Bist du Sozialist?

Ja. Das war ein Prozess, der 1967, 1968 begonnen hat. Die damaligen Debatten um Sozialismus und Kommunismus erlaubten mir, Erfahrungen meiner Lebenslage als Kind und Jugendlicher theoretisch zu begreifen. Mir wurde klar, dass die Art und Weise zu leben kein Schicksal ist, sondern von einer Logik bestimmt wird. Insofern war die Marx'sche Theorie für mich nicht abstrakt, sondern sprach von meinem Leben: dieser scheinbar ewige Kreislauf, zu arbeiten, um zu essen und zu schlafen, um erneut zu arbeiten, sechs Tage die Woche, ohne Sicherheit, ohne Perspektive. Das ganze Leben der Arbeiter*innen, meines Vaters, meiner Mutter, war diesem Zwang zur Arbeit unterworfen.

Kommunismus – zumindest in der europäischen Tradition – bedeutete demgegenüber Selbstbestimmung: Wie will ich leben, wie will ich arbeiten, wie will ich mit Menschen zusammen sein? Marx zu lesen half mir, meine Erfahrungen genauer zu verstehen. Er brachte eine lange Diskussion auf den Punkt: den Verein freier Menschen. Seine Theorie besagte, dass alle Verhältnisse zu prüfen und zu verändern wären, unter denen Menschen leiden. Das gilt für den Bereich der Arbeit genauso wie für Familie, Staat, Wissenschaft oder Philosophie.

Jahrzehntelang galt der Sozialismus als diskreditiert. Dann macht Bernie Sanders eine linkssozialdemokratische Politik, nennt sie Sozialismus und bringt die Hoffnung von vielen auf den Punkt. Wie kommt das?

Solche Konjunkturen gab es immer wieder. Wenn die bürgerliche Gesellschaft anfängt, sich über sich selbst zu verständigen und ihre Existenzbedingungen nicht mehr selbstverständlich sind, kommen plötzlich radikale Begriffe ins Spiel. Sozialismus oder Kommunismus sind Konzepte, die auf tiefgreifende Veränderungen der Verhältnisse verweisen, auf eine Zukunft, und nicht auf eine griechische oder römische Antike, wie es etwa im Kapitol in Washington zum Ausdruck kommt.

Gleichzeitig sind Sozialismus und Kommunismus für uns historisch ziemlich heikel geworden. Die Kritische Theorie hat diese Begriffe nicht mehr verwandt, weil so viele Gewaltverbrechen damit verbunden sind. Horkheimer und Adorno haben dann von „dem Anderen“ oder der herzustellenden versöhnten Menschheit gesprochen oder auf den Begriff der Utopie zurückgegriffen, um etwas anzusprechen, das völlig neue Verhältnisse meint. Das sollte Missverständnisse vermeiden, denn Menschen reagieren reflexartig ablehnend auf diese Begriffe. Damit verwerfen sie aber die Aufklärung selbst und werden ressentimenthaft-autoritär. Im Sinne dieser Aufklärung müssen wir deshalb auch die fatalen historischen Prozesse zum Thema machen, die damit verbunden sind: der Stalinismus als System, die Verbrechen und Fehlschläge im Staatssozialismus, die Herrschaftspraktiken der Kommunistischen Partei in China oder in anderen sozialistischen Projekten.

Wenn der Kommunismus die fortgeschrittene Gestalt der Aufklärung ist, so hat ein Umschlag stattgefunden: Wir können heute nicht mehr unschuldig von der Räterepublik sprechen. Die Sowjetunion nahm die Gestalt einer Parteidiktatur an, die abweichende Positionen verfolgte oder ihre Vertreter*innen in die Lager sperrte. Die Armee der russischen Rätebewegung marschierte Jahrzehnte nach der Oktoberrevolution in Budapest ein, zerschlug die lokalen Räte und zerstörte das sozialistische Projekt in Prag. Da wurde nicht in einer freien Assoziation ausgehandelt, was weltgeschichtlich die besten Perspektiven für den Sozialismus sein könnten. Angesichts dieser Gewalterfahrungen im Namen des Sozialismus haben sich viele auf das Niveau der bürgerlichen Aufklärung zurückgezogen. Wenn wir uns dieser emanzipatorischen Zukunftsperspektive versichern wollen, wenn wir dieses Erbe annehmen – und wir müssen es, Derrida zufolge, sogar annehmen, weil es die historische Linie der Freiheit ist –, dann müssen wir begreifen, wie auch die besten Freiheitstraditionen in gewalttätige und zerstörerische Praktiken umschlagen können.

