Sechs Jahre nach dem ersten erfolgreichen Streik 2015 für mehr Personal an der Charité, erlebten wir in Berlin erneut Proteste im Krankenhaus: Die landeseigenen Häuser Charité und Vivantes, die beiden größten Kliniken in Berlin, befanden sich für mehrere Wochen im Streik. Zusammen mit den Beschäftigten der Tochterunternehmen von Vivantes forderten sie Entlastung in den Krankenhäusern und die Bezahlung nach dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes (TVöD) für die ausgegliederten Bereiche. Nun konnten die Beschäftigten in den Kliniken von Charité und Vivantes-Mutter deutliche Siege erkämpfen. Hoffnung gibt dies all jenen Belegschaften, die selbst kurz vor Auseinandersetzungen in ihren Kliniken stehen.[1] Sie blicken gebannt auf die Kämpfe in Berlin. Es lohnt daher, nach den Kriterien des Erfolgs zu fragen, aber auch danach, warum die Kämpfe dennoch zäh und lang waren. Doch zunächst: Was wurde eigentlich erkämpft?
Coming home
Wie die Berliner Krankenhausbewegung die Streiks bei Charité und Vivantes gewinnt
Nicht nur Sieger*innen der Herzen – Personelle Entlastungen, Belastungsausgleich und Personalregelungen über die Pflege hinaus
Mit den Eckpunktepapieren bei Charité und Vivantes ist ein echter Erfolg gelungen. Besonders drei Punkte sind dabei herauszustellen: Es konnten Quotenregelungen für das Verhältnis von Pflegekraft zu Patient*innen, ein Belastungsausgleich für besonders beanspruchende Schichten sowie Personalregelungen über den Bereich der Pflege hinaus erkämpft werden. Bei den Verhandlungen um die Eckpunkte konnten beide Tarifkommissionen auf Erfahrungen mit anderen Tarifverträgen zurückgreifen.
So waren etwa in den Unikliniken Jena und Mainz bereits Regelungen gefunden worden, die einen Belastungsausgleich für Pflegende vorsehen, wenn tariflich festgelegte Personalvorgaben seitens der Krankenhausleitungen nicht eingehalten werden. In den Eckpunktepapieren von Charité und Vivantes werden diese Regelungen aufgegriffen. Auch hier wird geregelt, was passiert, wenn die vereinbarten Personalbesetzungen nicht erreicht werden, oder wenn Schichten – beispielsweise auf Grund von Gewalterfahrungen während des Arbeitens – von Beschäftigten als besonders belastend erfahren werden. Hierfür gibt es nun ein Punktesystem, das vorschreibt, ab wie vielen belastenden Schichten ein Tag Freizeitausgleich gutgeschrieben wird. Gegenüber dem ersten Tarifvertrag zur Personalbemessung an der Charité stellt dies eine grundsätzliche Verbesserung dar – denn hier fehlten solche individuellen Sanktions- und Kompensationsmechanismen. Zudem werden in der Regelung zum Belastungsausgleich auch Auszubildende und Hebammen berücksichtigt.
Darüber hinaus ist es, wie etwa in den Unikliniken Düsseldorf, Essen, Augsburg oder des Saarlandes, gelungen, die Zeiten der Praxisanleitung für Auszubildende zu erhöhen. Wichtig ist dies besonders deswegen, weil die Auszubildenden sich von Anfang an der Berliner Krankenhausbewegung angeschlossen haben – auch wenn Streiken gerade für Auszubildende nicht immer einfach ist.
Besonderes Augenmerk muss zudem auf den Sieg der Hebammen in den Eckpunkten gerichtet werden: Sie haben es geschafft, eine deutlich bessere Betreuung für Geburten durchzusetzen. Denn bisher war es nicht selten so, dass eine Hebamme drei oder vier Geburten gleichzeitig betreuen musste. Hier gibt es jetzt eine Annäherung an eine 1:1-Betreuung. Dies ist ein enormer Erfolg, der möglich wurde, weil auch die Hebammen in der Berliner Krankenhausbewegung zu den sehr gut organisierten Bereichen gehörten. Erstmals konnten damit feste Personalschlüssel für Bereiche außerhalb der Pflege erkämpft und die Versorgung durch Hebammen tariflich geregelt werden. Doch wie konnte all dies gelingen?
