»Kinder sind unsere natürlichen Feinde. Wenn es sie nicht gäbe, so wäre die Menschheit längst in unserer Gewalt. Wir brauchen jede Stunde, Minute, Sekunde der gesamten Menschheit.« 

Die grauen Herren in »Momo« von Michael Ende Wer das Kinderbuch Momo noch kennt, weiß, dass es darin um einen Kampf um Gemeinsamkeit, Zeit und Lebendigkeit geht. Die Geschichte handelt von einem Mädchen, das gut zuhören und gut spielen kann. In Momos Welt treiben graue Herren die Menschen dazu, Zeit zu sparen und all ihr Tun der reinen Produktivität unterzuordnen. Was dabei verloren geht, ist gegenseitige Sorge und lustvolles Leben, Spielen und Arbeiten.

Auch in unserer Welt wird die Sorge um sich selbst und um andere immer schwieriger. Es findet eine doppelte Verschiebung statt: Zum einen wird Reproduktionsarbeit verstärkt marktförmig organisiert und somit kapitalistisch vergesellschaftet, und zum anderen wird die Verantwortung für notwendige Sorgearbeit reprivatisiert, wieder in die Haushalte verschoben. Die Lücken, die dadurch im Reproduktionsbereich entstehen, werden für immer breitere Teile der Bevölkerung spürbar, auch für Kinder (vgl. Dück/Fried 2015). Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, die Interessen von Kindern (wieder) in die Kämpfe um eine Aufwertung von Sorgearbeit und um eine andere Lebensweise hineinzuholen.

Feminismus und andere Kinder der Freiheit

Meist wird in feministischen Debatten die Geschichte derjenigen erzählt, die Sorgearbeit leisten. Kinder kommen weniger als Subjekte, denn als Objekte vor, die es zu betreuen gilt. So stehen Feminismus und die Interessen von Kindern in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander. Bedürfnisse von Kindern wurden und werden oft genug instrumentalisiert, um die patriarchalen Geschlechterverhältnisse fortzuschreiben, und nach wie vor sind es zum größten Teil Frauen, die bezahlte oder unbezahlte Sorgearbeit leisten (vgl. Alanen 1994; Thorne 2012). Die Anliegen von Frauen und Kindern scheinen unter den gegebenen Bedingungen also gegeneinander zu stehen, und die zunehmende Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt ging mit einer verstärkten Professionalisierung und Institutionalisierung der Kinderbetreuung einher. Dadurch haben sich Abhängigkeitsverhältnisse verändert und patriarchale Geschlechterarrangements verschoben. Die geschlechtliche Arbeitsteilung wurde allerdings nicht aufgehoben, sondern lediglich entlang von Klassenlinien neu strukturiert. Die Erfolge der bürgerlichen Frauenbewegung bedeuten, jenseits der ideologischen und rechtlichen Errungenschaften, nur für einen kleinen Teil der Frauen einen Zuwachs an ökonomischer Selbstbestimmung. Die meisten finden sich in prekären Arbeitsverhältnissen wieder, und viele Kinder und Frauen leben und arbeiten in unzureichenden Bildungs- und Betreuungsverhältnissen. 

Dennoch handelt es sich bei diesen Verschiebungen um eine Form der Vergesellschaftung von Sorgearbeit, die auch neue Möglichkeiten und politische Eingriffspunkte für eine Neuverhandlung der geschlechtlichen Arbeitsteilung und der generationalen Ordnung eröffnet. Feministische Theorie und Praxis eignen sich, um das Generationenverhältnis zu verstehen und zu verändern, gerade weil es überwiegend Frauen sind, die zur Reproduktion der generationalen Ordnung herangezogen werden. Die Ideologie der aufopfernden Mutterschaft und Häuslichkeit definierte sowohl Kinder als auch Frauen als abhängig, emotional und irrational. Nach wie vor werden Lebensentwürfe von Frauen nach ihrer Nützlichkeit für die kindliche Entwicklung befragt, und die »ohne das Kind verbrachte Zeit wird danach evaluiert, ob und wie sie in die Produktion des Kindes zurückfließt« (Hungerland 2002, 261). Gleichzeitig hat sich mit der verstärkten Frauenerwerbsarbeit das Bild des kompetenten und autonomen Kindes etabliert. Und auch wenn der neoliberale Individualisierungsdiskurs reale Abhängigkeiten eher verdeckt, ist zumindest oberflächlich ein Spielraum entstanden, der es erlaubt, Kinder und Frauen auch getrennt voneinander zu denken. Die Betonung von Selbstständigkeit und Autonomie ist jedoch mit einer Geringschätzung gegenseitiger Sorge und des Prinzips der Fürsorglichkeit überhaupt verbunden. Dies ist jedoch »nicht die Folge der Befreiung der Frau«, sondern »resultiert aus der Durchsetzung männlicher Rationalität« (Benjamin 1997, 179) und der Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Die Herausforderung besteht also weiter darin, das weiblich konnotierte Prinzip der Fürsorglichkeit aufzuwerten, ohne es an einem Geschlecht festzumachen. 