Wofür würde Sozialismus im Sinne dieser Freiheitstradition dann stehen?

Ein vorläufiges Moment ist sicherlich der Sozialstaat, durch den Teilhaberechte geschaffen werden. Aber sozialstaatliche Politiken erweisen sich auch als bürokratisch und autoritär, vielen konkreten Lebensverhältnissen wird durch Regulierungen Gewalt angetan. Die Ursachen für Armut, Arbeitslosigkeit, mangelnde Bildung und Teilhabe an Kultur werden durch den Sozialstaat nicht beseitigt. Er ist von Steuereinnahmen und einer Ökonomie abhängig, die auf der Akkumulationslogik, auf Wachstum und Naturzerstörung, Konkurrenz und Lohnarbeit beruht. Dadurch kommt es immer wieder zu Rückschlägen.

Sozialismus zielt demgegenüber auf die Überwindung all dieser Logiken durch völlig neue soziale Formen: die Vergesellschaftung des Bodens und der Produktionsmittel, wirkliche Demokratisierung und kollektive Verfügung über die Mittel der Produktion und Reproduktion. Es geht um eine Überwindung der Lohnarbeit und der Herrschaftsorganisation Staat. Letztlich wird die bürgerliche Gesellschaft durch neue, assoziierte Lebensverhältnisse der Individuen ersetzt. Das schließt vieles ein: die Natur- und Technikverhältnisse, die sprachlichen und kulturellen, die erotischen und familiären Verhältnisse, die Ausgestaltung des Zusammenlebens und des gemeinsamen Entscheidens und Koordinierens.

Wie habt ihr das in Frankfurt in den 1970er und 1980er Jahren konkret diskutiert?

Uns ging es nicht nur darum, bessere sozialstaatliche Verhältnisse zu schaffen oder die gewerkschaftliche und parteiförmige Willensbildung zu stärken. Uns ging es beispielsweise auch darum, die Funktionsweise der Gewerkschaften selbst als eine Form von Herrschaft zu begreifen, oder wie Althusser sagt, als ideologische Staatsapparate. Daraus ergibt sich, dass man autonome Praktiken der Arbeiter*innen zur Überwindung der Klasse zum Thema macht und von dort aus die Frage stellt: Dienen die Gewerkschaften dazu oder nicht? Tragen sie dazu bei, die Arbeiter*innen in ihrer subalternen Position als lohnabhängige Arbeitsrechtssubjekte festzuhalten? Oder: Wie könnte eine emanzipatorische Entwicklung der Interessenorganisation aussehen? Wie müsste eine Organisationsform beschaffen sein, die Arbeitende dazu befähigt und ermutigt, die Betriebe tatsächlich in Besitz zu nehmen und die gesamtwirtschaftlichen Prozesse aus dem Blickwinkel der gesellschaftlichen Arbeit zu organisieren – statt dem des Profits?

Lassen sich positive Elemente des Sozialismus bestimmen?

Naja, für mich waren zwei Sätze wichtig. Einer ist von Marx aus den „Grundrissen“. Dort argumentiert er, der Sozialismus ziele nicht auf die Verwirklichung von Gleichheit und Freiheit. Das ist bedeutsam, denn damit überschreitet er den Horizont der bürgerlichen Revolution. Der zweite Satz ist von Walter Benjamin, der sagt, der Sozialismus verwirkliche nicht die Kulturmenschheit, er ist also nicht die Verwirklichung der deutschen Klassik. Beide Bestimmungen sind negativ, aber sie weisen uns darauf hin, dass historisch überlieferte positive Vorstellungen von Sozialismus in die falsche Richtung gingen.

