Wenn wir über Sozialismus als Alternative zum Kapitalismus nachdenken und für eine Transformation von der einen in die andere Gesellschaftsform eintreten, dann, weil es konkrete Gründe dafür gibt. Einer von ihnen ist, all jene Verhältnisse zu vermeiden oder zu beseitigen, die so viele menschliche Opfer mit sich bringen oder erzeugen. Da gibt es die sexistischen Entwürdigungen und Gewalttätigkeiten in Familien, es gibt die Schikanen in den Betrieben und im Arbeitsalltag. Menschen sind dem Risiko des Arbeitsmarktes ausgesetzt; für viele reicht das geringe Einkommen eines Jobs nicht, um eine Familie zu versorgen. Es gibt die Millionen Menschen, die bei Verkehrsunfällen verletzt oder getötet werden, die krank werden aufgrund von Pestiziden in der Nahrung, von Chemikalien in der Kleidung, die frühzeitig sterben wegen Arbeits- oder Feinstaubbelastung. Wir denken auch an die vielen, die in Kriegen getötet, an all die, die Opfer von Völkermorden werden, oder an all die, die von Gangsterbanden, von staatlichen Polizeien oder Geheimdiensten drangsaliert, gefoltert, gefangen gehalten werden – auch im Namen einer besseren, gerechteren Welt, auch im Namen des Sozialismus. Der Abbau von Kohle, Gold oder seltenen Erden liefert Menschen und ganze Gesellschaften der Krankheit und dem Tod aus. Jeden Tag sterben Menschen, wenn sie migrieren oder flüchten, sie sind der Gewalt, der Sklaverei, der Zwangsarbeit ausgesetzt, sie verlieren Jahre ihres Lebens in Lagern oder Gefängnissen. Es sind verstörende Kontraste: hier die Partygänger*innen, dort die Obdachlosen, die auf der Straße neben uns liegen; hier die Kreuzfahrt- und Segelschiffe, dort die Flüchtlingsboote und Seenotrettungsinitiativen. Das Gefälle zwischen dem Reichtum, der Rechtssicherheit oder der Gesundheitsversorgung, den mit einer unüberschaubaren Vielzahl von Waren gefüllten Kaufhäusern, dem Wissen um jeden Thunfischschwarm oder jeden Quadratmeter Regenwald, der Normalität des täglichen Schulbesuchs einerseits und andererseits der Armut, der Nacktheit und Prekarität des Lebens, der Unfähigkeit, dem Wissen gemäß zu handeln und die Fehlentwicklungen zu beenden, ist grotesk.

Wir stecken in einem Widerspruch fest. Das, was die einen tötet, erlaubt den anderen, zu leben und gut zu leben: die Arbeitsverhältnisse in den vielen Fabriken der Welt, die CO2-Emissionen der Autos oder der Containerschiffe, der Futterimport aus den globalen Sojaanbaugebieten, die durch Massentierhaltung bedingten Nitr­ateinträge in den Böden, die Lastwagentransporte durch die Alpentäler, der Export von Waffen oder von Milch. Dass dieser Widerspruch etwas mit Kapitalismus zu tun hat, wird bestritten. Zwar wird, erstens, eingeräumt, dass es die beschriebenen Phänomene gibt, aber tief philosophisch vermutet, dass sie Ergebnis der menschlichen Verfassung als solche seien: Menschen seien nun einmal egoistisch und dächten zuerst an sich. Zweitens könnten jene Phänomene dem Kapitalismus nicht zugerechnet werden, weil es diesen als solchen gar nicht gebe, sondern nur soziale Marktwirtschaften mit einer Vielzahl von freien Akteuren. Der Markt sei, drittens, Moment eines sozialen Differenzierungsprozesses, der Erfolge in zahlreichen Dimensionen aufweise: technischer und wissenschaftlicher Fortschritt, Rechtssicherheit, Demokratie, wirtschaftliche Effizienz, Wachstum, Beseitigung der Armut, Verlängerung der Lebenserwartung, Gesundheitsvorsorge und Bildung. Diese Erfolge seien Ergebnis einer nicht gelenkten Modernisierung, die systemischen Anforderungen folgt und nicht den moralischen Entscheidungen der einzelnen Individuen zurechenbar ist. Viertens wird nahegelegt, dass es zwar immer noch viele Unzulänglichkeiten gebe, aber das Ideal der Perfektibilität sei zweifelhaft und es werde ja alles zwar langsam, aber doch stetig besser. Beruhigend wird die Erwartung genährt, dass die nächste Modernisierungsrunde die Probleme lösen werde. Die Selbstschutz- und Selbstkorrekturmechanismen wirkten.

