Denkt man an Kurdistan, erscheinen vor dem inneren Auge Menschen auf der Flucht, Anschläge und Bilder vom Kampf gegen die IS-Terrormiliz. Diese Eindrücke sind vom westlichen Medienmainstream geprägt, der meist nur dann berichtet, wenn Bomben explodieren. Kurd*innen, die selbst journalistisch arbeiten, Medien publizieren und so versuchen, die öffentlichen Vorstellungen über sich mitzuprägen, sind uns weit weniger präsent. Ohne eigene Medien hätte es die kurdische Freiheitsbewegung in den letzten 40 Jahren jedoch nicht geschafft, fortzubestehen.[1]Medien sind ein wichtiges Werkzeug in der Auseinandersetzung mit Nationalstaaten, die ihre Politik der Assimilation, Vertreibung und des Genozids verheimlichen wollen. Sie sind für eine soziale Bewegung, wie die kurdische Freiheitsbewegung eine ist, unabdingbar im Kampf um Definitionsmachtverhältnisse, also um das, was in der Öffentlichkeit gesehen wird und als Wahrheit gilt (vgl. Beck, 2017). 

Die Entwicklung kurdischer Medien hängt eng zusammen mit der Unterdrückung der Kurd*innen. Ihre Medien waren und sind ein Produkt des Kampfes um Sichtbarmachung und Anerkennung. Denn viele Nationalstaaten des Nahen Ostens mit einem kurdischen Bevölkerungsanteil versuchten einen Schleier über die Gräueltaten zu legen, die sie den Kurd*innen antaten. Im Medienmainstream der Türkei wird der Widerstand der Kurd*innen als Separatismus, Vaterlandsverrat und Terrorismus dargestellt. Allein ihre schiere Existenz stellt eine Bedrohung dar „to the state´s self defined identity“ (Bruinessen, 2000, 44). Daraus entstand für die kurdische Opposition die Notwendigkeit eigene Medienorgane zu etablieren. Trotz massiver Repression konnten sie sich bis heute halten. Wie gelingt es der kurdische Freiheitsbewegung, trotz einer starken (staatlichen) Verfolgung ihre Vorstellungen von Medien und Journalismus zu realisieren?

Der vorliegende Beitrag behandelt drei Themen in Bezug auf kurdische Medien.[2] Zuerst wird ein kurzer Blick auf ihre historische Entwicklung geworfen, die vor allem eine Geschichte der Verfolgung und des Widerstandes ist (1). Anschließend wird dargestellt, wie es die Freiheitsbewegung und andere kurdische politische Akteur*innen geschafft haben, eigene Medien zu etablieren und am Leben zu halten (2). Heute haben wir es mit einem komplexen kurdischen Mediengeflecht zu tun, das seiner Struktur nach ein nicht-staatliches, historisch gewachsenes, transnationales Netzwerk darstellt. Am Ende des Beitrages wird darauf eingegangen, was soziale Bewegungen hierzulande aus den Medienerfahrungen der kurdischen Freiheitsbewegung lernen könnten (3).

