Am 6. November 2016 wurde von den YPG-geführten Demokratischen Kräften von Syrien (SDF)  die Operation »Zorn des Euphrats« ausgerufen, um Raqqa vom »Islamischen Staat« zu befreien. In der ersten Phase wurden Gebiete rund um Raqqa eingenommen. Auf diese folgten drei weitere Phasen, in denen Gebiete wie at-Tabqa, die Schnellstraße zwischen Raqqa und Deir ez-Zor und wichtige Dörfer zu allen vier Seiten der Stadt eingenommen wurden. Die letzte Phase der Operation zur Befreiung der Stadt selbst begann am 6. Juni 2017 und dauert seitdem an. Wenn es auch keine unabhängig bestätigten Zahlen gibt, so sind in dieser finalen Phase bisher mindestens 200 arabische, kurdische, assyrische und ausländische Kämpfer*innen zu Tode gekommen. Die SDF kontrolliert etwa 60 Prozent der Stadt, in der Berichten zufolge von den ehemals etwa 5 000 IS-Kämpfern noch immer 1 500 ausharren (Mittlerweile haben die SDF das Stadtzentrum von Raqqa befreit, Anm.d.Red., 11.9.2017). Tausende Zivilist_innen wurden von SDF-Kämpfer_innen aus Raqqa evakuiert und mehr als Tausend haben sich den Reihen der SDF angeschlossen, um zur Befreiung beizutragen.

Gründe für einen Befreiungsversuch Raqqas

Als 2016 zum ersten Mal von einer Operation der (YPG-geführten) Syrischen Verteidigungsarmee zur Befreiung Raqqas vom Islamischen Staat (IS) die Rede war, hielten einige dagegen – neben panarabistischen oder anti-kurdischen Kräften und Staaten wie Syrien und der Türkei auch nationalistische Kurden: »Warum geht die YPG nach Raqqa? Das ist kein kurdisches Gebiet.« Auch wenn die dahinterstehenden Überlegungen unterschiedlich waren, so glichen sich doch Motive und Beweggründe ihrer Herangehensweise: Nationalismus und Etatismus. Nationalistische Kurd*innen sind nicht auf eine Partei oder ideologische Gruppe beschränkt. Vor allem in den sozialen Medien argumentierten sie, kein kurdisches Blut solle für arabisches Land vergossen werden. Die YPG solle sich auf die Verteidigung der vornehmlich kurdischen Demokratischen Föderation Nordsyrien (DFNS) konzentrieren. Hinzukamen anti-kurdische Akteure, insbesondere die die Regierungen der Türkei und Syriens, die behaupteten, dass die YPG die Region von der arabischen Bevölkerung ›säubern‹ und eine kurdische Herrschaft installieren werde. 

Die Türkei argumentierte wie üblich, die YPG sei nichts als eine Verlängerung der Kurdischen Arbeiterpartei PKK und somit eine terroristische Organisation. Was keine Erwähnung fand, die lokalen und tribalen Führungen von Raqqa hatten sich mit öffentlichen Aufrufen an die SDF gewandt und sich mit diesen – und ihrer zivilen Schwesterorganisation, dem Demokratischen Rat Syriens (SDC) – über die Befreiung ihrer Stadt abgesprochen. Zwar ist Raqqa eine vorwiegend arabische Stadt, zu deren 220.000-köpfigen Bevölkerung zählten aber laut dem Zensus von 2004 auch 20 Prozent kurdische und zehn Prozent armenisch-christliche Einwohner*innen. Als 2013 die islamistisch-dschihadistische Al-Nusra-Front (der syrische Arm der Al-Qaida) die Kontrolle über die Stadt übernahm, musste fast die gesamte kurdische und christliche Bevölkerung vor der Verfolgung fliehen. Anfang 2014 weitete der IS, der seit dem Fall des Regimes einen Stützpunkt in Raqqa aufgebaut hatte, seine Kontrolle über die gesamte Stadt aus. Später im Jahr, nachdem die Organisation Mosul gestürmt und einen Genozid an den kurdischen Jesidinnen und Jesiden in Sindschar (Shengal) verübt hatte, verschleppten IS-Kämpfer Tausende von versklavten Frauen und Kindern in ihre selbsterklärte Hauptstadt in Syrien. Viele von ihnen sind vermutlich noch heute dort. 

