sektor zu bilden, der die Bedürfnisse aller mit anderen Werten befriedigt, indem im Kampf um die Hegemonie und gegen die kapitalistische Zivilisation neue Praxen institutionalisiert werden, die andere Konzepte von sozialer Gerechtigkeit befördern.« (Ebd., 39) Der grundlegende soziale und politische Charakter der ökonomischen Prozesse wird aufgegriffen. Das schließt viele Formen ein, die traditionell nicht als ökonomisch angesehen werden. Das Subjekt wird zum zentralen Angelpunkt der sozialen Ökonomie. Sie sichert nicht nur seinen unmittelbaren Unterhalt, sondern seine Unabhängigkeit vom Kapital und von einer politischen Klasse, die sich vom Volk entfernt hat (ebd., 40, 42, 51). Das ökonomische System als sozial und solidarisch zu fassen, ist keine bloße Absichtserklärung, sondern drückt sich darin aus, dass Diversität einbezogen wird in die Zusammensetzung des Finanzsystems, die Organisation der Produktion, die Eigentumsformen, die Arbeitsformen, die Demokratisierung der Produktionsmittel und in die Vorstellung von Ernährungssouveränität als strategischem Ziel des Staates. Das Konzept der Ökonomie wird in der Verfassung vor allem durch die folgenden Bestimmungen gefestigt: Verbot der Arbeitsvermittler, jener »Kaufmänner« einer »Unterverpachtung « der Arbeitskraft (Marx, MEW 23, 577), die sich zwischen Kapitalist und Lohnarbeiter schieben; Einführung gerechter und würdiger Löhne; Schutz der Solo-Selbständigen und informellen ArbeiterInnen; Anerkennung der Subsistenz-, Eigen-, Reproduktions- und Fürsorgearbeit als produktive Arbeit; Anreize für einen gerechten Handel; Priorität von Produkten und Dienstleistungen der sozialen und solidarischen Ökonomie bei der öffentlichen Beschaffung; umverteilende Steuerpolitik; Bestimmung von Finanzaktivitäten als Dienstleistung in öffentlicher Verantwortung; Verbot der Beteiligung von Finanzinstituten an Unternehmen anderer Branchen, Verbot des Erwerbs von Anteilen an Kommunikationsmedien durch Finanzinstitute; Vergesellschaftung der strategischen Sektoren; Bevorzugung der sozialen Investitionen gegenüber dem externen Schuldendienst und zivilgesellschaftliche und öffentliche Entscheidung über den Umgang mit der externen Verschuldung. Die soziale Dimension des Buen Vivir strebt eine Universalisierung qualitativ hochwertiger sozialer Dienstleistungen an, um die Rechte effektiv zu machen und zu garantieren. In diesem Sinne werden Bildung, Gesundheit oder Sicherheit nicht länger als Waren betrachtet. Die Verfassung garantiert die kostenlose Bildung bis zur Hochschulreife und bekräftigt ihren weltlichen Charakter, auch eine kostenlose Gesundheitsversorgung wird garantiert. Unabhängig von Arbeitsfähigkeit und Status kommt soziale Sicherheit allen zu, die Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme wird verboten. Zum ersten Mal wird in Verfassung ein Absatz über die Körperkultur und Freizeit als Elemente des Buen Vivir eingefügt. Indem die Rechte der Natur anerkannt werden, geht die Verfassung von einem Verständnis von Natur als Ressource über zu ihrem Verständnis als Raum, »in dem sich das Leben reproduziert und realisiert«. Sie hat »das Recht, dass ihre Existenz, ihr Erhalt und die Regenerierung ihrer vitalen Lebenszyklen, Strukturen, Funktionen und evolutionären Prozesse respektiert werden«, ebenso wie das Recht auf ihre Wiederherstellung (Art. 71 u. 72). Es gilt das Prinzip der Vorsorge: Umweltschutzmaßnahmen sind auch dann zwingend, wenn die Folgen bestimmter Maßnahmen für die Umwelt noch nicht abschätzbar sind (Art. 73). Die Gemeinden müssen im Vorfeld jeder Entscheidung, die die Umwelt betreffen könnte, angehört werden. Außerdem wird das Recht der Indigenen anerkannt, ihr kollektives Wissen, ihre Wissenschaften, Technologien und Weisheiten zu bewahren, zu schützen und zu entwickeln und jedwede Form von deren privater Aneignung wird verboten (Art. 57). Abbaumaßnahmen in geschützten Gebieten werden untersagt (Art. 407). Die Produktion von hochwertigen Gütern muss die biophysikalischen Grenzen de r Natur und den Respekt vor dem Leben und den Kulturen berücksichtigen (Art. 284, 4).