Eine Geschichte der Verfolgung 

Die Geschichte moderner kurdischer Medien ist eng mit der kurdischen Widerstands-bewegung verbunden. „Kurdish journalism finds its origins in the nationalist movement“ (1992, 221), schreibt der Kulturwissenschaftler Hassanpour, der vor 30 Jahren einen ersten Gesamtüberblick über kurdische Medienerzeugnisse gab. Die erste kurdische Zeitschrift namens Kurdistan wurde 1898 in Kairo gegründet. Sie war Organ einer aufstrebenden kurdischen Elite, die ihren politischen und ökonomischen Belangen und Forderungen Ausdruck verleihen wollte. Lange Zeit blieb die Zeitschrift und ihre Nachfolgemedien jedoch auf ein enges, überschaubares Publikum beschränkt. Erst in den 1980er Jahren entstanden, vor allem in der Türkei, kurdische Medien, die wirklich als Massenmedien zu bezeichnen sind, weil sie ein großes Publikum hatten. Die 1990 gegründete Zeitung Yeni Ülke (deutsch: Neues Land) etwa, hatte zu Höchstzeiten eine Auflage von 50.000. Diese Entwicklung fand parallel zu einem gesteigerten Aktivitätslevel der 1978 gegründeten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) statt. [3] Diese wuchs ab Ende der 1980er Jahre zu einer massenhaften sozialen Bewegung an, die über eine starre Parteiform hinausging und in allen vier Teilen Kurdistans präsent wurde (vgl. Aydin & Burç, 2021). Entgegen der westlichen Wahrnehmung, war (und ist) sie nicht nur im militärischen Bereich aktiv, sondern auch im politischen, kulturellen und sozialen. Damit stieg auch der Bedarf einer Berichterstattung über die eigenen Aktivitäten aus einer Perspektive, die nicht das Terrornarrativ des türkischen Nationalstaates und seiner Sicherheitsorgane bediente. Die Entwicklung ist dabei dialektisch zu sehen: Aufgrund des gesteigerten Kampfes um Anerkennung und Gleichberechtigung musste der türkische Staat sein über Jahrzehnte andauerndes Verbot der kurdischen Sprache und Schrift in den 1990er Jahren lockern. So wurde auch die Herausgabe kurdischer Medien erleichtert. Nichtsdestotrotz standen sie immer im Visier staatlicher Repression. Mit dem Anti-Terror-Gesetz von 1991 schuf sich Ankara ein Instrument, Publikationen zu verbieten, die aus türkischer Sicht die territoriale Integrität und Unteilbarkeit des Staates untergraben würden (Demir & Ben-Zadok, 2007, 270). Der bekannte Journalist Hüseyin Aykol (2012), der wegen seiner Tätigkeit immer wieder im Gefängnis saß, listet von 1988 bis 2012 insgesamt 66 kurdische Zeitschriften und Zeitungen auf, die in der Türkei erschienen sind, neun davon ausschließlich in kurdischer Sprache. Diese relativ große Zahl an Publikationen sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten von ihnen nach wenigen Wochen und Monaten von der türkischen Zensur unter Separatismus- und Terrorvorwürfen verboten wurden. Bei den meisten Printpublikationen handelt es sich deshalb um direkte Anschlusserzeugnisse von zuvor verbotenen Medien. Oft wurden nach einem Verbot nur der Titel und der Name der Lizenzbesitzer*innen geändert. Anschließend ging es mit einer ähnlichen redaktionellen Besetzung weiter, bis wenige Wochen später die Zensor*innen wieder mit einem richterlichen Beschluss vor der Tür standen. Und es blieb nicht nur dabei. In der Nacht des 3. Dezember 1994 wurden Bombenanschläge auf die Büros der Yeni Ülke verübt. Dabei starb der Journalist Ersin Yildiz, zwei Dutzend weitere Mitarbeiter*innen wurden zum Teil schwer verletzt. Sie stehen dabei in einer langen Reihe. Bis heute werden kurdische Journalist*innen in Ausübung ihrer Tätigkeit verletzt oder getötet. Aykol (2012) zählt drei Dutzend Medienmitarbeiter*innen, die alleine von 1992 bis 2012 ermordet wurden. Sie sind Teil der sogenannten „faili meçhul“ (deutsch in etwa: unbekannte Täter*innen). Dabei handelt es sich um tausende unaufgeklärte Morde an kurdischen und linken Oppositionellen, durchgeführt vor allem in den 1990er Jahren von semi-staatlichen Todesschwadronen und JITEM, dem Geheimdienst der türkischen Militärgendarmerie (Bozarslan, 2008).Diese Morde sind Teil einer massiven staatlichen Verfolgungspolitik, die bis heute anhält. Drei Millionen Kurd*innen wurden alleine zwischen 1984 und 1999 vertrieben, fast 8000 Dörfer, Weiler und Ansiedlungen wurden teilweise oder komplett niedergebrannt und zerstört (Bozarslan, 2001, 45). Der Menschenrechtsverein IHD spricht von bis zu 17.000 ermordeten Kurd*innen in den 1990er und frühen 2000er Jahren (CNN Türk, 2014). Die Angriffe des türkischen Militärs auf kurdische Städte in den Jahren 2015/2016 vertrieben erneut Hunderttausende Menschen, mehr als 2000 Menschen sollen bei den neuerlichen Angriffen getötet worden sein (ISDP, 2016). 

