Zugespitztes Elend, Kriege, Klimakrise und Armut selbst in den Kernländern des Austeritätskapitalismus sowie deren rechtspopulistische Bearbeitung – Argumente für einen Kurswechsel gibt es genug. Zuletzt war es der Erfolg von SYRIZA in Griechenland, der gezeigt hat: Mehr und mehr Menschen wollen dieses Spiel nicht länger spielen. Nur wie kann der Einstieg in einen Ausstieg aus diesem offensichtlichen Wahnsinn aussehen? In den Krisenanalysen und Praxen einer oftmals in libertär-akademische Milieus zurückgezogenen Linken gerät diese Frage trotz pointierter Kritiken häufig aus dem Blick. In die Auseinandersetzungen marginalisierter Gruppen ist die gesellschaftliche Linke hierzulande wenig involviert, auf die alltäglichen Zwangslagen der Menschen hat sie vielfach nur abstrakte Antworten. Es fehlt an Praxen, die Alltagsprobleme bearbeiten und doch den Horizont der Veränderung nicht aus dem Blick verlieren, die praktische Unterstützung mit politischer Bildung und Organisierung verschränken. Für sozialistische Transformation stellt sich also nicht nur die Frage des ›wohin‹ – nach einem gemeinsamen ›Projekt‹ –, sondern insbesondere die Frage des ›mit wem‹ und des ›wie‹. Wenn Transformation nicht zahnloser Modebegriff werden soll, geht es um die Suche nach strategischen Interventionspunkten, von denen aus sich ein gesellschaftlicher Umbau praktisch weitertreiben lässt.
Solche finden sich aktuell im Care-Bereich. Kämpfe um soziale Reproduktion eröffnen die Möglichkeit, in lokale Auseinandersetzungen marginalisierter Gruppen einzugreifen, Teil davon zu werden und doch Ansprüche an ein gesellschaftliches Allgemeines zu formulieren. Sie bieten die Chance, sehr unterschiedliche Akteure praktisch zu verbinden und vor allem Menschen zu erreichen, die bisher nicht in linken Strukturen zu Hause sind, sich insgesamt von ›Politik‹ nicht viel versprechen. Ausgehend von Widersprüchen eines prekären Alltags, von individuellen und kollektiven Handlungsstrategien unter Krisenbedingungen und von Kämpfen um die Absicherung grundlegender Lebensbedürfnisse eröffnen sich Ausblicke auf neue Bündnisse, die eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse überhaupt erst ermöglichen.
Care in der Krise
Verwerfungen des neoliberalen Kapitalismus sind gegenwärtig am deutlichsten im Care-Bereich zu spüren. Die Krise der sozialen Reproduktion (vgl. u.a. Winker 2015) trifft den Alltag der allermeisten Menschen und bildet den Hintergrund vielfacher Prekarisierungserfahrungen. Austeritätspolitiken und Privatisierungen haben Löcher in die öffentliche Daseinvorsorge gerissen. Gleichzeitig führt die vermeintlich kostensparende, marktförmige Organisierung von Care-Tätigkeiten zu einer Zerstörung der Fürsorglichkeit. Die Arbeit am Menschen orientiert sich weder am gesellschaftlichen Bedarf noch an den je individuellen Bedürfnissen, sondern soll möglichst effizient erfolgen. Aufwendig zu dokumentierende Zeitverwendungen dienen nicht nur komplizierten Abrechnungssystemen, sondern legen Rationalisierungspotenzial offen. Während die Arbeitsverdichtung zunimmt und die Beschäftigten unter Überlastung leiden, sinkt die Qualität der Versorgung, nehmen die Infektionsraten in den Krankenhäusern zu, müssen die BewohnerInnen in Alten- und Pflegeheimen im Minutentakt ihr Essen verschlingen, bestehen frühkindliche Bildungspläne nur auf dem Papier.
In dieser Situation wird Reproduktionsarbeit wieder in die Haushalte verschoben, führt dort zu Doppelt- und Dreifachbelastung – insbesondere bei Frauen – und auch zu einer Retraditionalisierung von Lebensweisen, einem Backlash in Bezug auf geschlechterpolitische Errungenschaften. Doch die vermeintlich stabile Familienform ist gar nicht in der Lage, die reduzierten Angebote sozialer Dienstleistungen zu kompensieren. Der prekäre Alltag lässt kaum Spielräume für Pflege, Erziehung, Betreuung, Selbstsorge oder gar Muße. Innerfamiliäre Konflikte um die Organisation der Reproduktion sind die Folge.
