Europa zittert vor den Wahlen in Frankreich, die am 7. Mai abgehalten werden. Denn ein Wahlsieg von Marine Le Pen könnte nach dem Brexit-Votum in Großbritannien im vergangenen Jahr der europäischen Union den Todesstoß versetzen und Europa schnurstracks zurück in die Vergangenheit befördern, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung jüngst befürchtete (Frankenberger 2017). Kein Wunder, dass medial alles getan wird, um den Front National (FN) als »populistische Gefahr« für das demokratische politische System darzustellen. Französische Journalist*innen und Teile des Wissenschaftsbetriebes, oftmals jene, die in Beraterstäbe der regierenden Parteien eingebunden sind, haben so in der Vergangenheit eine imense Menge an Literatur und journalistischen Artikeln produziert, welche dazu beigetragen haben, dass der FN heute im allgemeinen als Antiestablishment-Bewegung und Volkspartei, kurz »populistisch« wahrgenommen wird (Collovald 2004). Der FN ist auch das ungewollte Kind der Medien.
Sicherlich, manche Beobachter*innen verweisen nicht ganz zu Unrecht darauf, eine neue, linke Diskursstruktur innerhalb des FN entdeckt zu haben (Alduy/Wahnich 2015). Doch diese oberflächliche Betrachtung übersieht, dass es sich mehr um – durchaus wirksame – taktische Manöver einer phasenweise marginalen politischen Strömung, als um ein wirkliches politisches Angebot handelt. So sind Tarnung und Verstellung Gründungsmerkmale des FN, seit er 1972 aus der Taufe gehoben wurde.
Eine Partei mit Geschichte
Ziel war es, innerhalb des politischen Systems zu wirken, während im Inneren der Organisation weiterhin Rassisten, Faschisten und Konterrevolutionäre den Ton angaben. Der offizielle Diskurs war geprägt von wirtschaftsliberalen und antimarxistischen Positionen und richtete sich in erster Linie an kleinbürgerliche Milieus, die als das ökonomische Herz Frankreichs dargestellt wurden, denen man Bürokratieabbau und Ausschaltung der Gewerkschaften versprach (Ruffin 2014). Eine Bedingung, wollte man die bürgerlichen Milieus im Ringen um gesellschaftliche und ökonomische Deutungshoheit gewinnen.
Dieser Spagat – zwischen dem klassischen Marktliberalismus der Parteiführung und den antiliberalen und antiegalitären Positionen der »Neuen Rechten«, die ein neoliberale US-amerikanisches Regime ablehnten und eine prächristliche, streng hierarchisch aufgebaute Gesellschaft, orientiert an der „organischen“ keltischen Stammesgesellschaft, anstrebten, in der ökonomische Fragen den politischen Notwendigkeiten untergeordnet sein sollten (Dard 2011, 89) – ließ den FN in den 1970er Jahren eine Splittergruppe bleiben.
Es waren erst die Kreise um Bruno Mégret, denen es in den 1980er Jahren gelang, die Respektabilität des FN zu steigern und ihn aus der Schmuddelecke zu holen. Sie hoben einen wissenschaftlichen Beirat aus der Taufe, der dabei half, die Rechte argumentativ mit fremdenfeindlichen Law-and-Order-Positionen auszustatten und diese als objektiv erscheinen zu lassen. Ebenso begannen sie, Strukturen zur Qualifizierung der Parteimitglieder aufzubauen, um auf diesem Wege den Aktivist*innen ihren rechten Verbalradikalismus auszutreiben. Damit sollte mittelfristig der Weg zur Macht geebnet werden. Bereits 1986 verzeichnete man erste Erfolge, als zum ersten Mal eine FN-Fraktion in die Nationalversammlung einzog. Nur ein kleiner Teil der gewählten Abgeordneten hatte eine rechtsradikale Vita vorzuweisen (Dézé 2012, 75ff).