Vielleicht bringt es aber eine Formel ganz gut auf den Punkt, die wir in den 1970er Jahren hatten: Sozialismus bedeutet anders arbeiten, anders leben. Er öffnet die Möglichkeit, dass die Menschen die Art und Weise des Arbeitens und des Lebenszusammenhangs selbst bestimmen. Das schließt andere Wohnformen, andere Verkehrs-, Denk-, Bildungs- und Erziehungspraktiken und andere Beziehungsformen ein. Damals hat uns die Frage der Subjektivierungsweise, des Kampfes gegen die Subjektivierung und die Ent-Identifizierung, die Kritik der Anerkennung interessiert. Mit meiner Freundin Andrea Maihofer und anderen haben wir einen Artikel für den Diskus, die Studierendenzeitung an der Frankfurter Uni, geschrieben, in dem wir für erotische Beziehungsformen argumentiert haben, für die dann später das Wort Polyamorie in Gebrauch kam. Es ging uns darum, von einem polymorphen Begehren her zu denken und die Art von binär-heteronormativen und auf eine monogame Beziehung eingeschränkte Liebesverhältnisse zu überwinden. Das war nicht normativ gemeint im Sinne von: Man muss so leben, denn oft war das damals auch sehr repressiv. Aber es ging um die Beweglichkeit der Beziehungspraktiken und Möglichkeiten, Unterschiedliches leben zu können. Auch das heißt Sozialismus.

In den heutigen Debatten plädieren einige dafür, eher von einem Umbau der Institutionen her zu denken, andere hingegen, eher Veränderungen in den Lebensweisen in den Blick zu nehmen. Sind das unterschiedliche Sozialismuskonzeptionen?

Ich würde es nicht gegeneinanderstellen wollen, der Zusammenhang muss gedacht werden. Den damaligen Konflikt zwischen der Marburger und der Frankfurter Linken könnte man entlang dieser Achse charakterisieren: Während die Frankfurter Veränderung eher aus einer radikalen Praxis von unten her zu denken versuchten, gingen die Marburger im Sinn Wolfgang Abendroths eher über die Willensbildung in den demokratisierten Parteien und Gewerkschaften, um den Umbau der Gesellschaft durch den planenden sozialen und demokratischen Staat zu organisieren. Das waren wichtige Debatten, oft wurden sie aber in die eine oder andere Richtung verkürzt, also Bewegung oder Institution. Ich fand das Argument, der Sozialismus lasse sich nicht ‚von oben’ einführen, richtig, aber es wurde dann oft sehr gegen die Gewerkschaften und gegen eine linke Parteibildung gewendet. Oder anders ausgedrückt: Wenn man die Etablierten in den Institutionen handeln lässt, selbst aber nur auf der Straße dagegen protestiert, besteht die Gefahr, subaltern zu bleiben, nicht wirklich um die Zukunft und die Entwicklungspfade zu kämpfen.

Ein Aspekt der Überlegungen von Althusser zu den ideologischen Staatsapparaten ist ja, dass es sich um staatlich verfasste Kräfteverhältnisse handelt. Auch der Staat ist demnach ein Terrain von Auseinandersetzungen. Da sind reale Arbeiter*innen, die kämpfen, da geht es um etwas. Das alles als „Massenintegration“ zu begreifen wie Joachim Hirsch, verkürzt das Problem. In den gewerkschaftlichen Kämpfen, in den Kämpfen in und zwischen Parteien steckt viel Rationales.

An was denkst du?

Ganz konkret: Mein Vater hat lange Zeit auch samstags arbeiten müssen. Wenn die Gewerkschaften damals gesagt haben, „Samstags gehört Papa mir!“, ging es konkret um mehr freie Zeit, er konnte dann auch mal Freunde treffen, war weniger gereizt. Klar, auch das ist noch nicht Freiheit und führt zu weiteren Fragen: Was heißt eigentlich Kleinfamilie? Denn man muss zwar nicht zur Arbeit, aber plötzlich hat man auch mehr miteinander zu tun, bewegt sich mehr in einer kleinen Wohnung. Ich fand das lange Wochenende oft sehr einschränkend und langweilig. Die positive Einstellung zum Neoliberalismus habe ich mir auch so erklärt, dass er für viele diese starren Formen des Alltags zum Teil eingerissen hat. Ein Betriebsrat hat berichtet, dass die meisten Arbeiter*innen in seiner Belegschaft während der Pandemie wieder zur Arbeit wollten, obwohl sie von ihrer Firma vollen Lohnausgleich erhielten. Die Arbeit ist eben auch ein sozialer Ort und die Familie ist ein kapitalistisches Gewalt- und Herrschaftsverhältnis, das alle Beteiligten auch einschränkt. Anders gesagt: Es reicht nicht, die Verhältnisse allein mit Blick auf die Arbeit zu denken. Es ist gut, dass die Gewerkschaften dafür streiten, aber wenn es dabei bleibt, ist das begrenzt. Die Verhältnisse selbst treiben konkret darüber hinaus.