Die Politik reagiert mit Reformen, die teils Leistungen ausweiten und auch Geschlechterarrangements vorsichtig in Bewegung bringen, beispielsweise durch Kita-Ausbau, Elterngeld, Pflegereform und Pflegezeiten. Diese zielen jedoch in erster Linie auf eine Steigerung der Erwerbsfähigkeit, sind Momente neoliberaler Krisenbearbeitung. Wichtig wäre hier, für einen egalitären Zugang zu den damit verbundenen Leistungen zu streiten, denn aktuell drohen sie gesellschaftliche Spaltungen noch zu verschärfen: etwa die zwischen gut ausgebildeten Doppelverdienerhaushalten und jenen, denen das Elterngeld von den Transferleistungen abgezogen wird, oder zwischen hoch qualifizierten berufstätigen Frauen, die zumindest Teile der widersprüchlichen Emanzipationsdividende einstreichen, und jenen, die die übrigbleibende Reproduktionsarbeit verrichten. Auch rassistische Grenzziehung werden verstärkt: Reproduktionslücken in Privathaushalten werden dadurch gestopft, dass Hausarbeit an (illegalisierte) migrantische Arbeitskräfte delegiert wird, Gleiches gilt für Lücken, die durch Personalmangel in der Pflege entstanden sind.
Für viele bleiben diese Reformen am Ende doch kaum mehr als kosmetische Veränderungen in einer Gesellschaft, die Lebensnotwendiges ökonomisiert und Risiken – von Ausbildung bis Gesundheit – den Einzelnen aufbürdet (vgl. Wohlfahrt in diesem Heft). Die Grenzen neoliberaler Politiken in diesem Feld werden aber zunehmend deutlich. Sie führen zu alltäglichen Krisenerfahrungen, die – und das ist für strategische Überlegungen zentral – keinesfalls nur die vermeintlich ›Abgehängten‹ betreffen. Bis weit in die Mittelschichten hinein verstärkt sich der Eindruck, dass hier etwas fundamental falsch läuft. Ansetzend an diesen Erfahrungen lässt sich eine Politik aus der Perspektive sozialer Reproduktion entwickeln.
Die Krise alltagsnah politisieren
Die Hürden alltäglicher Lebensführung werden oft auf eigenes Versagen zurückgeführt und nicht als Ausdruck gesellschaftlicher Krisenphänomene wahrgenommen. Das Gefühl, ständig unter Druck zu sein – bei der Arbeit, aber auch zu Hause oder beim Amt den vielen Anforderungen nicht gerecht zu werden, nie stillzustehen und trotzdem oder deshalb dauernd überfordert zu sein –, all das wird trotz besseren Wissens als »ich schaffe das nicht«, als individuelle Erfahrung des Scheiterns verbucht. Dass es fast allen so geht, dringt kaum ins Bewusstsein – auch wenn die Möglichkeiten, in diesem rat race die Nase vorn zu behalten oder mit den Folgekosten umzugehen, stark klassenabhängig sind.
Und doch gelingt es vielerorts Widerstand zu entwickeln. Die Bewegungen der letzten Jahre haben neben Forderungen nach ›echter Demokratie‹ auch Kämpfe um soziale Reproduktion ins Zentrum gerückt. Dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum, öffentlicher Gesundheitsversorgung und guten Bildungsangeboten setzten sie selbstorganisierte Strukturen und Solidaritätsnetzwerke entgegen, in denen auch neue Formen politischer Organisierung entstehen – wie bei der Plattform gegen Zwangsräumungen (PAH) in Spanien oder in den solidarischen Kliniken in Griechenland (vgl. Candeias/Völpel 2014). Weniger bekannt ist eine landesweite Kampagne für gute Pflege in den USA: Caring Across Generations. Auch hier beginnt der Kampf für hochwertige Pflege und gute Arbeitsbedingungen im Alltag der Menschen, wird aber verschränkt mit einer Politik des ›kulturellen Wandels‹. Ausgehend von der stark individualisierten, aber von immer mehr Menschen geteilten Erfahrung, an den Anforderungen einer neoliberalen Leistungsgesellschaft zu scheitern, werden Debatten um Alternativen angestoßen. Es geht darum, diese überhaupt vorstellbar zu machen. Ängste und Sorgen werden mit der aus dem Community Organizing stammenden Methode des Storytelling in lokal organisierten Care Congresses zu verallgemeinern versucht. Der von Isolation und mangelnder sozialer Absicherung geprägte Alltag ambulanter Pflegekräfte werden ebenso thematisiert wie die Nöte derjenigen, die auf dauerhafte Unterstützung angewiesen sind. Fragen der Lebensweise stehen in einem umfassenden Sinne zur Diskussion: Wie wollen wir leben, wie alt werden? Wie ist das möglich in einer Gesellschaft, in der nur ›high-performer‹ Anerkennung erfahren und ›Minderleister‹ geringgeschätzt werden? Es gelingt, Orte der Begegnung zu schaffen und eine gemeinsame Sprache zu finden, wo politische Begriffe für die eigenen Anliegen nicht zur Verfügung stehen.
