Sonntag, 4. Februar 2024. Die erste Welle der laut dem Protestforscher Dieter Rucht größten Protestmobilisierung in der Geschichte der Bundesrepublik ist über das Land geschwappt. Von Nord nach Süd, von West nach Ost. Zunächst wurden in den Großstädten Teilnehmendenzahlen erreicht, von denen vergangene Demonstrationen gegen die extreme Rechte nur träumen konnten. Es folgte eine mindestens ebenso erstaunliche Mobilisierung in Klein- und Mittelstädten. 

Am selben Tag streift ein Team des schweizerischen Fernsehens durch die Straßen der sächsischen Kleinstadt Grimma. Sie führen viele Interviews: mit dem lokalen AfD-Landtagsabgeordneten, einem klaren „Flügel“-Mann und Höcke-Anhänger, mit dem Oberbürgermeister, der an diesem Wochenende mit 100 Prozent zum Spitzenkandidaten der Freien Wähler bei der Landtagswahl gekürt wird und in seiner Bewerbungsrede fast keinen rechtspopulistischen Punkt auslässt. Mit dem Dönerladen-Besitzer aus Aserbaidschan, der seit DDR-Zeiten hier lebt und mit einem jungen FDP-Mitglied, das sich gegen die marschierenden Querdenker positioniert hat und es aktuell gegen die AfD und Co. tut. Mit Jugendlichen, die trinkend der unentrinnbaren Langeweile entfliehen, mit ebenfalls trinkenden Frauen auf dem Marktplatz, die beklagen, dass es in Grimma fast nur noch Ausländer gebe (real sind es rund fünf Prozent) und mit zwei Jugendsozialarbeitern, die ein selbstverwaltetes Jugendzentrum schaffen.

An diesem Sonntag wollen die Journalisten vor allem Bilder einfangen vom ersten Herüberschwappen der Protestwelle in die sächsische Kleinstadt. Ab 14 Uhr will das Aktionsbündnis „Grimma zeigt Kante“ ein dreistündiges Programm gegen Rassismus und gegen die extreme Rechte auf die Bühne bringen. Die erwartete Teilnehmendenzahl wurde gegenüber dem Ordnungsamt auf 200 geschätzt. Letztlich ist der Marktplatz trotz des miserablen Wetters gut gefüllt, nach ersten Schätzungen sind 500 Menschen gekommen, die Polizei spricht später von 750 Demonstrierenden.

Ein Erfolg gegen rechts?

Ein Erfolg also? Zweifellos. Zumal auch in anderen Städten des Kreisgebietes in diesen Tagen ähnliche Aktionen mit guter Beteiligung stattfinden. Die Stimmung ist gelöst, fast fröhlich, die Sprechchöre laut und entschlossen: „Alle zusammen gegen den Faschismus!“ Die Redner*innen, darunter der junge Autor Jakob Springfeld, erhalten ausnahmslos starken Beifall. Dieses Bild prägt dann auch den langen Magazinbeitrag des SRF.

Er zeigt aber auch andere Bilder. In einer Ecke des Marktplatzes haben die „Freien Sachsen“, zugleich rechte Konkurrenz und Partner der AfD, eine Mahnwache angemeldet. Knapp 20 meist ältere Personen scharen sich um deren Landesvorstandsmitglied Rainer Umlauft, Gastwirt in einem Ortsteil von Grimma. Um sie herum streifen nach kurzer Zeit fast doppelt so viele Neonazis, deutlich jünger, die meist aus Ortsteilen oder Nachbarstädten angereist sind. Sie wollen nicht mahnen, sie wollen drohen. Das merkt eine größere Gruppe Migranten, die auf dem Weg zu „Grimma zeigt Kante“ an ihnen vorbeimuss. Nur die Polizei kann einen Angriff auf sie verhindern und fordert sicherheitshalber Verstärkung an. Ein bekannter rechter Streamer und ein Fotograf, früher bei den Jungen Nationalisten und jetzt im Umfeld völkischer Siedler, verstärken die Drohkulisse. Auch hier greift die Polizei so besonnen wie entschieden ein. Die Veranstaltung endet ohne Störungen. Ein Zeichen ist gesetzt, die Berichterstattung positiv, der Rücken der Demonstrierenden (für eine Weile) gestärkt.