Aber ein solches Argument ist kurzsichtig und lässt außer Betracht, dass es auf diese Weise seit Jahrhunderten hin- und hergeht: Mal geht es besser, dann geht es wieder schlechter. Wie oft wurde behauptet, dass es in kapitalistischen Gesellschaften keine Wirtschaftskrisen und keine Armut, hingegen nur noch Vollbeschäftigung geben würde? Formell gibt es keine Sklaverei und doch arbeiten viele Menschen unter Bedingungen der Zwangsarbeit und Schuldknechtschaft. Den Satz, dass die Lohnarbeit in die Verzweiflung und zum Tod führt, können die Arbeiter*innen in Bangladesch oder in Äthiopien genauso bestätigen wie ihre Kolleg*innen vor 200 Jahren vor der Kommission des britischen Parlaments. Die Fragen des Mindestlohns, des Arbeitstags, der körperlichen, geistigen und psychischen Erschöpfung der Individuen, der Zerstörung ihrer alltäglichen Lebensformen, der schlechten Wohnungsversorgung, der niedrigen Bildung, der Pressefreiheit, des Koalitionsrechts, der Verhinderung der demokratischen Selbstbestimmung wiederholen sich seit dem 18. Jahrhundert. Die Umweltfrage taucht in immer neuen Formen auf: Hygiene, Luftverschmutzung, mangelnde Durchlüftung städtischer Räume, Zerstörung der Wälder und der Biodiversität, Degradation der Böden, Desertifikation, Klimawandel. Nichts davon ist überraschend. Immer wieder, für einen kurzen Moment, scheinen die Probleme gelöst, die Fortschrittsideologie legt dies nahe – bis sie sich dann auf erweiterter Stufenleiter erneut einstellen.

Ein Teil des Bürgertums sieht die Probleme. Es schafft zahllose Initiativen und zivilgesellschaftliche Organisationen; es reagiert seit Jahrhunderten mit zahlreichen Maßnahmen: Friedenskonferenzen, Menschenrechte, Internationaler Strafgerichtshof, die Konventionen gegen Folter, die Ächtung von Waffen, die Regulierung des Arbeitstages, die rechtliche Gewährleistung von Gewerkschaften, die Presse- und Wissenschaftsfreiheit, die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Forderung nach mehr Nachhaltigkeit, die sich in internationalen Vereinbarungen, UN-Programmen oder im globalen Monitoring niederschlägt; auch mit Stiftungen, Entwicklungsagenturen, NGOs, zivilgesellschaftlichen Initiativen (Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung, WWF, Amnesty International, Transparency International, Bill & Melinda Gates Foundation, Open Society Foundations). Zahllose Absichtserklärungen werden verkündet und freiwillige oder rechtlich verbindliche Regelungen beschlossen. Aber nichts hilft – die Wirklichkeit richtet sich nicht nach ihnen.