Durch diese Verfolgung wuchs auch die kurdische Diaspora in Europa weiter an. Kamen die ersten Kurd*innen noch als Arbeitsmigrant*innen, waren es ab den 1980er Jahren vor allem politisch Verfolgte und ihre Familien. Mit ihnen entwickelte sich die Idee, kurdische Medien auch in Europa zu etablieren. Die Neuankömmlinge „began to mobilize the Kurds already present in Europe for economic reasons“ (Ayata, 2011a, 145). So wuchs      insgesamt auch der Bedarf über Medien vermittelte Information in Europa. Bis heute legendär ist der erste kurdische Fernsehsender Med TV, der am 15. Mai 1995 on Air ging. Der Sender war für Kurd*innen in Europa und im Nahen Osten revolutionär. Er half dabei, die kurdische Gemeinschaft zu einer sozialen Kategorie zu machen, die Wirkung entfaltete und Menschen grenzüberschreitend miteinander verband und mobilisierte. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte – die bisher vor allem von Spaltung geprägt war –, konnten sich Kurd*innen aus allen vier Teilen Kurdistans sehen, wahrnehmen und austauschen. Es ging um kurdische Politik, Kultur und Dialekte, es wurde zu Demonstrationen und Festivals aufgerufen und mobilisiert. Und es wurde denjenigen medial gedacht, die im Kampf für ein freies Kurdistan gestorben waren. Der Sender stand ideologisch der kurdischen Freiheitsbewegung nahe, war aber für alle Kurd*innen offen und relevant. Auch wenn Abdullah Öcalan bei Med TV eine starke Präsenz hatte, fanden sich dort verschiedenste politischen Positionen und Politiker*innen wieder. 

Med TV setzte der antikurdischen Berichterstattung der Medien der Nationalstaaten des Nahen Ostens eine alternative Sichtweise entgegen, insbesondere dem türkischen Narrativ. „What Med-TV did was a virtual erosion of Turkish state sovereignty over the Kurdish population it has sought to turkify”, schreibt der Politikwissenschaftler Bokani (2017, 156). Med TV wurde zu einem zentralen Medium einer kurdischen Gegenöffentlichkeit, durchbrach damit das Informations- und Deutungsmonopol des türkischen Staates und wurde so zu einem wichtigen Werkzeug im Kampf um die Definitionsmacht. Der Sender thematisierte türkische Kriegsverbrechen und zeigte den kurdischen Widerstand in seiner ganzen Vielfalt. „Television became another battlefield of the Kurdish conflict” (Ayata, 2011b, 531). Diese Funktion haben kurdische Medien bis heute inne – egal ob online, gedruckt oder im Fernsehen. Der Krieg, der zuvor überwiegend in den Bergen Kurdistans geführt wurde, wurde nun zusätzlich zu einem medialen Krieg der Bilder.[4]

Ein transnationales Mediennetzwerk

Wie haben es kurdische Medien bis heute geschafft, in solch feindlichen staatlichen Umfeldern zu überleben? Ohne die Unterstützung durch politische Akteur*innen, würde es bis heute fast keine kurdischen Medien, geschweige denn ein ausgebildetes Mediennetzwerk geben. Westliche Finanzierungsmodelle durch Anzeigen, Verkauf und Abonnements funktionieren in Kurdistan nicht, unter anderem weil die Kaufkraft der Bevölkerung zu gering ist. Deshalb waren es schon immer Parteien und Bewegungen, wie die KDP (Kurdistan Democratic Party), die PUK (Patriotic Union of Kurdistan) oder die kurdische Freiheitsbewegung, die Medien direkt oder indirekt finanziert haben. Die politische Abhängigkeit kurdischer Medien ist Teil einer historischen Pfadabhängigkeit, die sich seit der ersten Herausgabe der Kurdistan-Zeitschrift durchzieht. Mit Pfadabhängigkeit sind geschichtliche Faktoren gemeint, die ein hohes Maß an Kontinuität in der Ausbildung neuer Medien aufweisen (vgl. Voltmer, 2013). Der wichtigste Faktor stellt die historische Unterdrückung von Kurd*innen dar, sowie ihren Widerstand dagegen. Dieser machte es notwendig, Organe zu schaffen, die über die Perspektiven und Forderungen der Parteien und Bewegungen berichteten, da es sonst keiner machte.