Ein Erfolg also. Jedoch ein relativer. Die für eine Kleinstadt mit gut 20 000 Einwohnern beachtliche Zahl konnte nur erreicht werden, weil es spürbare Unterstützung aus der nahen Großstadt Leipzig gab. Auch aus den Nachbarorten waren zahlreiche Menschen gekommen. Bei den Teilnehmenden aus Grimma handelte es sich mehrheitlich um die „üblichen Verdächtigen“. Neue Zielgruppen wurden nur eingeschränkt erschlossen. Ein einziger Stadtrat aus dem durch Wählervereinigungen dominierten Gremium, ein junger Vertreter der LINKEN, war in der Menge auszumachen. Zwar sprach bei der Kundgebung ein Pfarrer, doch die Honoratioren der Stadt fehlten ebenso wie die Vorsitzenden der örtlichen Vereine, die Handwerker und Geschäftsleute.

Rechts, wo die Mitte ist

Ja, das Bürgertum, die „Mitte der Gesellschaft“, sie sind nicht nur in Grimma deutlich nach rechts gewandert. Sie sind diesen Weg gegangen, weil sie sich davon Vorteile versprechen. Und sie werden ihn weitergehen, wenn diese Vorteile weiterhin locken. Die Bauchschmerzen der Grünen sind inzwischen notorisch. Natürlich habe auch ich Bauchschmerzen, wenn der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) bei einer Kundgebung gegen die extreme Rechte spricht. Ich besänftige diese Bauchschmerzen in der Regel durch eine Unterscheidung: Kretschmer oder auch Bundeskanzler Olaf Scholz sind sicherlich meine politischen Gegner; die AfD aber ist mein politischer Feind, ist Gegnerin der Demokratie insgesamt. Das zweite Heilmittel gegen die Bauchschmerzen: dass die gemeinsame Teilnahme an einer Kundgebung natürlich nicht bedeutet, dass jegliche Kritik an den anderen Teilnehmenden eingestellt wird, auch nicht bei der Kundgebung selbst. Die Darstellung der eigenen Positionen muss stets möglich sein. 

Zum „Kampf gegen rechts“ gehört eben auch, die nach rechts gerückte Mitte zurückzuholen. Was in Grimma an diesem Sonntag nur in Ansätzen gelang, klappte in anderen Orten besser. Natürlich ist es ein Signal, wenn der Landrat des Kreis Mittelsachsen, der einzige nicht der CDU angehörende Landrat in Sachsen, auf einer Kundgebung deutlich Worte findet. Das ermuntert jene, die sich bisher noch zurückhalten, ebenfalls Gesicht zu zeigen. Es ist Ansporn für die Organisator*innen der Proteste, die dadurch einen offiziellen Widerhall spüren. Und die 750 Menschen auf dem Marktplatz von Grimma sind zugleich ein Zeichen an den Oberbürgermeister und die Honoratioren der Stadt, dass nicht nur eine zu vernachlässigende Minderheit demonstriert. Es gilt Druck aufzubauen, über diesen einen Tag hinaus.

Die Mehrheit zurückgewinnen – praktisch und vor Ort

Als am 8. Februar, vier Tage nach der Kundgebung, die gleichen Organisator*innen zu einem Protest gegen eine AfD-Veranstaltung im Rathaussaal mit dem Landesvorsitzenden Jörg Urban riefen, kamen aber gerade einmal zwei Dutzend Menschen. Bei der AfD waren dagegen deutlich mehr Personen anwesend.

Der Vorgang macht mehrere Dilemmata deutlich. Die Protestwelle wird nur dann erfolgreich sein, wenn sie sich verstetigt, quasi zu einem „Protesthochwasser“ wird. Sie wird nur dann erfolgreich sein, wenn sie alle Teile des Landes – also auch die Provinz! – gleichermaßen erreicht. Sie wird nur dann erfolgreich sein, wenn sie auch die bisher Gleichgültigen erreicht. Und vor allem wird sie nur dann erfolgreich sein, wenn dieser erfreulich und überraschend große „Aufstand der Anständigen“ seine Entsprechung in einem „Aufstand der Zuständigen“ findet. Das ist wichtig in den Großstädten, aber es ist unverzichtbar in der Provinz. Dort, wo noch besonders intensiv danach geschaut wird, wie sich Bürgermeister und Honoratioren verhalten. Stehen diese abseits oder diffamieren gar den Protest, erschwert das die Arbeit deutlich. Übernimmt dieser Personenkreis die Themen und inhaltlichen Setzungen der AfD, wie der Oberbürgermeister von Grimma, werden die Hürden zum Erfolg nochmals höher.