Die Geschichte wiederholt sich immer zweimal? – Von der Charité zur Berliner Krankenhausbewegung
Dass die Berliner Krankenhausbewegung heute Siege feiern kann, hat sie ihrem Vorläufer – dem Kampf an der Charité von 2015 – zu verdanken. Dieser hat den Weg bereitet, indem er tariflich, gewerkschaftsintern und gegenüber der Arbeitgeberseite die Kräfteverhältnisse verschoben hat.
Als die Betriebsgruppe an der Charité ihren Kampf für mehr Personal vor über sieben Jahren begann, war es das erste Mal, dass für eine tarifliche Personalbemessung gestritten wurde. Tarifvertraglich konnten die Auseinandersetzungen damals also nicht auf ein Vorbild zurückgreifen. Zudem hatte ver.di zwar erkannt, dass die personelle Unterversorgung in den Krankenhäusern ein massives Problem für die Beschäftigten darstellt. Aber die Strategie, mit der gewerkschaftlich gegen diese Arbeitsbedingungen vorgegangen werden sollte, war intern umstritten. Schließlich war auch der Widerstand der Arbeitgeberseite enorm. Einerseits weil Nachahmeffekte durch andere Häuser befürchtet wurden – die es glücklicher Weise seitdem tatsächlich gegeben hat. Andererseits wegen betriebswirtschaftlicher Bedenken. Unter Konkurrenzdruck mit anderen Kliniken sah sich die Geschäftsführung der Charité im Wettbewerbsnachteil, als einziges und erstes Krankenhaus einen Tarifvertrag abzuschließen, der in der Konsequenz zu einer Personalaufstockung (und somit höheren Kosten) führen sollte. Die Beschäftigten an der Charité mussten also in dreifacher Hinsicht neue Wege bestreiten.
Diese Bedingungen machten den Kampf für mehr Personal im Jahr 2015 zu einer besonderen Herausforderung. Dass dieser schließlich gewonnen werden konnte, zog jedoch weitere Erfolge nach sich: Mit Stand heute liegen für insgesamt 18 Kliniken abgeschlossene Regelungen für mehr Personal und Entlastung vor. Zudem ist inzwischen gewerkschaftlicher Konsens, dass sich der Kampf für eine gesetzliche Personalbemessung (die sogenannte Pflegepersonalregelung/PPR) und tarifliche Regelungen nicht ausschließen, sondern ergänzen. Ohne die Auseinandersetzungen an der Charité 2015 wäre das undenkbar. Außerdem wurde die Finanzierung der Pflege am Bett aus der Finanzierung nach Fallpauschalen herausgenommen und auf ein kostendeckendes System umgestellt. Für die Krankenhäuser schafft dies finanziell größere Spielräume, um auf Forderungen nach mehr Personal einzugehen. [2]
Betrieblich, politisch und zivilgesellschaftlich für die Entlastung – oder: Ökonomischer Druck allein reicht nicht
Der Erfolg der Berliner Krankenhausbewegung fußt – neben der Charité – auch auf vielen Lernprozessen, die seitdem in Auseinandersetzungen im ganzen Bundesgebiet gemacht wurden. Die betrieblichen, politischen und zivilgesellschaftlichen Machtressourcen konnten ausgebaut und systematisiert werden.