Es stellt sich die Frage, wie sichergestellt wird, dass kurdische Medien auch im Sinne der politischen Akteur*innen berichten, also wie Loyalität von Medienorganisationen und Journalist*innen hergestellt wird? Bei Medien, die den konservativen kurdischen Parteien wie der KDP oder der PUK, nahestehen, funktioniert es vor allem über Finanzierung und andere ökonomische Anreize, zum Beispiel in Form verhältnismäßig hoher Gehälter oder sogar über die Schenkung von Grundstücken an Journalist*innen (Taha, 2020, 99). Bei der kurdischen Freiheitsbewegung erfolgt es zwar auch über Medienfinanzierung, aber in einem viel geringeren Ausmaß als bei der KDP und der PUK, weil die Bewegung über geringere finanzielle Ressourcen verfügt und einen anderen Anspruch an Journalismus hat. Journalist*innen, die in Medien aus dem Netzwerk der kurdischen Freiheitsbewegung arbeiten, verdienen sehr wenig und nehmen zugleich hohe Risiken auf sich, zum Beispiel wenn sie direkt von der Front im Kampf gegen die IS-Terrormiliz berichten oder aus dem Kandil-Gebirge – dem „Hauptquartier“ der PKK in Südkurdistan, das fast täglich von der türkischen Luftwaffe bombardiert wird. Die Herstellung von Loyalität und Einsatzbereitschaft funktioniert in diesen Medien vor allem über eine gemeinschaftlich geteilte Erzählung davon, wie Medien im Sinne der Bewegung zu funktionieren und welche Aufgaben sie zu erfüllen haben. Eingebettet ist die (Medien-)Erzählung in einen weltanschaulichen Gesamtrahmen, dem Demokratischen Konföderalismus (vgl. Öcalan, 2012). Dieser ist bei den beteiligten Akteur*innen sehr wirkmächtig und wird nicht zuletzt von Abdullah Öcalan als Orientierungspunkt und Theoretiker geprägt. Dieser Rahmen stellt zugleich eine konkrete Utopie für eine zukünftige Gesellschaft dar, die unter schwersten Bedingungen gerade in Rojava zu realisieren versucht wird.

Aus den bisherigen Punkten wird zugleich klar: Es gibt nicht „die“ kurdischen Medien. Bei kurdischen Medien handelt es sich ihrer Struktur nach vielmehr um ein nicht-staatliches, transnationales und historisch gewachsenes Netzwerk, das über bestehende Länder- und sogar Kontinentalgrenzen hinweg existiert. Dabei ist das Mediennetzwerk der kurdischen Freiheitsbewegung transnational am weitesten verzweigt, da sie einen pan-kurdischen Anspruch hat und in allen Teilen Kurdistans und Europas über Akteur*innen verfügt, die in ihrem Sinne agieren. Die Mediennetzwerke der KDP und PUK verfügen zwar auch über transnationale Elemente, etwa Korrespondent*innen in verschiedenen Teilen Kurdistans, diese sind im Vergleich zur Freiheitsbewegung jedoch sehr viel geringer ausgeprägt. Die Mediennetzwerke bestehen aus Knoten, die grenzübergreifend miteinander in Verbindung stehen. Auch innerhalb dieser Netzwerke gibt es Hierarchien. Viele Medien sind verbunden und stehen im Austausch miteinander, sie gruppieren sich allerdings um jeweils einen zentralen Knoten, und zwar den unterschiedlichen kurdischen Parteien und Bewegungen. Die anhaltende Dominanz der politischen Akteur*innen im kurdischen Mediennetzwerk rührt auch daher, dass sie in anderen Netzwerken – etwa in militärischen – ebenfalls das Sagen haben, die wiederum das Mediennetzwerk beeinflussen können. Die Realisierung der spezifischen Erwartungen der kurdischen Freiheitsbewegung an ihre Medien erfolgt zudem, indem sie die Ausbildung ihrer Journalist*innen überwiegend selbst organisieren und staatlicher Wissensvermittlung kritisch gegenüberstehen. So können sie Einfluss auf journalistische Selbstverständnisse nehmen und ihre Weltanschauung vermitteln. 

Durch die Transnationalität des Mediennetzwerkes der kurdischen Freiheitsbewegung, ergeben sich außerdem Möglichkeiten, dem Zugriff der Nationalstaaten immer wieder zu entziehen. Diese haben durch ihre jahrzehntelange Verfolgungspolitik gegenüber den Kurd*innen ungewollt sogar zur Entstehung, Aufrechterhaltung und Stabilisierung eines solchen staatenübergreifenden Mediennetzwerks beigetragen, zum Beispiel weil sie Journalist*innen zu Flucht und Exil zwangen und diese ihre Tätigkeit im neuen Heimatland fortsetzten. 

Befragt man Journalist*innen, die bei Medien im Netzwerk der Freiheitsbewegung arbeiten, zu ihrer journalistischen Rolle, ergibt sich ein sehr aktivistisches Selbstverständnis. Es zielt darauf ab, die Situation der Kurd*innen zu verbessern – vor allem, weil sie selbst dazugehören und oft Verfolgung erlebt haben. Journalist*innen stellen ihr Wirken in eine politische und journalistische Tradition, die sich im Kampf um Anerkennung seit Ende der 1980er Jahre in der Türkei und Nordkurdistan herausgebildet hat. Damit entspricht ihr Rollenbild zugleich der Erwartungshaltung der kurdischen Freiheitsbewegung. Sie verfolgt mit den von ihr beeinflussten Medien vor allem das Ziel, Menschen in ihrem Sinne zu informieren, zu bilden und zu mobilisieren. Kurdische Journalist*innen aus dem Umfeld der Freiheitsbewegung sehen sich dabei als Teil einer größeren Bewegung und sind deshalb auch dazu bereit, für ein sehr geringes oder gar kein Gehalt zu arbeiten und lebensbedrohliche Umstände in Kauf zu nehmen. Ihr Lohn ist das Wissen, auf der „richtigen“ Seite zu stehen.