Ein anderer Teil des Bürgertums leugnet die Tendenzen der Destruktivität, es will die Wirklichkeit nicht wahrnehmen – der Klimawandel existiere nicht oder, wenn doch, sei er gottgewollt; es seien nicht die Waffen, die töteten. Die Bemühungen, die negativen Entwicklungen einzudämmen, werden als Torheit abgelehnt, ihr Scheitern betrieben. Ein wieder anderer Teil des Bürgertums und seiner Führungskräfte ist sich der Probleme oder mancher ihrer Aspekte durchaus bewusst. Es ist die Rede von der Notwendigkeit einer großen Transformation, von Neugestaltung der Globalisierung, von der Schaffung resilienter Strukturen. Der Wohlstand soll gerechter verteilt, der Kapitalismus soll, wie die Finanzminister der G7-Staaten jüngst forderten, gerechter werden. Doch trotz mancher Einsicht und einer entsprechenden Handlungsorientierung erweist sich das Bürgertum als schwankend, inkonsequent oder auch ratlos. Dies legt das Verhalten gegenüber den Beschlüssen der Weltumweltkonferenz, dem Kyoto-Protokoll, den Zielen für nachhaltige Entwicklung nahe.

Nüchtern betrachtet hilft ihnen die Einsicht nicht; sie haben die Perspektive, Kompetenz und Kraft nicht, solche Strategien vorzuschlagen, die zu einer Lösung führen könnten. Denn die kapitalistischen Verhältnisse zeichnen sich gerade dadurch aus, dass es keine gesamtgesellschaftliche Rationalität gibt, die die Interessen der Vielen und die Gesamtausrichtung der gesellschaftlichen Entwicklung miteinander koordinieren. Vielmehr ergibt sich die gesellschaftliche Entwicklung, oder besser: die Nicht-Entwicklung, aus einer Vielzahl von Entscheidungen mehr oder weniger mächtiger Akteure, die miteinander konkurrieren. Weltumspannend oder regional operierende Unternehmen, politische Kräfte, staatlich organisierte Akteure, zivilgesellschaftliche Organisationen und Bewegungen, die stummen Praktiken der Vielen wirken mit- und gegeneinander bei Planungen, Nichtwissen und Wissensausblendung, Entscheidungen und Nicht-Entscheidungen mit verschiedener zeitlicher, räumlicher, sozialer Reichweite, bei der Definition der Gegenstände und der Tiefe der Maßnahmen. Dies betrifft alle Bereiche des Lebens. Bei Fragen des Fleischkonsums, der Mobilität und Besiedlung, der alternativen batteriegestützten E-Mobilität oder zu Brennstoffzellen, der Erzeugung von Energie, der Fortentwicklung von Humangenetik und Informatik, die in der Konsequenz die menschliche Gattung als solche abschaffen könnten, sind die Konflikte um die Entscheidungsalternativen offensichtlich. Bislang kommt es nicht zu Konstellationen, in denen die Entwicklungspfade zur Wahl gestellt werden; die Entscheidungen werden bislang immer noch nicht aufgrund freier Einsicht, höchstem Erkenntnisniveau und der Beteiligung der Vielen getroffen, sondern starke ökonomische, politische, wissenschaftliche und mediale Interessengruppen verändern besitzergreifend die Naturgeschichte der Gattung und des Planeten und blockieren Veränderungen der kollektiven Gewohnheiten.

Es gibt bereits heute zahlreiche Ansätze, mit denen sich die Menschen auf diesem oder jenem Gebiet als globales Kollektivsubjekt konstituieren. Die Praktiken sind ungleichzeitig, zögerlich und partikularistisch, die Widerstände deswegen stark. Es liegt zudem auf der Hand, dass allein transformatorische Maßnahmen auf einzelnen Feldern nicht ausreichen werden, da die Prozesse vielfältig ineinandergreifen. Um die Probleme anzugehen und die ökologischen, technischen, ökonomischen, kulturellen und demokratischen Prozesse einigermaßen aufeinander abzustimmen und so zu einer regulierten, auf Gleichzeitigkeit zielenden Entwicklung zu gelangen, ist es erforderlich, dass dafür geeignete Handlungsbedingungen geschaffen werden. Das heißt nichts anderes, als dass sich die Gattung als Menschheit konstituieren und ihr Geschick in die Hand nehmen muss. Sie muss sich umstellen auf die Bewältigung der Schäden, die Bekämpfung ihrer Ursachen, die Suche nach Lösungen zur Gestaltung der Zukunft.