Um die betriebliche Organisierung und damit auch den ökonomischen Druck auf die Krankenhausleitungen zu erhöhen, wurden Strategien des gewerkschaftlichen Organizing auf betrieblicher Ebene weiterentwickelt. Im Saarland etwa, wo insgesamt 21 Krankenhäuser zu Tarifauseinandersetzungen um Entlastung aufgefordert wurden, konnten Elemente der bedingungsgebundenen Gewerkschaftsarbeit[3] eingesetzt und ausgebaut werden. Diese Elemente kamen auch in der Berliner Krankenhausbewegung zum Einsatz – hier im Anschluss an Jane McAlevey[4] als Stärketests bezeichnet. Auch Strukturen kollektiver Tarifverhandlungen, die an der Charité 2015 bereits ausprobiert wurden, konnten ausgebaut und damit die demokratische Beteiligung in den Belegschaften erweitert werden.[5]
Lernprozesse konnten auch mit Blick auf die Frage gemacht werden, wie politischer Druck entfaltet werden kann. Immer wieder hat sich in vergangenen Kämpfen gezeigt, dass ökonomischer Druck allein nicht ausreicht, um die Arbeitgeberseite zur Einigung zu zwingen. Wie in der Auseinandersetzung an der Uniklinik in Jena im Jahr 2019 hat die Berliner Krankenhausbewegung deshalb einen Zeitpunkt vor den Landtagswahlen in Berlin gewählt. Das sollte den Druck auf die verantwortlichen Parteien und Politiker*innen erhöhen.
Versucht wurde schließlich, die Unterstützung der Zivilgesellschaft stärker als Ressource für die Auseinandersetzungen zu nutzen. Schon im Vorfeld der Streiks wurden Möglichkeiten für einen gemeinsamen Austausch zwischen Stadtgesellschaft und Krankenhausbewegung geschaffen. Besonders spektakulär war in diesem Zusammenhang die Bereitschaft des Fußballteams Union Berlin, der Krankenhausbewegung ihr Stadion für eine Delegiertenversammlung zu überlassen. Zivilgesellschaftliche Unterstützung bekam die Krankenhausbewegung zudem vom Berliner Bündnis Gesundheit statt Profite, das sich mit einem Soli-Streik-Camp unmittelbar vor den Streiks an die Stadtbevölkerung richtete, eine Spendenkampagne zur finanziellen Unterstützung der Streikenden bei den Töchtern auf die Beine stellte, für die innerhalb weniger Tage über 65 000 Euro zusammengekommen sind, oder Hilfe bei Demos und Kundgebungen, wie gemeinsam mit dem Theater Volksbühne in Berlin, leistete.
Trotz dieser vielfältigen Weiterentwicklungen wurden die Kämpfe der Berliner Krankenhausbewegung schließlich zu einem zähen Ringen um die Einigung. Es brauchte 30 Tage an der Charité und 35 Streiktage bei Vivantes bis schließlich die Eckpunkte für einen Tarifvertrag Entlastung erstritten werden konnten. Warum?
Alle verlassen das sinkende Schiff – Wenn die politische Verantwortung wechselt
Die Überlegung, den Arbeitskampf in die Zeit der Abgeordnetenhauswahlen zu legen und die Berliner Landesregierung in den Wochen des Wahlkampfes unter Druck zu setzen, schien zunächst ein sinnvoller Schachzug zu sein. Insbesondere dadurch, dass alle relevanten politischen Akteure für die Auseinandersetzungen – nämlich Michael Müller als regierender Bürgermeister und als Mitglied im Aufsichtsrat der Charité, Dilek Kalayci als Gesundheitssenatorin und Matthias Kollatz als Finanzsenator – einer Partei (SPD) angehören. Zudem konnte angenommen werden, dass eine rot-rot-grüne Landesregierung gegenüber dem Druck von Beschäftigten der landeseigenen Krankenhäuser besonders empfänglich ist. Dass es schließlich nicht gelungen ist, noch vor den Wahlen eine Einigung zu erzielen, hatte nicht mit diesen grundsätzlich richtigen Überlegungen, sondern mit der spezifischen politischen Konstellation zu tun: Keine der Personen, die vor den Wahlen politisch für die Forderungen der Berliner Krankenhausbewegung verantwortlich war, war dies nach den Wahlen immer noch.