Hältst du Debatten über Reformkonzepte des Realsozialismus und Begriffe wie „sozialistische Marktwirtschaft“ von Klaus Steinitz hilfreich für heutige sozialistische Strategien?

Mich hat das nie so richtig überzeugt. Der überzeugendste Aspekt ist für mich der Punkt, den Micha Brie starkmacht: Es wird in den verschiedenen Phasen des Sozialismus eine Vielzahl von Eigentumsformen geben. Natürlich auch Formen des Austauschs zwischen den verschiedenen arbeitsteilig organisierten Bereichen von Produktion und Dienstleistung. Ob und wie sehr das marktförmig geschieht, ist eine schwierige Frage. Märkte gibt es ja in unterschiedlicher Form. Historisch wurden Überschüsse getauscht. Anders ist es, wenn für anonyme Märkte produziert wird. Da muss es notwendigerweise zu Fehlallokationen kommen. Das ist auf die Dauer irrational. Es braucht dann auch ständig und zunehmend wachsende, zentralisierte politische Macht, die eingreift und reguliert – zum Beispiel dafür sorgt, dass es nicht zu einer Zentralisation der Produktionsmittel kommt, sondern die kleine Einheiten herstellt oder sichert. Aber wer kontrolliert die politische Macht?

Zu den Schwächen dieser Diskussion gehört aber, dass sie aus einer Makroperspektive geführt wird, als handele es sich beim Markt um ein Instrument, das man verwenden oder eben nicht verwenden kann. Aber historisch gab es wohl auch in der DDR nie den Zeitpunkt, zu dem man das hätte entscheiden können. Das Hauptproblem betrifft die Frage, wie die Arbeiter*innen und die Konsument*innen an der Gestaltung der Produktion beteiligt sind. Aber eine Beteiligung der Lohnabhängigen an der Planung der gesellschaftlichen Produktion und Dienstleistung, der Verwendung des Mehrprodukts war in der DDR so wenig vorgesehen wie in kapitalistischen Gesellschaften.

Geht es also um ein neues Austarieren der Beziehungen zwischen Staat und Markt, oder darum, Markt und Staat abzuschaffen?

Aus meiner Sicht ist das Primat aller Überlegungen die Organisation der sozialen Verhältnisse nach der Logik der gesellschaftlichen Arbeit, der Kooperation. Die Produktion ist immer eine besondere Produktion und weist allen anderen Tätigkeiten die Form und den Rang zu – also etwa der wissenschaftlichen oder der politischen Tätigkeit im Staat. Die Dinge werden nicht abstrakt entschieden, sondern vom Prozess der gesellschaftlichen Produktion her, also auch vom Prozess der gesellschaftlichen Naturaneignung durch Arbeit und der von ihr kontrollierten Technologien. Das muss der Ausgangspunkt sein. Insofern kann es auch nicht darum gehen, die Abschaffung von Markt und Staat zu verfügen.

Das Problem mit dem Staat ist, dass er auf einer Trennung von den gesellschaftlichen Prozessen beruhen und das Allgemeine verkörpern soll. Im Staat kann man aber nicht nach allgemeinen Gesichtspunkten handeln, es geht immer um Macht und Kompromisse, das Allgemeine der gesellschaftlichen Prozesse geht darin verloren. Staat bedeutet so viel konzentrierte Macht, so viel rechtliche Regelung, so viel Verwaltung. Mit der staatlichen Willensbildung reicht man nicht an die Prozesse der gesellschaftlichen Arbeit und die Zukunft der Produktion, die Arbeitsprozesse, die Güter und ihre Gestaltung, den Konsum heran. Es braucht also eine neue Arbeits- und Gewaltenteilung.