Demzufolge hatten die großbürgerlichen ENA-Absolvent*innen, die vor ihrer Zeit beim FN erst in gaullistischen und rechtsliberalen Parteien Karriere gemacht hatten, eine Scharnierfunktion inne. Sie zeigten, dass der FN nicht gewillt war, eine Partei für gesellschaftliche Außenseiter zu sein, wie gerne kolportiert wird. Dementsprechend sah auch das programmatische Angebot aus. Entstaatlichung sämtlicher Bereiche der Volkswirtschaft und der Sozialsysteme und die Beschränkung des Staates auf unmittelbare Ordnungsfunktionen. Darüber hinaus träumte der FN weiterhin von der politischen Kaltstellung der Gewerkschaften. Man sparte aber auch nicht mit Demagogie. So forderte man tatsächlich den Ausbau basisdemokratischer Mitbestimmung in Form von Referenden und die Stärkung der Rechte des Parlaments auf Kosten von Präsident und Regierung. Nur machten derartige Forderungen wenig Sinn, da gleichzeitig der Kampf gegen die politische und gesellschaftliche Gleichheit das alles bestimmende Grundmotiv der radikalen Rechten blieb. So sollten alle demokratischen Strukturen im Bildungssystem, im öffentlichen Dienst aber auch in der Privatwirtschaft durch hierarchisch strukturierte Funktionsmechanismen ersetzt werden (Le Pen 1985).
Die ›postsowjetische‹ Wende – die radikale Rechte auf der Suche nach dem »starken Staat«
Dennoch, es war auch Mégret, der versuchte, Arbeitermilieus mehr und mehr an den FN zu binden, indem ab den 1990ern Globalisierung und Massenarbeitslosigkeit in die Agitationsstrategien einbezogen wurden. Der ›starke Staat‹ sollte jetzt, nach dem Niedergang der Sowjetunion, nicht mehr vor dem Kommunismus schützen, sondern die »Wiedergeburt unserer Zivilisation«, also die Bewahrung der eigenen Identität, ermöglichen (VISA 2012, 4). FN-nahe Gewerkschaften, die Ende der 1990ziger Jahre aufgebaut wurden, sollten dabei helfen eine organisatorische Verankerung der Partei jenseits bürgerlicher Milieus zu schaffen. Ihnen war allerdings kein Erfolg beschieden, kritisierten sie doch die eigentliche Aufgabe von gewerkschaftlicher Aktivität, den Aufbau von innerbetrieblicher Gegenmacht (Schmid 1998).
Genau diese Strategie übernahm Marine Le Pen, als sie 2011 den Parteivorsitz übernahm. Eine Politik der scheinbaren »Entradikalisierung« auf allen Ebenen, um in allen Bevölkerungsschichten punkten zu können, ohne den Kern der Zielsetzungen der radikalen Rechten aufgeben zu müssen. Sie stehe für eine »Politik des sozialen Mehrwerts, schrieb sie in ihrem Buch »Contre Flots« (Le Pen 2011). Die Aufgabe eines starken, national handlungsfähigen Staates sei es, die soziale Not zu beseitigen, wozu protektionistische ökonomische Strukturen (VISA 2012, 4) geschaffen werden müssten.
Allerdings bot der FN und Marine Le Pen den Lohnarbeiter*innen schon im Wahlprogramm 2012 wenig an konkreten sozialen Verbesserungen an. Zwar sollten Preise für Gas und Benzin eingefroren werden. Dagegen kam der Mindestlohn nicht einmal zur Sprache und die öffentliche Wohnraumversorgung sollte vollends privatisiert werden (Hayot 2014). Statt einer Forderung nach mehr Steuergerechtigkeit, lagen für den FN sämtliche Entlastungspotenziale des Staatshaushaltes im Stoppen der Migration und der Beseitigung von Betrugsstrukturen in den Sozialversicherungssystemen. Hier sah der FN Sparpotenziale von angeblich 54 Milliarden Euro. Diese sollten dann in Form von Steuersenkungen den französischen Klein- und mittelständischen Betrieben zugute kommen, die den Dreh und Angelpunkt der nationalen Reindustrialisierungspolitik des FN bildeten – freilich ohne die Beteiligung der Gewerkschaften, die, in den Augen der Frontisten, immer noch nicht bereit waren, sich an der korporatistischen nationalen Produktionsgemeinschaft zu beteiligen und deshalb ersetzt werden müssten durch Standesorganisationen. Auch massive Repression gegenüber Erwerbslosen durch die Arbeitsagenturen waren vorgesehen (VISA 2012, 13ff).