Herrschaft des Untoten

Doch das Bürgertum, das sich so viel auf Modernisierung, auf Entwicklung, auf Fortschritt zugutehält, kann dies erstaunlicherweise nicht. Das hat schon einen radikalen Demokraten wie Thomas Paine im 18. Jahrhundert überrascht. Er beobachtete, dass das Bürgertum bereit war, den Gedanken des Gesellschaftsvertrags zu historisieren: Ja, so wird dann eingeräumt, das Gemeinwesen wurde einmal durch einen Vertrag aller mit allen gegründet. Aber dieser Akt der Gründung sei einmalig gewesen und die Erben und Nachkommen seien damit bis ans Ende aller Zeiten gebunden. Doch, so Paine, habe kein Geschlecht von Menschen, kein Stand und kein Parlament das Recht oder die Macht, die Nachkommenschaft derart zu binden. »Jedes Zeitalter, jedes Geschlecht muss eben solche Freiheit haben, in allen Fällen für sich selbst zu handeln, als die Zeitalter und Geschlechter vor ihm. Die Eitelkeit und Anmaßung, noch jenseits des Grabes regieren zu wollen, ist die lächerlichste und unverschämteste aller Tyrannen. Der Mensch besitzt kein Eigentum in dem Menschen; ebenso wenig besitzt eine Generation in künftigen Geschlechtern Eigentum.« (Paine 1792, 49) Für diese radikale Zukunftsoffenheit tritt in der Folge von Paine auch Marx ein, nicht aus der Vergangenheit und Erinnerung, sondern aus der Zukunft solle die umfassende soziale Emanzipation ihr Selbstverständnis gewinnen, nicht die Toten, sondern die Lebendigen sollten bestimmen (vgl. Marx 1852, 117). Diese Forderung von Marx ist uneingelöst. Er wendet sich damit gegen die eigentümliche Kultur des Bürgertums, das seine durch politische Revolution neu gewonnene Freiheit in die Argumente, die Kleider und in die Architektur der Vergangenheit des Römischen Reiches steckt. Dass die modernen politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse sich derart durch Bindung an die Vergangenheit vollziehen, dass das Bürgertum ständig von Neuem von seiner Vergangenheit, von den Traumata seiner Gewalt eingeholt wird, Erinnern und Besserung verspricht und doch die Gewalt in der Gegenwart nicht beenden kann, ist Marx zufolge selbst kein Zufall, sondern entspricht den Grundlagen, auf denen das moderne Bürgertum sein Leben und seine Selbsterhaltung organisiert. Dieser Zusammenhang wurde seit John Locke immer wieder betont: Es ist das Eigentum und seine Absicherung. Das Eigentum soll die Folgegenerationen binden. Aber wie geschieht es? Und vor allem, warum geschieht es? Denn eine Alltagsweisheit besagt, dass niemand als Toter etwas mitnimmt. Warum also gibt es das Bestreben, die gesellschaftliche Dynamik, über den eigenen Tag hinaus die Zukunft festzulegen? Warum werden im Namen erworbener oder zu verteidigender Eigentumstitel, also im Namen von etwas Vergangenem und Totem, die lebendigen Menschen benachteiligt, verletzt oder gar getötet?