Dann ist die Eigentumsfrage zwar wichtig, aber nicht zentral?

Ja, genau. Wir diskutieren Eigentumsfragen sehr schnell unter Verwendung rechtlicher Begriffe. Genau genommen geht es aber um die Verfügungsrechte. Das hat in der letzten Ausgabe der LuXemburg zur Vergesellschaftung eine große Rolle gespielt. Wir führten dazu ein interessantes Gespräch mit Ulrike Hamann von Kotti & Co. zur Frage, wie eigentlich Wohnungen und Immobilien nach einer denkbaren Vergesellschaftung verwaltet werden sollten. Auch da ist die Frage nicht nur, wem die Immobilie gehört, sondern auch, mit welchen Verfügungsrechten die Menschen, die in den Immobilien wohnen, ausgestattet sind – oder die, die deren Verwaltung organisieren. Die Eigentumsrechte sind vor allem dort relevant, wo durch sie Entscheidungsprozesse blockiert oder sabotiert werden.

Ich denke, dass in rätedemokratischen Diskussionen vieles angedacht wurde, auch eine andere Form von Gewaltenteilung. Macht soll sich nicht ballen dürfen und muss abgebaut werden, Willensbildung soll von vielen Orten ausgehen. Es ist wichtig, eine Form von Gewaltenteilung einzuführen, die es ermöglicht, Entscheidungen zu überprüfen und rückholbar zu machen, wenn man merkt, es funktioniert nicht. Man kann solche Konzepte nicht einfach am grünen Tisch entwickeln, aber insgesamt wurde bislang wenig darüber nachgedacht.

Am Institut für Gesellschaftsanalyse wird ja mit dem Begriff des Infrastruktursozialismus gearbeitet und auch das Foundational Economy Collective argumentiert in diese Richtung. Da geht es um diese Doppelbewegung: Veränderung von unten und Umbau der Institutionen.

Wenn wir heute vom Sozialismus sprechen, ist doch eine wichtige Frage: Wie überzeugen wir eigentlich die Vielen, in diesen Prozess einzutreten, damit daraus ein neuer Alltag entstehen kann? Es geht um eine neue Gesellschaftlichkeit, um neue Gewohnheiten. Erfahrungswerte müssen sich ausbilden, das ist langwierig. Wir sind ja überzeugt, dass die gegenwärtigen Verhältnisse die Probleme nicht bewältigen. Deswegen stellt sich die Frage, wie wir die Leute überzeugen, an einem jahrzehntelangen Prozess teilzunehmen, dessen Ende wir alle nicht absehen können, von dem wir nur wissen, dass er auf eine neue Zivilisation hinausläuft? Es geht auch darum, andere zu gewinnen, dass sie in den notwendigen Bereichen arbeiten und bereit sind, die Herausforderungen und Konflikte zu ertragen und zu ihrer Überwindung beizutragen. Das führt zu der Frage, ob die gegenwärtigen Infrastrukturen dann die richtigen sind. Stellen sie das zur Verfügung, was wir brauchen? Wie müssen sie verändert werden? Wer entscheidet das? Das sind in sich konfliktreiche Dinge – wie können sie gelöst werden? Mit Infrastrukturen wie dem ÖPNV, öffentlichen Kliniken sowie Sport- und Bildungseinrichtungen wird vieles ermöglicht. Aber es sind auch neue Verhältnisse und Lebensweisen notwendig, die eine Aneignung solcher Infrastrukturen und ihre gemeinsame Gestaltung ermöglichen. Das schließt Diskussionen darüber ein, was wir in welchem Umfang, an welchen Orten benötigen, wer die konkrete Arbeit leistet.

Michael Brie argumentiert, man müsse anerkennen, dass es auch weiterhin viele Konflikte und Widersprüche geben wird und dass diese emanzipatorisch zu bearbeiten sind.