Gegenwärtig spielt die Arbeiterklasse zwar eine große Rolle in den Reden und Artikeln über den FN, deren explizite Interessen spielen jedoch in den konkreten Programmen des FN keine Rolle. Verschwunden sind auch die Forderungen nach »Mehr Demokratie« aus den 1980er Jahren. Im Mittelpunkt von allem steht die ›Nation‹. Die Stärkung der nationalen Souveränität Frankreichs diene nicht nur zur Stabilisierung der inneren Verhältnisse, sondern auch der Stärkung ›französischer Werte‹ in der Welt, die sowohl kulturelle als auch politische Fragen umfassen und der Dominanz der USA ein Ende bereiten sollen.
Alles andere verblasst zum Nebenwiderspruch und muss durch harte autoritäre Maßnahmen auf Linie gebracht werden. So sollen im Bildungssystem demokratische Beteiligungsstrukturen durch Disziplinarkommissionen ersetzt werden. Darüberhinaus sollen die Bildungsinhalte grundsätzlich das Ziel haben, die Unterordnung unter eine einseitig definierte, vermeintlich gemeinsame Identität ins Zentrum zu stellen, anstatt die kritische Reflexionsfähigkeit der Schüler*innen zu fördern (VISA 2017). Denn nur eine gemeinsame Geschichte, Kultur und Sprache ermöglichten das Zusammenleben und die Herausbildung einer eigenen tragfähigen Basis, auf der eine Gesellschaft funktionieren könne, wie Le Pen es während der Hauptrede im Rahmen der Sommeruniversität des FN in Fréjus Mitte September 2016 sinngemäß formulierte, und dabei implizit migrantische, muslimische Milieus ausschloss.
Das alles bedeutet nicht, dass der FN sich nicht zu wirtschaftspolitischen und sozialen Fragen äußern würde. So machte Marine Le Pen im Sommer 2016 in einem Interview in der extrem rechten Wochenzeitung Valeurs actuelles deutlich, welche Wünsche der FN für die nächste Legislaturperiode habe: das Renteneintrittsalter erhöhen, die 39-Stunden-Woche wieder einführen, die Anhebung des Mindestlohnes soll nicht von den Unternehmen, sondern durch eine Importsteuer finanziert werden, deren Durchsetzung innerhalb der EU-Institutionen mehr als unwahrscheinlich wäre. Letzteres ist umso interessanter, da der traditionalistische Flügel der Partei, der sich um Marine Le Pens Nichte Marion gruppiert, einem EU-Austritt inzwischen kritisch gegenübersteht (VISA 2016: 15).
Umverteilt wird nach ›oben‹ und in die eigene Tasche
Auf der Ebene der regierten Gemeinden ist die klare antisoziale und wirtschaftsliberale Orientierung der Partei ohnehin am besten sichtbar. Dort ist das große Ziel, die uralte Forderung des FN nach rigoroser Steuersenkung für die Mittelklassewähler*innen durchzusetzen. Dies führt dazu, dass städtische Subventionen für soziale Aufgaben rücksichtslos gekürzt werden.
Besonders betroffen sind davon Erwerbslose und einkommensschwache Familien, denen die Sozialtarife in den Schulkantinen gestrichen wurden und deren Kindern in der Folge rücksichtslos der Zugang zum Schulessen verwehrt wurde. Ebenso kürzten die FN- Bürgermeister ihren Schulen Mittel zur Anschaffung von Lehrmaterialen um mehr als ein Viertel. Bisher kostenfreie nachschulische Betreuungsangebote wurden kostenpflichtig. Und da der FN es nicht für eine gemeinwohlpflichtige Aufgabe hält, kommunale Sozialpolitik zu finanzieren – laut dem Bürgermeister von Mantes-la-Ville, Cyril Nauth, eine fast schon »kommunistische Angelegenheit« –, geht es den Sozialzentren an den Kragen, die in der Folge Personal entlassen mussten (VISA 2016, 33ff). Dieses Vorgehen ist besonders zynisch, sind diese Zentren doch oftmals Anlaufpunkte gerade für junge Menschen, die sonst auf der Straße sich selbst überlassen wären und dann dort als jene ›Störung der öffentlichen Ordnung‹ wahrgenommen würden, welche die Frontisten an anderer Stelle so gerne kritisieren.