Buen Vivir in der Vielfalt: Plurinationalität und Interkulturalität

Die Konzeption des Buen Vivir hat also eine starke kollektive Dimension, die die harmonische Beziehung zwischen den Menschen und der Natur einschließt. Freilich müssen in durch Kolonialgeschichte geprägten und kapitalistisch dominierten Gesellschaften die Voraussetzungen und Fähigkeiten zu einem Zusammenleben in einer solchen Gemeinschaft erst geschaffen werden. Daher ist es notwendig, die Vielfalt als substanziellen Teil der Gesellschaft anzuerkennen. Sie befördert das Buen Vivir durch interkulturelles Lernen, durch die Möglichkeiten, uns mit Wissen, Erkenntnissen, Kosmovisionen und verschiedenen kulturellen Praktiken wechselseitig zu unterstützen und zu bereichern. In Gesellschaften, die durch Ungleichheit geprägt sind, kann Interkulturalität nicht gedacht werden, ohne Dominanz in Rechnung zu stellen. Ein interkultureller Dialog kann nur zwischen Gleichen stattfinden. Solange bestimmte Kulturen anderen untergeordnet sind, ist das nicht möglich. Die ökonomische Ungleichheit ist von tiefgreifenden Prozessen der sozialen Ausgrenzung, der Diskriminierung und der Unkenntnis der anderen Kulturen begleitet. Es ist unvermeidlich, Strategien der Anerkennung der Unterschiede und der Vielfalt zu entwerfen, die auf lange Sicht zu Veränderungen in den Strukturen der Macht führen. Die Politiken für mehr Gerechtigkeit und Gleichheit sind aufs Engste verknüpft mit den Politiken der Anerkennung von Differenz und der Beendigung jeder Form von Diskriminierung, Ausgrenzung oder Unterordnung aufgrund von sexuellen, geschlechtsspezifischen oder ethnischen Zuschreibungen, aufgrund von Alter, Behinderung oder des Glaubens. Die Politiken zur Förderung von Gleichheit durch Umverteilung können nicht von jenen der Anerkennung kultureller Unterschiede und Eigenheiten getrennt werden. Gleichheit und Unterschiedlichkeit sind keine gegensätzlichen Begriffe, vielmehr bilden sie zwei Dimensionen sozialer Gerechtigkeit. Das ist der Sinn von »Einheit in der Vielfalt«. Die strategische Orientierung auf eine demokratische und pluralistische Gesellschaft beinhaltet drei Transformationen, die sich gegenseitig bedingen: die sozio-ökonomische, um die Gleichheit zu sichern; die politische, die einen Wandel der Machtstrukturen erlaubt, so dass Differenz kein Element von Dominanz und Unterdrückung mehr ist; und die sozio-kulturelle, die die Anerkennung der Differenz auf den Weg bringt und Möglichkeiten für ein wechselseitiges Lernen der Kulturen eröffnet (Díaz Polanco 2005, 61ff). Die Plurinationalität fördert ökonomische Gerechtigkeit und Gleichheit. Der Kampf für Gleichheit ist auch ein Kampf um die Anerkennung der Unterschiedlichkeit. Gleichheit ist kein Synonym für Homogenität, Unterschiedlichkeit kein Synonym für Ungleichheit. Der plurinationale Staat setzt die Bildung eines radikaldemokratischen Staates voraus: Staat und Gesellschaft müssen zurückgewonnen und gestärkt werden, um die Souveränität aller zu garantieren. Die Plurinationalität setzt innerhalb des einheitlichen