Das war ein Gesichtspunkt, der in den 1970er Jahren unter Bezug auf Mao in die marxistische Diskussion eingebracht wurde. Demnach sollte Sozialismus nicht harmonistisch und handwerklich-lokal missverstanden werden. Sozialismus heißt nicht: Am Tag nach der Revolution haben wir die Bedingungen geschaffen, von denen aus alles anders ist. Es handelt sich vielmehr um eine Transformation der Widersprüche und der Austragungsweise von Konflikten: im gesellschaftlichen Naturverhältnis, zwischen sozialen Klassen, zwischen den Geschlechtern und sexuellen Orientierungen oder rassifizierten Menschen. Es heißt nichts anderes, als einen anderen Umgang mit den Widersprüchen zu finden, diese als Verhältnisse zu erkennen und zu bearbeiten, sie nicht zu personalisieren, wie das immer wieder missverstanden wird.

Man kann das auch mit Gramsci und der Frage nach Hegemonieverhältnissen denken, diesen langen Prozess der Herausbildung neuer Praktiken der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Er versucht das als Partei in einem weiten Sinn zu fassen: als einen neuen „Fürsten“, der eine neue Form der Konfliktaustragung schafft, allen ermöglicht, zu Intellektuellen zu werden, ein neues Verhältnis von Denken und Fühlen auszuarbeiten, die Verhältnisse und die Lebensweise zu organisieren. Dabei geht es um andere Formen der Politik und öffentlichen Diskussion, der Betriebe, der Familie. Wie organisieren wir die Produktion, sodass viele daran teilhaben können? Wir müssen die Arbeitsteilung ändern, brauchen andere Bildungswege. Wir müssen überlegen, dass wir diese biografischen Stationen so nicht aufrechterhalten können: Kindheit, Jugend, Ausbildung, Studium, 40 Jahre Arbeit, Rente – all das sind kapitalistische Einteilungen. Auch diese müssen wir infrage stellen. Das wird ja von vielen schon vorausgedacht: die falschen Teilungen von Hand- und Kopfarbeit, Professionellen und Laien, Männern und Frauen oder von Cis und Trans, Hetero und Queer. Am Ende geht es aber um mehr als die Formen der Konfliktaustragung. Ohne harmonistische Illusion geht es auch darum, bestimmte Probleme zu überwinden, die Entstehung von Widersprüchen zu überholen. Sozialismus hat ja das Ziel, die gesellschaftlichen Grundlagen für rassistische, geschlechtliche oder Klassenwidersprüche zu überwinden.

Wie verhalten sich deine Überlegungen zur Frage eines anderen Naturverhältnisses?

Ja, das ist zentral. Es geht um ein anderes gesellschaftliches Naturverhältnis, in dem der Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur nicht weiter zerstörerisch ist. Theoretiker wie Bloch oder Marcuse haben das früh thematisiert. Die Vorstellung, die Natur technokratisch beherrschen zu können, steht ja seit Langem in der Kritik, zu Recht. Auch die gewaltförmigen Versuche unter Stalin, Flüsse umzuleiten, für die Baumwollerzeugung riesige Seen abzuschöpfen oder mit der Industrieproduktion die Meere zu verschmutzen gehören dazu.

Aber was heißt Konfliktbearbeitung mit Blick auf die Natur? Wessen Interessen werden da bearbeitet und sind es nur die von Menschen? Oder wie berücksichtigen wir zukünftige Generationen? Wie ist das integrierbar in ein Konzept von Rätedemokratie?

Nach meinem Verständnis ist das ein integraler Bestandteil. Es gibt den schönen Essay von Max Horkheimer mit dem Titel „Das Hochhaus“. Da thematisiert er die Schrecken kapitalistischer Lebensverhältnisse. Es gibt die Fabriken und die politischen und kulturellen Überbauten. Im Keller werden die Tiere geschlachtet. Diese Grausamkeit blendet die Gesellschaft aus. Marx sprach von unserer Verantwortung, für die zukünftigen Generationen die Erde in einem besseren Zustand zu hinterlassen. Das ist weit mehr als nur nachhaltige Bewirtschaftung der Bestände. In der Forderung nach Generationengerechtigkeit oder intertemporaler Freiheit steckt ein genuiner Marx'scher Gedanke. Nicht FDP-mäßig, mit Blick auf die Staatsverschuldung, sondern im Sinne von Greta Thunberg: Wir nehmen zukünftigen Generationen die Lebensmöglichkeiten weg. Die Diskussion ist ideengeschichtlich alt, Marx hat das aber nie weiter ausgeführt. Der Hauptpunkt ist aber, dass eine andere Form von Produktion und Konsumtion eine andere Art der Aneignung der Natur nötig und möglich macht, dass wir uns auch als Teil der Natur, als Tiere begreifen.