Marx spricht diesen Gegensatz als den zwischen der toten und der lebendigen Arbeit an. Es handelt sich um ein verkehrtes, verrücktes Verhältnis, da nun die Vergangenheit über die Gegenwart herrscht, die Produktionsmittel die Arbeiter*innen anwenden, nicht die Arbeiter*innen die Produktionsmittel, nicht sie bestimmen in freier körperlicher und geistiger Freiheit die Produktionsabläufe, sondern werden dem toten Mechanismus der Maschinen als lebendige Anhängsel einverleibt (vgl. Marx 1890, 445). Diese Verrückung ergibt sich aus dem Kapitalverhältnis. Kapital ist Geld, das sich mit lebendigem Arbeitsvermögen austauscht und es auf diese Weise verwertet, also in einem größeren Umfang aus der Zirkulation zurückkehrt, als es in diese eingetreten ist. Das Geld und das Kapital sind ihrerseits bereits tote Gegenständlichkeit, Resultat früherer lebendiger Arbeit, die sich der Kapitalist angeeignet hat. Er kauft damit Produktionsmittel, denen die Lohnabhängigen im Produktionsprozess ihr lebendiges Arbeitsvermögen zusetzen. »Indem der Kapitalist Geld in Waren verwandelt, die als Stoffbildner eines neuen Produkts oder als Faktoren des Arbeitsprozesses dienen, indem er ihrer toten Gegenständlichkeit lebendige Arbeitskraft einverleibt, verwandelt er Wert, vergangne, vergegenständlichte, tote Arbeit in Kapital, sich selbst verwertenden Wert, ein beseeltes Ungeheuer, das zu ›arbeiten‹ beginnt, als hätt’ es Lieb’ im Leibe.« (Marx 1890, 209) Die Rede von der toten Gegenständlichkeit, die sich lebendige Arbeitskraft einverleibt, ist durchaus wörtlich zu nehmen. Denn es geht um die Erhaltung einmal erworbener Eigentumstitel. Die Verfügungsrechte über das angeeignete Arbeitsvermögen nehmen Rechts- und politische Verhältnisse an. Um sie zu bewahren, wird die körperliche Unversehrtheit und das Leben vieler Menschen riskiert, ihr Tod wird in Kauf genommen, um das Recht auf weitere Verwertung des Kapitals aufrechtzuerhalten. Niemand könnte auf dieses Recht verzichten, ohne befürchten zu müssen, selbst Opfer zu werden.

In seiner Studie »Verworfenes Leben« macht Zygmunt Bauman deutlich, dass die Todeszone sich ausgedehnt hat und mehr umfasst als nur den Bereich der Produktion. Er nennt die vielen Konsumgüter, den Abfall, der durch mit den Mitteln der Werbung angeregten Fehlkauf und Überkonsumtion, durch schnellen moralischen Verschleiß, durch Mode oder durch eingebaute Obsoleszenz erzeugt wird. Mehr noch: Viele Menschen werden nicht einmal mehr zum Bestandteil der industriellen Reservearmee, sie zählen als Überflüssige, als Abfall. Schließlich, drittens, prägen die Probleme des menschlichen Abfalls das gesamte soziale Leben und erzeugen einen Abfall sui generis: »totgeborene, unpassende, ungültige und nicht realisierbare menschliche Beziehungen, die von Anfang an den Stempel des drohenden Dahinschwindens tragen« (Bauman 2005, 15).

Es sollte nicht verkannt werden: Die Verwalter*innen des Toten wollen die Lebenden regieren. Aus ihrem Blickwinkel, der Verwertung ihres Kapitals, nehmen sie die Zukunft in den Blick. Doch diese wird stark vereinseitigt und der Vergangenheit verpfändet. Denn die Zukunft wird darauf festgelegt, Gewinnerwartungen einzulösen. Im zinstragenden Kapital sei, so Marx, die Vorstellung vom Kapitalfetisch vollendet, dass das aufgehäufte, tote Arbeitsprodukt aufgrund einer geheimen Qualität Mehrwert erzeuge. »Man weiß dagegen, dass in der Tat die Erhaltung, und insoweit auch die Reproduktion des Werts der Produkte vergangner Arbeit nur das Resultat ihres Kontakts mit der lebendigen Arbeit ist; und zweitens: dass das Kommando der Produkte vergangner Arbeit über lebendige Mehrarbeit grade nur so lange dauert, wie das Kapitalverhältnis dauert, das bestimmte soziale Verhältnis, worin die vergangne Arbeit selbständig und übermächtig der lebendigen gegenübertritt.« (Marx 1894, 412)