Staates die Anerkennung der Autoritäten der indigenen Nationen voraus, die nach ihren Sitten und Gebräuchen gewählt wurden. So werden die unterschiedlichen Formen der im Land bestehenden Demokratien anerkannt: die gemeinschaftliche, die deliberative und die partizipative Demokratie nähren und vervollständigen die repräsentative Demokratie und fördern eine Praxis interkultureller Demokratie. Einen radikaldemokratischen Staat kann es nur als polizentrischen geben. Daher geht die Plurinationalität Hand in Hand mit der Dezentralisierung, nicht mit der Schwächung des Staates. Wir können einen starken und dezentralen Staat haben, mit einer starken Gesellschaft. Plurinationalität impliziert einen Bruch mit der liberalen Vorstellung der Einheit von Staat und Nation. Ein Staat, der nicht aufhört Einheitsstaat zu sein, wenn er durch multiple Nationen konstituiert wird, ist ohne jeden Zweifel ein demokratischer Fortschritt, aber auch ein theoretisch-politischer Fortschritt. Die Existenz multipler Nationen bringt die Anerkennung multipler Identitäten mit sich. Schließlich bringt Plurinationalität die Bildung einer post-kolonialen Gesellschaft mit sich. Der Kolonialismus endete nicht mit der Unabhängigkeit. Unsere Republiken sind nicht aus dem Kampf gegen die Monarchie entstanden, sondern nur aus dem Kampf um die Unabhängigkeit von der spanischen Krone. Diversität wurde als Hindernis für »Fortschritt« angesehen; entsprechend beförderten die Eliten einen Prozess der Homogenisierung. Den subalternen Sektoren wurde das politische Potenzial abgesprochen, Alternativen für das Land zu denken und zu entwerfen. Von der Geburt der ecuadorianischen Republik war die Mehrheit der Bevölkerung ausgeschlossen (Ramón 2003, 23f). Die Überwindung des langen internen Kolonialismus bedarf spezieller Ausgleichsmaßnahmen historischer Ungerechtigkeiten (affirmative action) für die ausgegrenzten Gruppen. Welche Tragweite verleiht die Verfassung von Ecuador der Plurinationalität? 1 | Die Anerkennung der indigenen, afroecuadorianischen Gebiete und der Territorien der Küstenvölker, denen lokale Regierungskompetenzen entsprechend ihrer Bedeutung und Größe zugesprochen werden. 2 | Das »Sumak Kawsay« oder Buen Vivir wird als Ziel des Entwicklungsprozesses festgelegt. 3 | Erweiterung der kollektiven Rechte. 4 | Anerkennung der indigenen Gerichtsbarkeit im Rahmen der Einhaltung der Menschenrechte. 5 | Anerkennung der indigenen Nationen als Rechtssubjekte. 6 | Stärkung der interkulturellen zweisprachigen Erziehung unter Aufsicht des Staates und Stärkung der Interkulturalität im »spanischen« Bildungssystem durch Unterricht in den indigenen Sprachen. 7 | Die Anerkennung der ecuadorianischen Staatsbürgerschaft durch Geburtsrecht für diejenigen, die Mitglieder einer im Land anerkannten indigenen Nation sind und in den Grenzgebieten geboren wurden. 8 | Die Anerkennung des Spanischen, des Kichwa und des Shuar als offizielle Sprachen und Anerkennung der weiteren Sprachen als offizielle für jene Gebiete, in denen die entsprechenden Nationen leben.