Das kleine Grimma mit seinen gut 20.000 Einwohnern ist wie ein Vergrößerungsglas, durch das man die Probleme im großen Freistaat Sachsen besser erkennen kann. Hier wird permanent darüber gesprochen, dass die AfD bei der Landtagswahl im September stärkste Partei werden könnte. Es wird aber kaum darüber gesprochen, wie das – am besten gemeinsam – verhindert werden kann. Stattdessen wird monoton die Geschichte vom Hufeisen wiederholt, wonach die politischen Extreme sich nahe seien und gleichermaßen bekämpft werden müssten. Stattdessen redet der CDU-Ministerpräsident mit allen rechten Protestierenden, egal wer den Protest organisiert. Aber er diskutiert nicht nur mit ihnen, er bestärkt sie faktisch in ihren Ansichten. Und natürlich eifert ihm nahezu die gesamte CDU – von wenigen löblichen Ausnahmen abgesehen – nach. Die Einsicht, dass die AfD nicht von rechts überholt werden kann, ist nicht vorhanden. Und es steht nicht zu erwarten, dass sie noch rechtzeitig vor der Wahl kommen wird. Die CDU steht damit nicht allein. Auch das Spitzenpersonal der Freien Wähler, die sich bereits als kommende Regierungspartner der AfD sehen, versucht diese zu imitieren.

Den Kulturkampf aufnehmen

Ich höre bereits wieder die Stimmen, die fordern, man müsse „die AfD inhaltlich stellen“. So wie sie in diversen Talkshows aktuell „inhaltlich gestellt“ wird? Habt ihr schon einmal probiert, Schmierseife an die Wand zu nageln? Natürlich müssen wir als Linke eigene Themen setzen und stark machen. Aber das ist leicht gesagt, wenn diese Themen in der Öffentlichkeit und den Medien gerade kaum eine Rolle spielen. Natürlich ist die soziale Frage das Kernthema der Linken. So wie der Antifaschismus zu ihrer DNA gehört. Natürlich sind die sozialpolitischen Forderungen der LINKEN notwendig und richtig. Aber ich bezweifle stark, dass damit potenzielle Wähler*innen der AfD zu erreichen sind. Es bringt bei dieser Klientel nichts, dezidiert nachzuweisen, dass die wirtschafts- und sozialpolitischen Positionen der AfD ihnen nicht nützen, sondern deutlich schaden. So verrückt es klingt: jede Forderung aus linken und liberalen Kreisen nach einer geschlechtergerechten Sprache hat bei dieser Klientel mehr Wirkung als gut belegte Darlegungen zur Sozialpolitik. Anders lässt sich die bizarr verzerrte Wahrnehmung der Fakten nicht erklären. 

Die Linksfraktion im Sächsischen Landtag hat Dutzende von Anträgen und Gesetzesinitiativen im Bereich der Sozialpolitik eingebracht. Das Thema „Gendern“ dagegen spielte nahezu keine Rolle. Trotzdem herrscht in weiten Teilen der Öffentlichkeit der Eindruck, die LINKE kümmere sich nur noch um „woke“ Themen. Eine alte Regel der Kommunikationswissenschaft besagt, dass nicht entscheidend ist, was der Sender tatsächlich sagt und meint, sondern was beim Empfänger ankommt. Die „Störsender“ (CDU, FDP, AfD, „Alternativmedien“ etc.) sind offenbar so stark, dass nur noch ein stark verzerrter Empfang möglich ist. Die erste Reparaturmöglichkeit besteht darin, die Botschaft noch deutlicher zu verbreiten als bisher, unter Einplanung der Störungen. Die zweite darin, die Störenden möglichst effektiv an der Störung zu hindern. Um das zu bewerkstelligen, müssen wir als Linke zuallererst verstehen, dass wir es bei der aktuellen Auseinandersetzung wesentlich mit einem Kulturkampf zu tun haben.

Die extreme Rechte lernt – und wir?

Die extreme Rechte hat von anderen Ländern gelernt, dass der Weg zum Erfolg über genau diesen Kulturkampf führt. Die intellektuelle „Neue“ Rechte in Frankreich hat seit dem Beginn der 1960er Jahre an Strategien gefeilt, um die „kulturelle Hegemonie“ zu erringen. Diese fanden teilweise ihren Niederschlag in den politischen Parteien. 