Die Suche nach den Schnittstellen von Kinder- und Fraueninteressen bietet daher die Möglichkeit, den Kampf um mehr Ressourcen und Zeit für Sorgearbeit auf eine breitere gesellschaftliche Basis zu stellen und die Verantwortung für die Lebensbedingungen von Kindern zu verallgemeinern. Gleichzeitig ist der Kampf um mehr Zeit und Ressourcen allein nicht ausreichend. Die fortbestehende Unterordnung der Erwachsenen-Kind-Beziehung unter die »Erziehungsnotwendigkeit« im Sinne der herrschenden Verhältnisse erfordert es, diese Beziehungen selbst zu verändern. Eine feministische Kritik an der geschlechtlichen Arbeitsteilung, der Marginalisierung des Reproduktionsbereichs und der Ökonomisierung von Sorgearbeit sollte eine Kritik an Form und Ziel von Erziehungsarbeit einschließen.

Kinderrechte und Kinderbilder

Kinder in den Political-Correctness-Kanon aufzunehmen, hat sich noch nicht durchgesetzt. Nach wie vor gilt es als legitim, persönlich zu entscheiden, ob jemand Kinder mag oder nicht – ein deutlicher Hinweis auf den Umstand, dass Kinder in Erwachsenenwelten keine gleichberechtigte Stimme haben. Die Auseinandersetzung mit Kindern und der Intensität ihrer Gefühle bringt die gefährlichen Erinnerungen an die eigenen Kindheitsgefühle und -versagungen – die Ohnmacht, die Lust, die Angst, aber auch die Größenfantasien und schmerzlichen narzisstischen Kränkungen – zurück. Gemeinsame Zeit mit Kindern macht uns aber auch umso bewusster, wie sehr wir uns im Erwachsenenleben den gesellschaftlichen Zwängen unterwerfen müssen, um zu überleben (vgl. Naumann 2010). 

Das Kind wird trotz erstarkter Kinderrechtsbewegung immer noch als fundamental anders als Erwachsene aufgefasst, und Kinder werden entlang von generalisierten Bedürfnissen und Entwicklungsnormen geformt, erzogen und pathologisiert. Das Kind wird zur elterlichen Investition, zum Produkt ihrer Erziehungsarbeit, und seine Perfektionierung zum narzisstischen Genuss der Eltern. Zugleich ist das Kind als Projektionsfläche Tyrann und pure Unschuld in einem, es ist natürlich, wild und verletzlich, unser Untergang und unser größtes Glück (vgl. Sünker 2010, Katz 2008). In der bürgerlichen Gesellschaft wurde die Kindheit privatisiert und institutionalisiert. Das führte nicht nur zu ihrer Romantisierung, sondern auch dazu, dass sie für viele Kinder tatsächlich eine Zeit des Spielens und Lernens ist, befreit von Arbeit und Verantwortung. Dieser widersprüchliche Luxus wurde global jedoch nur einer geringen Zahl zuteil. Die Kinder des Europas der Krise sind wieder verstärkt von Armut, Mangelernährung, Wohnungsnot und der zunehmenden Ökonomisierung sozialer Arbeit betroffen, erleben soziale Bewegungen und Selbstermächtigung, aber auch staatliche Repression. Gleichzeitig werden Kinder als zukünftiges Humankapital entlang eines einseitigen Bildungsbegriffs gefördert und überfordert. Auch in privilegierten Familiensituationen leiden sie zunehmend am herrschenden Konkurrenz- und Leistungsdruck der neoliberalen Gesellschaft. 

Die Durchsetzung von Kinderrechten hat Verbesserungen erreicht, und doch liegen Anspruch und Wirklichkeit hier noch immer weit auseinander. Gerade die Betonung der Partizipationsrechte von Kindern führt jedoch dazu, dass der Kinderrechtsdiskurs über Organisationen und Institutionen zu den Kindern selbst vordringt. Kinder leben in völliger Abhängigkeit von Erwachsenen und verfügen über keinerlei ökonomische Ressourcen. In dieser Situatoin hat die Erkenntnis, über Rechte zu verfügen, diese zu besitzen und nicht erbetteln zu müssen, ein enormes emanzipatorisches Potenzial. Die verstärkte Anerkennung solcher Partizipationsrechte von Kindern ist allerdings im Kontext neoliberaler Herrschaft eine durchaus widersprüchliche Angelegenheit. 