Hinter Projekten wie Caring Across Generations steht die Erkenntnis, dass eine Bedingung erfolgreicher politischer Mobilisierungen darin besteht, die individualisierten Erfahrungen des Scheiterns als kollektive Probleme artikulierbar zu machen. Deshalb steht zunächst nicht der Aufbau einer klassisch linken, ›schlagkräftigen‹ Organisation im Zentrum. Transformatives Organizing zielt vielmehr darauf, soziale Situationen zu schaffen, die die Erfahrung kollektiver Handlungsfähigkeit in prekärem Gelände erst ermöglichen, um diese dann Schritt für Schritt mit einem Wissen um die gesellschaftlichen Ursachen der eigenen Situation und die Perspektiven ihrer Veränderung zu erweitern.
Neue Bündnisse: Mitte-unten
Jenseits solcher veränderter Formen linker Organisierung bietet der Care-Sektor außerdem das Terrain für wirkmächtige Allianzen. Die praktische Verbindung unterschiedlicher Klassenfraktionen anhand eines gemeinsamen Interesses ist Voraussetzung für ein transformatorisches Projekt. Die spezifische Qualität von Care-Arbeit ermöglicht auf besondere Weise die Überschreitungen sozialer Milieus: Es sind die »Motivation und Arbeitsbedingungen der einen Person, die [...] über die Lebensqualität der anderen« (Jochimsen 2002, 63) entscheiden. Diese existenzielle Verwiesenheit kann eine Grundlage neuer Bündniskonstellationen sein.
Eine in diesem Zusammenhang exemplarische Auseinandersetzung haben vor einigen Jahren Hausangestellte im Bundesstaat New York geführt und gewonnen. In einem zehnjährigen Kampf konnten sie nicht nur grundlegende Arbeitsschutzbestimmungen für Beschäftigte in Privathaushalten erstreiten – die Domestic Workers Bill of Rights –, sondern auch das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung. Das Besondere ist: Dieser historische Erfolg wurde im Bündnis mit den ›ArbeitgeberInnen‹ errungen. Die Kampagne der Domestic Workers United hat die existenzielle, zwischenmenschliche Qualität von Sorgearbeit und Sorgebeziehungen ins Zentrum gestellt. Auf dieser Grundlage und unter dem Slogan »respect the work that makes all other work possible« gelang es, im Laufe eines beharrlichen Organisierungsprozesses ein gemeinsames Interesse dieser höchst unterschiedlichen Akteure zu konstituieren: von fast ausschließlich migrantischen Haushaltsarbeiterinnen in häufig undokumentierten Arbeitsverhältnissen auf der einen und überwiegend berufstätigen Frauen aus der (überwiegend weißen) Mittelschicht auf der anderen Seite, die große Teile der Pflege und Betreuung der ihnen am nächsten stehenden Menschen an eben diese ›Nannies‹ delegierten – sie aber in der Regel zu miserablen Bedingungen beschäftigten. Ein gemeinsames Ringen um gute Arbeitsverhältnisse als gute Sorgeverhältnisse wurde – bei allen bleibenden Differenzen – zum verbindenden Moment dieser Auseinandersetzung (vgl. Poo in LuXemburg 2/2012). Ansätze für vergleichbare Mitte-unten-Bündnisse (Michael Brie), die für bessere Soziale Infrastrukturen in Pflege, Altenbetreuung oder Kindererziehung streiten, lassen sich auch hierzulande organisieren (vgl. Nowak 2010). Die Kampagne der Kita-Beschäftigten im Jahr 2009 und die in den Sozial- und Erziehungsdiensten seit April 2015 laufende Tarifauseinandersetzung weisen in diese Richtung (vgl. Seppelt in diesem Heft).
Organisationsgrenzen überwinden
Um gemeinsame Interessen zu konstituieren, gilt es, auch die Grenzen politischer Kulturen und Organisationsformen zu überschreiten. Gerade in der Verbindung verschiedener Praxen stellen sich jedoch die größten Herausforderungen: Während die Arbeiterbewegung auf eine lange Tradition der Organisierung in Gewerkschaften und Parteien zurückgreifen kann, müssen effektive Formen von Arbeitskämpfen im Care-Bereich erst entwickelt werden. Noch komplizierter ist es mit unentlohnter Sorgearbeit. Hier gibt es kaum bewährte Formen und Strukturen, ›Arbeitskämpfe‹ zu organisieren. Und doch wird allerorten deutlich, wie sehr ein unterfinanziertes System öffentlicher Daseinsvorsorge, samt seiner Folgen für dortige Arbeitsverhältnisse, und der Druck auf häusliche Sorgearbeit zwei Seiten derselben Medaille sind.