Aber könnten wir nicht auch sagen: Es ist in unserem eigenen Interesse, dass wir unser Naturverhältnis anders organisieren, dass wir unseren Konsum begrenzen, dass wir keine Massentierhaltung mehr haben usw.? Denn sonst ist dir leicht vorzuwerfen: Das ist ja moralisch.

Ja, das stimmt. Der moralische Gesichtspunkt ist einer der Hegemonie. Die Leute müssen schon überzeugt sein, dass sie andere Lebensweisen wollen. Vielleicht können sie auch bei genauerer Selbstreflexion erkennen, dass sie gar nicht dieses und jenes konsumieren wollen oder nicht in diesen Mengen. Vielleicht merken sie selbst, dass es zu viel ist und ihnen nicht die Befriedigung gibt, die sie sich erhoffen. Dass Bio-Nahrungsmittel besser schmecken, dass eine weitere konfektionierte Reise an ferne Strände nicht entspannt, sondern sie sich in den immer gleichen Hotels mit den immer gleichen Events bewegen. Das ist auch ein Kulturkampf um die Schaffung neuer Gewohnheiten, einer neuen Normalität jenseits von kulturindustrieller Macht, Kapital, Staat.

Könnte man hier einen Begriff aus der Politischen Ökologie nutzen, die Nichtverfügbarkeit? Es gibt Bereiche der Gesellschaft, die sind dem unmittelbaren menschlichen Zugriff nicht verfügbar und sollen es auch nicht werden, weil das mit Naturbeherrschung einhergeht.

Im Sinne von Marx stelle ich mir einen positiven Stoffwechsel vor. Ein „versöhntes Naturverhältnis“ ist mehr als das „Unverfügbare“. Letztlich würde es darum gehen, uns selbst in den gesamten Kreislauf in einer Weise hineinzudenken, dass wir die Zerstörungsdynamik beenden und etwas Positives daraus machen. Klar, das kann auch die Entscheidung beinhalten, etwas für unverfügbar zu erklären, nicht alles zu tun, was wir tun könnten. Aber das ist sehr voraussetzungsvoll. Unter kapitalistischen Bedingungen gelingt das nicht.

Wie stellen wir uns vor diesem Hintergrund eine sozialistische Staatlichkeit vor?

Wenn man die Verhältnisse verändern will, muss man diese Veränderungen sichern, weil die Dinge über lange Zeit umkehrbar sind. Marx hatte die Vorstellung, dass es einen qualitativen Umschlagspunkt geben wird, von dem aus eine neue Produktionsweise nicht mehr umkehrbar ist. Etwa so, wie man sich heute beispielsweise nicht vorstellen kann, dass der Kapitalismus noch umkehrbar wäre, obwohl es noch feudale Elemente gibt: Monarchie, Adlige, die Katholische Kirche. Die Absicherung solcher Prozesse kann nicht allein mit den Mitteln des Staates, also mit Verwaltungen, Steuern, Repression, dem allgemeinen Gesetz gelingen. Sie muss tief in der Produktionsweise, im Alltag, im Selbstverständnis verankert sein – also so, wie Menschen sich heute wie selbstverständlich als Freie und Gleiche verstehen.

Aber um mit Poulantzas zu sprechen: Im Staat sind immer auch rationale Elemente enthalten. Der Staat ist die Allgemeinheit in bürgerlicher Form. Das heißt, er ist nicht nur Herrschaft, nicht nur Repression, nicht nur ideologische Allgemeinheit, sondern wirkliche Allgemeinheit. Da wird wirklich etwas organisiert. Das wird vielfach nicht gut gemacht, das haben wir jetzt wieder in der Pandemie erlebt, aber es gibt keine alternative Einrichtung, die es überhaupt hätte machen können. Wie würden wir nun dieses Allgemeine organisieren? Das würden wir dann nicht mehr Staat nennen, weil Staat per se eine Institution ist, in der nur partikulare Interessen zur Geltung kommen, die als Allgemeines ausgegeben werden – das ist ein Strukturmerkmal des bürgerlichen Staates. Insofern geht es um die Rücknahme des Staates in die Gesellschaft und die Schaffung einer neuen Allgemeinheit. Es ist nicht sinnvoll, nur vom Staat her zu denken. Eher geht es darum, den Prozess des Übergangs so zu organisieren, dass bestimmte Verfahren, bürokratische Regeln, verselbstständigte Behörden anders organisiert und konkret nicht mehr benötigt werden, weil es in vielfältigen Formen demokratische Praktiken von unten gibt.