Die Rechte als Säulen des Buen Vivir

Gegenüber dem traditionellen Begriff des sozialen Rechtsstaates fügt die ecuadorianische Verfassung ein entscheidendes Element hinzu: Die Einführung von verfassungsmäßigen Garantien, die eine direkte und unmittelbare Anwendung der Rechte ohne nachgeordnete Gesetzgebung erlauben. Die Verfassung erweitert darüber hinaus die Garantien, ohne sie auf das juristische zu beschränken (Ávila 2008, 3f). Ein Schlüsselelement des Buen Vivir ist die Betrachtung des Lebens als ein unteilbares Ganzes (Integralität). Die Vorstellung materialisiert sich in der neuen Verfassung, indem keine Hierarchien zwischen den Rechten festgelegt werden. Die Typologisierung in grundlegende Rechte (erste Ordnung), wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (zweite Ordnung) und kollektive Rechte (dritte Ordnung) wird überwunden. Die Hierarchisierung der Rechte im liberalen Denken zielt auf eine individualistische Schieflage und löst die soziale Achse auf. Als einzig wahre Rechte bleiben die zivilen und politischen, während die anderen nur kaum realisierbare Wünschbarkeiten sind. Dahinter steckt die alte Trennung des Liberalismus zwischen Freiheit (im Wesentlichen als negative Freiheit) und Gleichheit. Die Freiheit hat Vorrang vor der Gleichheit. Insofern »existieren substanzielle Rechte (die unveräußerlich sind) und Eigenschaften (über die hinweggegangen werden kann, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem die ersten vollständig realisiert sind)« (Díaz Polanco 2005, 58). Diese Hierarchisierung hinderte die Mehrheit der Menschen an einem »erfüllten Leben« – im Gegensatz zum Begriff einer Gerechtigkeit, die den Kern der Deklaration der Menschenrechte 1948 ausmacht (ebd., 57ff). Die Verfassung bricht mit diesem Konzept, betont den integralen Charakter der Rechte, indem sie die Rechte als voneinander abhängig und als gleichrangig anerkennt (Art. 11, 6), sie in Rechte des Buen Vivir, Rechte der zu bevorzugenden Personen und Gruppen, Rechte der Gemeinschaften und Nationen, Freiheitsrechte; Rechte der Natur und Schutzrechte organisiert. Rechtssubjekte sind nicht nur Personen, sondern auch Gemeinschaften, indigene Nationen, Kollektive und die Natur. Die Verfassung stärkt die verletzlichen Gruppen, indem sie sie entstigmatisiert und so einen Horizont für die Gleichheit in der Vielfalt schafft. Erstmals werden spezifische Rechte für Jugendliche, für Migranten, Verdrängte und Flüchtlinge, für Inhaftierte und für HIV-infizierte Personen anerkannt. Verfügung über Wasser, Ernährung und Lebensraum wird als Menschenrecht anerkannt. Ohne Zweifel bedeutet die Anerkennung der neuen Verfassung durch 62 Prozent der ecuadorianischen Bevölkerung einen Meilenstein für den eingeleiteten Prozess des Wandels. Sie eröffnet enorme Möglichkeiten und Wege für die Schaffung einer gerechteren und demokratischeren Gesellschaft, die sich aus der Vielfalt speist. Sie lässt die Sehnsucht der Ecuadorianer und Ecuadorianerinnen, das Sumak Kawsay zu erreichen, Realität werden. Die Aufgabe ist: Wie wird das Buen Vivir zu einer realen Praxis? Aus dem Spanischen von Stefan Thimmel, Mario Candeias und Christina Kaindl   Literatur Ávila, Ramiro, 2008: Las garantías: herramientas imprescindibles para el cumpliemento de los derechos, Quito Coraggio, José Luis, 2004: La gente o el capital, Quito, Ders., 2007: Economía social, acción pública y política (Hay vida después del neoliberalismo), Buenos Aires Díaz Polanco, Héctor, 2005: Los dilemas del pluralismo, in: Pablo Dávalos (Hg.), Pueblos indígenas, estado y democracia, Buenos Aires Galeano, Eduardo, 1991: Das Buch der Umarmungen, Wuppertal PNUD, 1997: Informe sobre desarrollo humano, Madrid Ramón, Galo, 2003: Estado, región y localidades en el Ecuador (1808–2000), in: Sara Báez, Pablo Ospina und Galo Ramón, Una breve historia del espacio ecuatoriano,Quito de Sousa Santos, Boaventura, 2006: Renovar la teoría crítica y reinventar la emancipación social, Buenos Aires Ders., 2007: La reinvención del Estado y el Estado plurinacional, in: OSAL, Nr. 22, September/Dezember, Buenos Aires