Aber auch hier entstehen Ansätze, feldspezifische Praxen produktiv zu verbinden. Ein Beispiel hierfür sind die Auseinandersetzungen um die unerträglichen Zustände in unseren Krankenhäusern. Sie zeigen, wie sich betriebliche Kämpfe mit zivilgesellschaftlichen Anliegen verschränken lassen und wie darin außerdem Ansätze gewerkschaftlicher Erneuerung entstehen. So haben 2011 die Beschäftigten der Berliner Charité in einer Tarifauseinandersetzung erstmals nicht Lohnerhöhungen, sondern die Aufstockung von Personal gefordert, und damit nicht nur ihre eigenen Arbeitsbedingungen, sondern auch die Situation der PatientInnen ins Zentrum eines Arbeitskampfes gerückt. Mit dem Slogan »Mehr von uns ist besser für alle« konnten sie auf den Personalmangel im Krankenhaus hinweisen und zugleich die Anliegen von PatientInnen und (pflegenden) Angehörigen aufgreifen. Bestand bei bisherigen Arbeitskämpfen die Gefahr, sich die PatientInnen (und die Öffentlichkeit) zum Gegner zu machen, standen hier die gemeinsamen Interessen im Vordergrund. Die Forderung nach einer festen Quote von Pflegekraft pro PatientIn hat den Streik zu einem Ringen um gute Gesundheitsversorgung gemacht (vgl. Wolf in LuXemburg 1/2013).
Rund um diese Auseinandersetzungen entstand das Bündnis Berlinerinnen und Berliner für mehr Personal im Krankenhaus, in dem nun erprobt wird, wie unterschiedliche politische Organisierungserfahrungen produktiv gemacht werden können. Es ist nicht immer leicht, die komplizierte Logik gewerkschaftlicher Auseinandersetzungen für alle Beteiligten transparent zu machen, gleichzeitig stehen gesundheitspolitische Konflikte teils quer zu betrieblichen Erfordernissen. Hier vollzieht sich ein exemplarischer Lernprozess: Wie kann eine breite Öffentlichkeit Arbeitskämpfe in einem Feld unterstützen, auf dem massiver finanzieller Druck lastet und in dem die Überlastung der Beschäftigten mit am höchsten ist? Und wie können umgekehrt betriebliche Auseinandersetzungen genutzt werden, um für eine hochwertige öffentliche Gesundheitsversorgung zu streiten?
Produktions- und Lebensweise
Die Widersprüche und Spaltungen im Verhältnis von Produktions- und Lebensweise rücken in solchen Auseinandersetzungen in den Fokus – jenseits von Mainstream-Debatten um die ›Vereinbarkeit von Beruf und Familie‹. Zwar sind Kämpfe um Erwerbsarbeit immer schon mit Fragen der Lebensweise verschränkt, selten werden sie jedoch als solche geführt, und auch im Alltagsverstand existieren sie überwiegend getrennt voneinander1. Im Care-Bereich ist der Zusammenhang offensichtlich: Nicht nur bedingen die Arbeitsbedingungen der einen die Lebensbedingungen der anderen Person; auch beschränken die gegenwärtigen Verhältnisse in der Erwerbsarbeit insgesamt die Möglichkeiten guter Sorge – im ›Privaten‹ wie im Beruf. Arbeitsverdichtung, Prekarisierung, steigende Reproduktionsanforderungen und sinkende Angebote machen Sorge und Selbstsorge häufig zum Hexenwerk. Gute Pflege können nur Menschen leisten, die nicht im ›Minutentakt‹ agieren müssen, die nicht ständig am Limit ihrer Kräfte sind und die ihren Job überhaupt nur dann zufriedenstellend bewältigen können, wenn sie täglich Überstunden machen.
Die Akteure in diesen Konflikten – viele von ihnen Frauen – verfügen über ein hohes Maß an geteiltem oder zu teilendem Wissen, können auf eigene Erfahrungen mit Reproduktionsarbeit zurückgreifen, sowohl mit deren gesellschaftlicher Abwertung als auch mit ihrer geschlechtsspezifischen Zuweisung. Im Austausch darüber kann deutlich werden, wie sehr die vermeintlich getrennten Sphären von ›Arbeit‹ und ›Leben‹, von Produktion und Reproduktion miteinander verwoben sind.