Welche Rolle spielt darin eine sozialistische Partei? Brauchen wir die?

Ich sehe es so, dass der Sozialismus eine Tendenz der bürgerlichen Gesellschaft ist. Immer wieder bildet sie linken Aktivismus und linke Organisationen aus. Diese Organisationen sind nicht das Ergebnis von freien Entscheidungen, sondern von Kräfteverhältnissen: also von Mitgliedern, Geld, Recht, Repression vonseiten der Unternehmen, Staat, zivilgesellschaftlichen Akteuren. Deswegen stellt sich immer wieder die kritische Frage nach der Organisationsform, denn Assoziation setzt kritische, gesellschaftsverändernde Kräfte in ein Verhältnis der Kooperation, macht ihre Praxis wirkungsvoller – oder blockiert sie. Partei ist eine solche Form. Sie kann eine kollektive Willens- und umfassende Wissensbildung ermöglichen zur Herausbildung einer langfristigen Perspektive. Gerade deswegen werden solche Organisationsformen dann auch von den beharrenden herrschenden Kräften auf spezifische Weise bekämpft.

Was konkret DIE LINKE angeht, war ihre Entstehung in den 1990er und 2000er Jahren keine freie Entscheidung, sondern kontingentes Ergebnis der Kämpfe gegen die Art der Vereinigung der beiden deutschen Staaten und die Agenda 2010. Das war eine Chance für eine Linke, aus den negativen historischen Erfahrungen zu lernen. Als Nachteil erwies sich, dass viele doch ihren Traditionen verhaftet blieben und die Herausforderung, auf der Höhe der Zeit etwas Neues zu beginnen, nicht annahmen. Das wurde auch von den Medien genutzt, die die Eitelkeiten einzelner Personen gut auszunutzen und die Willensbildung in der Linken zu mediatisieren wussten. Vieles, wofür das Projekt der LINKEN gegründet wurde, hat sich so nicht erfüllt. Eine genuin sozialistische Partei zu bilden ist trotz vieler guter Ansätze (bislang) nicht gelungen. Es ist ein Merkmal ihrer Krise, dass die verschiedenen Kräfte wie ineinander verhakt wirken, festgefressen, in dem kein Teil stark genug ist, die Situation aufzulösen und wieder Bewegung in die Partei zu bringen. Aber ich denke, dass wir diese LINKE benötigen. Würde sie jetzt verschwinden, würde es wieder Jahre oder Jahrzehnte dauern, um neue organisatorische Zusammenhänge zu entwickeln, Stimmen auch in Parlamenten und Verwaltungen hörbar zu machen. In der LINKEN sind enorme Wissenskompetenzen verkörpert, die Fähigkeiten, sehr konkrete Themen wie Steuern, Mieten, Verkehr, Gesundheit konkret zu diskutieren und alternative gesellschaftliche Prozesse zu organisieren. Sie kann erheblich dazu beitragen, Phasen, in denen soziale Bewegungen schwach sind, zu überbrücken. Insofern sehe ich eine große gesellschaftspolitische Verantwortung bei wichtigen Repräsentant*innen der Partei ebenso wie in der gesellschaftlichen Linken für ihre Fortexistenz und natürlich die der Rosa-Luxemburg-Stiftung.


Das Gespräch führten Uli Brand, Mario Candeias, Barbara Fried, Benjamin Opratko, Thomas Sablowski und Jenny Simon. Es ist ein Auszug aus dem Band „‚Wenn man nichts will, erkennt man nichts.‘ Alex Demirović im Gespräch über kritische Gesellschaftstheorie und sozialistische Strategie“, der demnächst beim Verlag Westfälisches Dampfboot erscheint.