Was kann das für soziale Bewegungen in Europa bedeuten?

Die kurdische Freiheitsbewegung stellt in ihrer Beschaffenheit eine große soziale Bewegung dar. Aus ihrer Praxis lassen sich deshalb auch Lehren für andere politische und soziale Bewegungen ziehen, deren Ziel es ist, Medien jenseits des Mainstreams aufzubauen. Worin liegen nun Bedingungen für die Erschaffung erfolgreicher alternativer Medien angesichts der kurdischen Erfahrung? Sehr wichtig scheint ein eigenes Ausbildungssystem, in dem angehende Journalist*innen gemeinsam mit Akteur*innen sozialer Bewegungen erarbeiten, was Journalismus im progressiven Sinne darstellen kann. Und in dem sie gleichzeitig einen Raum haben, ihre Ideen auch zu praktizieren und zu realisieren. Im Mediennetzwerk der kurdischen Freiheitsbewegung gelten Regeln, die auf einem ganz eigenen Denk- und Wertesystem basieren. Eine staatlich-universitäre Journalist*innenausbildung könnte hier eher ein Hindernis im Aufbau alternativer Medien sein, weil dadurch herrschende Ideen (als die Ideen der Herrschenden), wie Journalismus zu funktionieren habe, in den Köpfen der Journalist*innen verankert werden. Dabei geht es weniger um technisches Wissen, als um prinzipielle Fragen journalistischer Unabhängigkeit, Neutralität, Wahrheit und den Möglichkeiten der Widerspiegelung von Realität in medialen Produkten. Wenn man den Anspruch hat, etwas Neues jenseits eines existierenden (Medien-)Systems hervorzubringen, ist die Erschaffung einer dazu kompatiblen eigenen Journalismuskultur unabdingbar. 

Um Journalist*innen jedoch im eigenen Sinne ausbilden zu können, bedarf es insgesamt einer großen zusammenhängenden Erzählung – eines Narrativs –, wie es von Abdullah Öcalan und der kurdischen Freiheitsbewegung mit dem Demokratischen Konföderalismus geschaffen wurde. In einem solchen Gedankengebäude muss Platz sein für die Entwicklung eines eigenen Journalismusverständnisses, einer eigenen Kultur, die einen Gegenpol zum real existierenden darstellt und so attraktiv für Menschen werden kann, die journalistisch aktiv sind oder es werden wollen. 

Dann können alternative Medien Teil einer konkreten Utopie werden, die in den Räumen und Rissen des bestehenden Systems, in Anlehnung an Wright (2017), „Institutionen, Verhältnisse und Praktiken“ bildet, die „die Welt, wie sie sein könnte, vorwegnehmen“ (11). Je attraktiver eine Erzählung ist, je mehr „Sinn“ sie im konkreten historischen Abschnitt stiftet, zu desto größeren Opfern sind ihre Anhänger*innen bereit, egal in welchem Bereich. Während zum Beispiel tausende Kämpfer*innen der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ auch für die Erzählung der Freiheitsbewegung ihr Leben in Rojava im Kampf gegen die IS-Terrormiliz gegeben haben, sind Journalist*innen der kurdischen Freiheitsbewegung bereit, auf hohe Gehälter und jeglichen Luxus zu verzichten. Sie glauben an den Kampf für die Utopie, als deren Teil und gelebte Realität sie sich sehen. 

Grundvoraussetzung für all das ist, dass soziale Bewegungen eine gewisse Größe erreicht haben und gut organisiert sind, damit die mit ihr entstandenen und verbundenen Medien auf Dauer existieren können. Denn die Finanzierung und Verbreitung von Medien hängt davon ab. Zudem wird beständig mediales Personal benötigt, das mit einer Bewegung sympathisiert und ihre politischen und kulturellen Leitideen verinnerlicht hat. Dies ist in gewissem Sinne eine Frage nach der Henne und dem Ei. Sind große Bewegungen Voraussetzung für erfolgreiche Alternativmedien oder braucht es große Alternativmedien, um Menschen zu informieren, zu bilden und zu mobilisieren und so die Grundlage für erfolgreiche Bewegungen zu schaffen?