Der Aufschwung des französischen Rassemblement National hängt ursächlich mit den Massendemonstrationen „Manif pour tous“ gegen die gleichgeschlechtliche Ehe vor zehn Jahren zusammen. Das sogenannte „Vorfeld“, die intellektuellen Agitatoren der „Neuen“ Rechten, sorgen dafür, dass solche Themenfelder argumentativ weiter unterfüttert werden. Jedes Menetekel einer „woken Ideologie“, das an die Wand gemalt wird, hatte mehr Wirkung als der Hinweis, dass alleinerziehende Mütter, Kinder oder Rentner besonders unter der Programmatik der extremen Rechten zu leiden hätten. Ein Blick auf den französischen Buchmarkt zeigt, dass dort aktuell mehr als ein Dutzend Werke teils von renommierten Verlagen erscheinen, die sich gegen „Wokeness“ richten. Eine Reihe von Zeitschriften in der Grauzone zwischen Konservatismus und extremer Rechten übernimmt diese Inhalte und publiziert Interviews mit den Autor*innen. Private Rundfunk- und Fernsehstationen flankieren diese Themensetzung. Popularisiert wird sie durch Aktivist*innen in diversen sozialen Medien.

Noch ist dieses konzertierte Vorgehen in Deutschland weniger ausgeprägt. Noch. Aber das ändert sich bereits und wird sich noch stärker ändern. Das zeigt etwa das gerade neu erschienene Buch „Der neue Kulturkampf“ der Frankfurter Islamwissenschaftlerin Prof. Susanne Schröter.  Die Autorin ist eine der Initiator*innen der konservativen „Denkfabrik R21“ und stellvertretende Vorsitzende der universitären Pressure Group „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“. Erschienen ist der Band im angesehenen Herder-Verlag.

Brandmauern, Brandstifter und Feuerwehr

In diesem Bereich der Ideologieproduktion existiert keine Brandmauer; dort tummeln sich die Brandstifter und behaupten, sie seien die Feuerwehr. Der unionsnahe Thinktank „Studienzentrum Weikersheim“ ist demgegenüber bedeutungslos, der „Bund Freiheit der Wissenschaft“ aufgelöst. Die oben genannten Gruppen sind an ihre Stelle getreten, arbeiten an einer Radikalisierung des Konservatismus, an der Erschließung neuer Themenfelder, an Strategien zu Erringung der kulturellen Hegemonie – und an Grenzüberschreitungen in Richtung der extremen Rechten. Was bisher fehlt, ist eine konsistente linke Gegenstrategie. Das wiederum ist eine zentrale Ursache des gegenwärtigen Dilemmas.

Denn diese Ideologieansätze bestimmen den öffentlichen, tagtäglichen Diskurs. Die Vermittlung in das Alltagsleben hat funktioniert. Auch wenn die Linke unverdrossen erklärt, es handele sich nicht um reale Probleme, sind Probleme dann real, wenn sie von einer hinreichenden Menge Menschen als real wahrgenommen werden. Der Pflegenotstand ist real, die Altersarmut ist real, die Kinderarmut ist real, die chronische Unterfinanzierung der Infrastruktur ist real – aber sie spielen in der öffentlichen Debatte kaum eine Rolle. Diese Themen stark zu machen bleibt richtig und wichtig. Doch wenn gerade Karos modern sind, wird jeder Modemacher, der nicht zugleich die Medien beherrscht, mit dem Versuch scheitern, gestreifte Sakkos zu vermarkten. Das bedeutet, dass wir als LINKE nicht nur über politische Inhalte, sondern viel stärker auch über die Formen der Vermittlung, das Framing und neue Wege der Kommunikation nachdenken müssen, die über das enge politische Feld hinausreichen. 

Sind die Demonstrationen also sinnlos? Natürlich nicht. Sinnlos ist nur der Versuch, ihren Erfolg am Rückgang der Umfragewerte für die AfD zu messen. Sie sind ein unverzichtbarer Schritt, in die Gegenoffensive zu kommen. Denn ja, wir sind tatsächlich mehr. Aber das wird nur dann langfristige Folgen haben, wenn auf den ersten Schritt die Entwicklung einer Strategie folgt. Natürlich ist das faktische Scheitern des Demokratiefördergesetzes ein Rückschlag. Aber wie sagte Esther Bejarano richtig: „Wer gegen Nazis kämpft, kann sich auf den Staat nicht verlassen.“ Ich plädiere deshalb für den neuen Anstoß einer Strategiedebatte – in den Wissenschaften, den Medien und der Zivilgesellschaft, in den Parteien und in der LINKEN. Eine antifaschistische Strategiedebatte, versteht sich. Sie muss die Praxis auf der Straße ergänzen. Denn niemand gewinnt diesen Kampf allein.