Vor allem Kollatz als scheidender Finanzsenator war – wie er öffentlich wiederholt zum Ausdruck gebracht hat – nicht bereit, eine finanzielle Zusage an die Krankenhäuser zu machen. Weder dafür, dass die (Mehr-)Kosten der Tarifverträge vom Land übernommen werden, noch dafür, dass das Land Berlin dafür Sorge tragen wird, seine landeseigenen Krankenhäuser nicht in eine wirtschaftliche Schieflage geraten zu lassen. Als Finanzsenator sah er seine Aufgabe offenbar darin, um jeden Preis für einen stabilen Haushalt in Berlin zu sorgen – und dafür auch Forderungen der landeseigenen Krankenhäuser für eine gute Gesundheitsversorgung abzuweisen. Da klar war, dass er nach der Wahl operativ nicht mehr für das Finanzressort zuständig sein würde, wollte er sein Renommee eines ‚stabilen Haushalts‘ nicht gefährden – zudem für Forderungen, die er ideologisch ohnehin nicht geteilt hat. Darüber hinaus hätte eine öffentliche Zusage der notwendigen Finanzen für die landeseigenen Krankenhäuser Kollatz nach der Wahl in eine Situation bringen können, in der er als Sündenbock für mögliche Schwierigkeiten herhalten muss – etwa dann, wenn nach der Wahl mögliche Schwierigkeiten bei der Umsetzung der finanziellen Zusage entstehen[6], oder wenn die Finanzzusagen Haushaltslücken nach sich ziehen. Alle später entstehenden Probleme hätten also auf Kollatz abgewälzt werden können, ohne dass er als scheidender Finanzsenator darin noch hätte eingreifen könnte. Sein Ansehen als ‚erfolgreicher Finanzsenator‘ im Nachhinein zu verlieren, wollte er nicht riskieren. Knapp zwei Wochen vor der Wahl schien es ihm daher offensichtlich leichter, den Druck abprallen zu lassen und die Zeit einfach auszusitzen. Auch bei Müller und Kalayci war klar, dass sie nach den Wahlen abgelöst werden.
Die SPD als Ganzes anzugreifen, wurde seitens der Krankenhausbewegung wiederum nicht versucht. Vielleicht in der Hoffnung, doch noch eine Zusage zu bekommen, oder, um es sich mit den angehenden politischen Verantwortlichen (Franziska Giffey und Rahel Saleh) nicht zu verscherzen, um die Umsetzung der Forderungen nach der Wahl zu ermöglichen.
Leider ist es auch der Partei Die Linke nicht gelungen, in dieser Situation, in der der Finanzsenator eine finanzielle Zusage blockiert hat, den Konflikt über die richtigen und wichtigen öffentlichen Unterstützungsbekundungen für die Forderungen der Beschäftigten hinaus weiterzutreiben. Trotz der Weigerung von Kollatz dominierte öffentlich die Wahrnehmung, dass es bei allen drei regierenden Parteien den Willen gibt, die Forderung der Beschäftigten umzusetzen. Um dieses Bild aufzubrechen, wäre es beispielsweise hilfreich gewesen, den Konflikt um eine Gesellschafteranweisung[7] an die landeseigenen Krankenhäuser in den Senat zu tragen, ihn dadurch zuzuspitzen und öffentlich zu politisieren. Über eine Gesellschafteranweisung hätten Vivantes und die Charité gezwungen werden können, einen Tarifvertrag zu verhandeln. Die Senator*innen aller Parteien hätten sich zu einem solchen Vorschlag verhalten müssen, wenn die Linke dies im Senat eingefordert hätte. Die Linke hätte dadurch deutlich machen können, dass sie nicht nur hinter den Forderungen steht, sondern auch konkrete Umsetzungen einfordert – die dann an den Senator*innen der SPD und/oder der Grünen scheitern. Mit der Forderung nach einer Erhöhung der Investitionsfinanzierung des Landes Berlin für die Krankenhäuser hätte ähnlich verfahren werden können. In beiden Fällen wären die Konflikte im Senat voraussichtlich an den Stimmen der SPD gescheitert. Die Koalition an dieser Stelle unter Druck zu setzen, wäre besonders leicht gewesen, weil die SPD zuvor in anderen wichtigen und schon geeinten Vorhaben (wie z.B. der Novellierung der Bauordnung oder wichtigen Teilen des Mobilitätsgesetzes) ihre Zusagen wieder entzogen und die Koalition daher ihrerseits bereits aufgekündigt hatte. Konsequent auf die Umsetzung der Forderungen der Berliner Krankenhausbewegung zu drängen, hätte der Linken nicht nur die Sympathien der Streikenden, sondern möglicher Weise auch Aufwind für die Wahl bringen können. Denn es wäre sichtbar geworden, dass es die SPD ist, die blockiert.
»Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich und dann gewinnst du.« (Mahatma Gandhi)
Wie(so) es letztlich dennoch gelungen ist, die Kämpfe zu gewinnen, müsste genauer analysiert werden. Zu vermuten sind aber drei Punkte: Als neue Bürgermeisterin konnte Franziska Giffey nicht riskieren bei einem Thema, das so viel gesellschaftlichen Zuspruch erhält wie kaum ein anderes, mit einer Niederlage in die Regierung zu starten. Um also einen ersten Giffail zu verhindern, musste eine Einigung bei den landeseigenen Kliniken her. Hinter den Kulissen wurde daher politisch auf die Geschäftsführungen Druck ausgeübt und schließlich wurden Finanzen zugesichert, die letztlich zu einer Einigung beigetragen haben. Öffentlich hat sich Kollatz nicht zu dieser Zusicherung bewegen lassen. Nach der Wahl und ohne ein öffentliches Bekenntnis gab es diese aber letztlich doch.
Hinzu kommt, dass Entlastungstarifverträge für die Krankenhäuser eigentlich keine Mehrkosten nach sich ziehen (sollten). Durch die Herausnahme der Pflegekosten aus der DRG-Finanzierung werden die Kosten für Pflegepersonal momentan vom Bund re-finanziert. Personelle Aufstockungen für die Pflege (am Bett) sind finanziell also abgedeckt. Kosten entstehen für die Kliniken allerdings also vor allem für Personalregelungen außerhalb der Pflege sowie dann, wenn die in den Entlastungstarifverträgen geregelte Personalausstattung nicht eingehalten werden kann und es Vereinbarungen dazu gibt, welche Sanktionen dann für die Krankenhausleitungen greifen – etwa, dass Betten dann nicht belegt und damit Behandlungen nicht durchgeführt werden dürfen, oder, dass belastende Situationen durch Freizeit für die Beschäftigten auszugleichen sind. Ein Tarifvertrag Entlastung kostet die Klinik daher nicht per se mehr Geld. Allerdings argumentieren die Klinikleitungen gegen die Tarifverträge Entlastung mit einem Verweis auf den Pflegenotstand, also die Tatsache, dass es aktuell einen Personalmangel in der Pflege gibt. Personelle Regelungen zu treffen, bleibt aus ihrer Sicht demnach ein wirtschaftliches Risiko. Daher drängen sie auf staatliche Zusagen, die die Mehrkosten der Tarifverträge abfedern.
Ein letzter Grund für die Einigung liegt schließlich auf der Hand: Mit zunehmenden Streiktagen steigen auch die Erlöseinbußen durch den Ausfall von Behandlungen bei Charité und Vivantes an. Zugleich ließ die gute Organisierung der Beschäftigten nicht vermuten, dass der Streik von sich aus zu einem Ende kommen würde. Den Streik über einen langen Zeitraum weiterhin eskalieren zu lassen, hätte folglich weitere finanzielle Einbußen bedeutet. Hinzu kommt, dass Charité und Vivantes letztlich auch Konkurrenten bleiben, die um Behandlungen, Erlöse und Pflegepersonal konkurrieren. Für beide Kliniken bestand die Gefahr, dass der andere einen Tarifvertrag verhandelt und dann um Pflegekräfte wirbt – was den Personalmangel in dem jeweils anderen Krankenhaus verstärken würde.[8]
Letztlich konnte die Berliner Krankenhausbewegung einen fulminanten Sieg einfahren. Dies zeigt nicht nur, dass sich Lernprozesse aus vorangegangenen Auseinandersetzungen lohnen. Es zeigt auch, dass Organisierung und Erfolg auch in Kliniken gelingen kann, die wie Vivantes zum ersten Mal einen Tarifvertrag Entlastung erkämpfen. Auf dass sich die Arbeitsbedingungen und die Gesundheitsversorgung in Berlin in nächster Zeit spürbar verbessern und viele weitere erfolgreiche Kämpfe folgen!