In institutionalisierten Partizipationsprojekten geht zumindest ein Teil des emanzipatorischen Potenzials verloren. Kinder als kompetente Subjekte anzuerkennen, führt im Kontext neoliberaler Konzepte von Selbstverantwortung und Selbstregulierung nicht automatisch zu einer progressiven Verschiebung der generationalen Machtverhältnisse (vgl. Hillebrand et al. in diesem Heft). Die Fähigkeit zu politischer Teilhabe und Handlungsfähigkeit wird nach wie vor im Rahmen der ideologischen Konstruktion des autonomen Subjekts definiert. Auch Kinder sollen nach diesem Bilde funktionieren. Formen der Partizipation werden nach dem Abbild der bürgerlichen Demokratie entworfen und weisen entsprechend dieselben Mängel und Herrschaftstechniken auf (vgl. Teamy/ Hinton 2014).

Politik von Kindern mit Kindern für Kinder

Die gesellschaftliche Linke verfügt über eine lange Tradition progressiver Kinderpolitik und einen reichhaltigen Erfahrungsschatz aus emanzipatorischen Projekten, von Kinderlä- den bis hin zu Kinderrepubliken. Pädagogik war nie nur Mittel zur Unterwerfung, sondern enthielt immer auch den Anspruch auf und die Möglichkeit für ein Mehr an Selbstbestimmung und Mündigkeit. Trotz der Marginalisierung progressiver Kräfte in der Gesellschaft wurde und wird im Bündnis von Erwachsenen und Kindern beständig versucht, gegen die alltägliche gesellschaftliche Zurichtung anzuarbeiten und der strukturell bedingten Fremdbestimmung ein Stück Freiheit abzutrotzen. Um diese individualisierten und kräftezehrenden Kämpfe zu verbinden und zu politisieren, ist die Vernetzung progressiver Kräfte innerhalb der Bildungs- und Betreuungseinrichtungen nötig. Außerdem gilt es, die aktuell artikulierten Bedürfnisse und das verallgemeinerbare Interesse an guten Lebens- und Arbeitsbedingungen im Care-Bereich weiter zu treiben. Viele Optionen sind erst durch die gewachsene Vergesellschaftung von Sorgearbeit entstanden. Und nicht zuletzt ist die aktive Beteiligung kritischer Intellektueller an den gesellschaftlichen Debatten um Bildungs- und Sozialpolitik gefordert. 

Das Ziel sollte es aber nicht sein, die von Erwachsenen geschaffenen Kinderwelten zu verändern, sondern auch die Erwachsenenwelten für Kinder zu öffnen. Dies gilt insbesondere auch für politische Räume und Initiativen, die eine aktive Partizipation von Kindern kaum zulassen. Um diese zu ermöglichen, ist allerdings eine Politik notwendig, die Handlungsfähigkeit und Autonomie nicht mit Dominanz und Allwissenheit gleichsetzt, sondern Lernprozesse ernst nimmt und zulässt – auch wenn das heißen kann, Umwege zu gehen. Erfolgreiche Kämpfe im Bereich der Reproduktion zeigen, dass die Verbindung von Widerstand und gegenseitiger Sorge Lernprozesse ermöglicht, die weit über die Grenzen und Spaltungslinien der bürgerlichen Gesellschaft hinausweisen. Die eigene Geschichte des individualisierten »Scheiterns« wird dabei umgeschrieben und politisiert, und Selbstermächtigung wird als Teil einer kollektiven Erweiterung von Handlungsfähigkeit erfahren (vgl. Dück/Fried 2015). Eben diese Räume, die es Erwachsenen ermöglichen, die eigene Bedürftigkeit in die Öffentlichkeit zu tragen, gesehen und gehört zu werden, gilt es auch für Kinder zu öffnen. »Wir müssen ihnen zuhören und ihnen erlauben zu sprechen«, sagte die neue Bürgermeisterin Barcelonas vor einem Jahr (vgl. Colau 2014). Politische Partizipation von Kindern muss aber über eine paternalistische Förderung zur Teilhabe hinausgehen, tatsächliche Mit- und Selbstbestimmung ermöglichen. »Schließlich, wenn das Leben Krallen erfordert, haben wir dann das Recht, die Kinder nur mit Schamröte und leisem Seufzen auszurüsten?« (Korzcak 1919, 206)