Angesichts all der Herausforderungen, die daraus resultieren, dass die Gegenwart und die Zukunft an die Vergangenheit gebunden sind, bedarf es einer Veränderung der Verhältnisse, unter denen die Menschen sich die Möglichkeit nehmen, sie selbst zu gestalten. Vergangene Arbeit – sowie die daraus abgeleitete Macht und die mit ihr verbundenen Lebensverhältnisse – soll nicht die Zukunft weiter festlegen. Doch das sollte nicht als einzelner historischer Einschnitt missverstanden werden, aus dem sofort ein bestimmtes neues Verhältnis hervorgeht, das dann als Ultima Ratio gelten könnte und alle Probleme löst. Vielmehr geht es um die Einrichtung von Verhältnissen auf der Höhe der Herausforderungen, sodass auf der Grundlage der historisch erlangten Erfahrungen und dem erreichbaren Wissen kenntnisreich unter Beteiligung der Vielen die gegenständliche und soziale Welt derart umgestaltet werden kann, dass alle kooperativ, miteinander versöhnt und emanzipiert leben können. Dies bedeutet, Nachlässigkeiten zu vermeiden, Sorge gegenüber dem Vernachlässigten und Beschädigten zu tragen und das den Bedürfnissen gemäße Neue zu erzeugen. Es war ein technizistisches Missverständnis, die Entwicklung der Produktivkräfte immer nur als technischen Fortschritt zur Erzeugung größerer Gütermengen zu begreifen. Die wichtigste Produktivkraft ist die Kooperation der Menschen in einem rationalen Verhältnis zur Natur. In diesem Sinn gehört zur Produktivkraftentwicklung auch, über die Produktionsmittel, die Arbeitsprodukte und -prozesse gemeinsam nach Gesichtspunkten eines rationalen Metabolismus zu entscheiden.

Wir nennen es Sozialismus

Aus historischen Gründen knüpft sich die Erwartung der Lösung einiger der großen Probleme des gesellschaftlichen Lebens an den Sozialismus. Ausdrücklich erklären Journalist*innen (vgl. SZ, 21.9.2019; NZZ, 20.7.2019), dass sie sich der Beliebtheit des Sozialismus in der Bevölkerung entgegenstellen wollen. Ein Argument ist, dass er sich als ineffizient erwiesen habe und autoritär gescheitert sei. Wenn so argumentiert wird, dann ist oft die Häme zu spüren. Darüber, dass bürgerliche Kräfte erheblich dazu beigetragen haben, dass Alternativen scheitern, wird kein Wort verloren. Insbesondere in Deutschland ist das nach all den Verbrechen zur Verhinderung von Alternativen in Osteuropa seit 1917 infam genug. Aber mehr noch, es wird damit auch gesagt, dass zentrale Ziele der Aufklärung scheitern: nämlich die vernünftige Gestaltung der Verhältnisse, unter denen Menschen leben. Gerade das ist mit dem Kapitalismus nicht möglich: Er hat die Produktivkräfte im Wettbewerb entfaltet – doch gerade die Konkurrenz macht ihn auch ineffizient, gewaltvoll und tendenziell apokalyptisch, weil sich die Vielen mit ihren gemeinsamen und kooperativen Praktiken nicht zur Geltung bringen können. Insofern kommt es heute auf eine Veränderung der Verhältnisse an, die die zivilisatorische, rationale Entfaltung der Produktivkräfte blockieren. Historisch wurde zum Schaden der Menschen mit Markt und Staat experimentiert. Das genuine Projekt, das aus der gemeinsamen Verwaltung der Dinge und der freien Entfaltung der Individuen zur selbstbestimmten Gestaltung der Verhältnisse besteht, wurde bislang noch nicht ausprobiert. Es ist an der Zeit.