[1] Der Tarifvertrag der Länder ist zum 30.September gekündigt worden und bis Ende November sind hier Verhandlungen zwischen ver.di und der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) vereinbart. Schwerpunkt der Streiks im Rahmen dieser Auseinandersetzungen sollen die Krankenhäuser sein. Zugleich sind im kommenden Jahr 2022 Kämpfe in weiteren Kliniken geplant. Im Herbst/Winter sowie im kommenden Jahr ist also mit weiteren Krankenhauskämpfen zu rechnen.
[2] Ab dem Jahr 2020 werden die Pflegepersonalkosten der Krankenhäuser aus den DRG-Fallpauschalen ausgegliedert und über nach dem Selbstkostendeckungsprinzip finanziert. Das bedeutet, dass alle Ausgaben der Kliniken für Pflegepersonal in diesen Bereichen refinanziert werden. Die Ausgestaltung des neuen Finanzierungsrahmens ab 2020 war durch die gesetzlichen Änderungen im Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG) notwendig geworden. Nach jahrelangen Kürzungen haben Arbeitgeber*innen nun keinen Grund mehr, die Kostenschraube an dieser Stelle weiter zu drehen.
[3] Als bedingungsgebundene Gewerkschaftsarbeit wird eine Methode gewerkschaftlicher Organisierung bezeichnet, die eine weitere Zuspitzung von Konflikten im Betrieb an Bedingungen knüpft. Dies kann etwa einen bestimmten Organisationsgrad meinen oder – wie es in der Berliner Krankenhausbewegung etwa gemacht wurde – die mehrheitliche Unterzeichnung einer Petition über die Streikwilligkeit auf den Stationen. Diese Methode dient dem Aufbau gewerkschaftlicher Organisierung, soll zugleich aber im Prozess der Organisierung immer wieder überprüfbar und für die Kolleg*innen erlebbar machen, wie stark die Organisierung ist.
[4] US-amerikanische Organizerin, die u.a. das Buch „Keine halben Sachen“ im VSA Verlag und mit der Rosa Luxemburg Stiftung veröffentlichte.
[5] Dies wurde zugleich mit enormen gewerkschaftlichen Ressourcen unterstützt. Über 6 Monate waren dreißig Organizer*innen in den Kliniken von Charité, Vivantes und den Tochterunternehmen unterwegs, um die betriebliche Organisierung voranzutreiben.
[6] Laut EU-Wettbewerbsrecht ist es dem Land Berlin nicht möglich, die Mehrkosten zu übernehmen, die durch den Abschluss der Tarifverträge entstehen, etwa indem nur die landeseigenen Krankenhäuser bezuschusst werden. Ein Weg für eine zusätzliche Finanzierung der landeseigenen Krankenhäuser muss daher eher über eine Erhöhung der Investitionsmittel gesucht werden, um darüber indirekt die Mehrkosten für die Tarifverträge abzudecken. In jedem Fall ist klar: Das Land muss kreativ mit den rechtlichen Rahmenbedingungen umgehen und hier nach Lösungen für die Re-Finanzierung der Mehrkosten durch Tarifverträge suchen, da eine direkte Bezuschussung durch das Land als ‚Wettbewerbsverzerrung‘ rechtlich begrenzt ist.
[7] Per Gesellschafterweisungen wäre der Senat als Eigentümer der landeseigenen Unternehmen über den Aufsichtsrat in der Lage gewesen, die Geschäftsführungen von Vivantes und der Charité zum Einlenken zu zwingen. Eine Weigerung der Geschäftsführung, einer Gesellschafterweisung nachzukommen, würde eine Verletzung dienstvertraglicher Pflichten bedeuten, die eine fristlose Kündigung rechtfertigen kann.
[8] Zwar wurde von den Tarifkommissionen die Vermutung geäußert, die auch recht wahrscheinlich erscheint, dass sich die Geschäftsführungen von Charité und Vivantes in ihren Strategien mit den Streiks abgesprochen haben. Eine mögliche Allianz kann aber dennoch auch irgendwann nicht mehr halten und schließt die Konkurrenz zwischen den Kliniken trotzdem nicht ganz aus.