Marc-Etienne Lansade, FN- Bürgermeister im südfranzösischen Cogolin, gelegen an der Côte D`Azur, brüstet sich sogar damit, dass seine kommunalen Bauprojekte »keinerlei soziale Merkmale« aufweisen. Im Gegenteil, der Ex-Immobilienmakler plant »seine« Gemeinde zum touristischen Tummelplatz für Wohlhabende auszubauen, auf Kosten von Ferienunterkünften für die untere Mittelklasse. So schweben dem Immobilienmakler ein millionenschwerer Umbau des Hafens und die Beseitigung eines Campingplatzes zugunsten hochpreisiger Ferienappartements vor, der sich allerdings in bester Strandlage befindet, ein ›Filetstück‹ sozusagen. Und zwar auf Kosten eines durch diese Projektentwicklungen schon jetzt stark überschuldeten Haushaltes. Es gibt deshalb nicht wenige, die Lansade unterstellen, aus persönlichen Interessen heraus das Amt des Bürgermeisters angestrebt zu haben (Destal 2016).
Auch in Fréjus lässt Bürgermeister Racheline, immerhin designierter Wahlkampfleiter Marine Le Pens, keinen Zweifel daran, mit wem die Stadtverwaltung unter seiner Führung gerne Geschäfte macht. Nämlich mit den alten politischen Freunden aus der rechtsradikalen Szene, allesamt in der Werbe- und Finanzbranche tätig; ihnen werden bevorzugt öffentliche Aufträge zukommen gelassen (Turchi 2014).
Wenn es also ums Geld geht, halten es die Saubermänner und -frauen des FN nicht viel anders, als die in Frankreich tatsächlich ziemlich korrupten Vertreter*innen der sozialdemokratischen und konservativen Parteien. Man versucht sich zu bereichern. Allen voran praktiziert das der Le Pen-Clan höchst selbst. Schließlich soll der Millionenerbe Le Pen senior schon immer »verrückt geworden sein«, sobald das Thema Geld angesprochen wurde. Verständlich, schließlich ist das System FN ein Privatunternehmen der Familie Le Pen, die es in den letzten gut 30 Jahren relativ erfolgreich geschafft hat, ihre Rendite aus der Partei zu ziehen. So wurden Erbschaften, die der Partei vermacht wurden, einfach in die Taschen der Le Pens umgeleitet und mithilfe von Mikroparteien (wie »Jeanne«) Spendengelder in Parallelhaushalten verwaltet und nur bei Bedarf an den FN weitergeleitet (Turchi 2016). Letzter offensichtlicher Interessenkonflikt, in dem noch eine endgültige Entscheidung aussteht, ist der Vorwurf, dass Gelder der Mikropartei Jean-Marie Le Pens zum Kauf einer Immobilie von der Familie missbraucht wurden (Delattre/Labbé 2016). Die Vermögenswerte im Immobiliensektor über die die Familie Le Pen verfügt, dürften im Millionenbereich liegen. Das ist problematisch, wenn man sich als Vertreter*in der ›kleinen Leute‹ darstellen möchte, weshalb Marine Le Pen in ihrer offiziellen Vermögensauskunft den Wert des familiären Vermögens um fast zwei Drittel schrumpfen ließ – und den Verlust des passiven Wahlrechts für etliche Jahre riskiert (Le Monde 2016).
Marine Le Pen änderte die Vorgehensweise ein wenig und ließ, ähnlich wie Racheline, ihre alten ultrarechten Studienkollegen[i] an ihrem Aufstieg zur Parteichefin finanziell partizipieren, die sogenannte GUD connection entstand.