Für die 2015 gegründete SDF, die einzige multi-ethnische, multi-religiöse kämpfende Kraft in Syrien – vorwiegend aus arabischen und kurdischen, jedoch auch aus assyrischen, turkmenischen und armenischen Milizen bestehend –, wären diese Verfolgungen und Verschleppungen bereits ein ausreichender Grund gewesen, eine Operation gegen Raqqa zu unternehmen. Hinzu kam die historische und strategische Bedeutung, die die Stadt sowohl für die islamistschen Dschihadisten, als auch für die künftige Sicherheit und den Erfolg Rojavas hat. Wäre die Operation nicht begonnen worden, so wäre der IS weiterhin eine unmittelbare Bedrohung für den relativen Frieden und die erreichte Stabilität in Rojava geblieben, und damit auch ein Hindernis auf dem Weg zu einer Lösung der syrischen Krise. Dies wiederum hätte die Türkei in ihrer im August 2016 begonnenen Operation »Schutzschild Euphrat« gestärkt, mit der sie die kurdischen Erfolge in Nordsyrien zurückzudrängen versuchte. Die türkische Regierung forderte, dass Milizen der von ihr unterstützten islamistischen Freien Syrischen Armee den Angriff auf Raqqa anführen. Sie setzte die US-geführte Koalition bis zuletzt erfolglos unter Druck, die Unterstützung des Vorstoßes der SDF auf die Stadt zu beenden. 

Vor allem bemängelte die Türkei, dass die SDF hauptsächlich aus kurdischen Einheiten bestünden und arabische Kräfte in ihr so gut wie nicht vorhanden seien. Dieser Behauptung wurde von den SDF sowie vom Pentagon widersprochen, welches erklärte, die SDF bestünde zu etwa 60 Prozent aus arabischen Kräften. Ankara versuchte daraufhin mit dem Vorschlag die SDF zu spalten, die türkische Armee könne die Raqqa-Operation ja gemeinsam mit den arabischen Teilen der SDF durchführen. Diese Manöver hatten aber auch eine positive Seite: In Scharen schlossen sich arabische Jugendliche, die Ankaras Einmischung in Minbic und anderen vorwiegend arabisch besiedelten Gegenden ablehnten, daraufhin den SDF an. Ohne eine YPG-SDF-geführte Operation drohte außerdem eine Offensive auf die Stadt durch das syrische Regime – das derzeit mit seinen Truppen vor den Toren der IS-Hochburg Deir ez-Zor im Südosten von Raqqa steht –, wodurch das gesamte föderale Projekt zur Lösung des syrischen Konflikts geschwächt worden wäre. Ein Vormarsch des Assad-Regimes oder der Türkei auf Raqqa hätte darüber hinaus die chaotischen Frontstellungen in Syrien weiter verkompliziert.

Raqqas reiche kulturelle und ökonomische Geschichte

Raqqa, am nordöstlichen Ufer des Euphrats gelegen, ist eine Ölstadt mit wichtigen Verbindungsstraßen nach Damaskus, Palmyra und zum Irak. Die Geschichte der Stadt reicht bis in die hellenische Zeit (244 v.Chr.) zurück. Die Stadt spielte eine bedeutende Rolle als Handelsplatz zwischen Byzantinern und dem persischen Sassanidenreich, und sie war bis ins 6. Jahrhundert Schauplatz von Zusammenstößen der beiden hegemonialen Mächte. Kurz nach dem Aufstieg des Islam wurde Raqqa um 640 von einem Weggefährten Mohammeds erobert, General Iyad Ibn Ghanm, und bekam seinen heutigen Namen. Bei der Aufgabe der Stadt unterzeichneten die Christen einen Vertrag mit Ibn Ghanm, der es ihnen erlaubte, weiterhin in der Stadt zu leben und dort ihrem Glauben nachzugehen. Allerdings wurde ihnen der Neubau von Kirchen verboten. Viele autochthone christliche Gruppen und Juden halfen den anrückenden Muslimen, um den belastenden Steuern durch die Byzantiner und Perser zu entgehen. 

Die Minderheiten in der Stadt behielten auch nach der muslimischen Eroberung ihre eigenen Gesetze und Rechtssprechungen bei. In Raqqas unmittelbarer Umgebung ereignete sich auch eine der wichtigsten Entwicklungen in der islamischen Geschichte, was erklärt warum die Stadt für Organisationen wie den IS eine solche Bedeutung besitzt: Die Schlacht von Siffin, auf die die Teilung des Islam in Schia und Sunna zurückgeht, wurde nur 28km westlich der Stadt geschlagen. Im Jahr 769 machte der Kalif Harun al-Rashid Raqqa zur Hauptstadt des Abbasidenreiches. Während der folgenden Jahrhunderte wurde Raqqa auch zu einer Heimstatt für Beduinen, Kurden, Turkmenen und Tschetschenen. Die Stadt erlebte Zusammenbrüche und Aufstiege, zuletzt in den 1950er Jahren rund um den Baumwollhandel. Doch immer blieb sie ein  bedeutendes Zentrum für Handel und Kultur im Land.

Der Zivile Rat Raqqas und die Hoffnungen für die Zeit nach dem IS

Dieser kurze historische Überblick sollte ausreichen, um die geographische und strategische Bedeutung Raqqas zu verdeutlichen, ebenso wie seinen kulturellen und ökonomischen Reichtum in Vergangenheit und Gegenwart. So wird aber auch ein soziologisches Verständnis von Raqqa möglich. Die Stadt könnte, unter der richtigen Verwaltung, zu einem positiven Beispiel und Prototyp eines demokratischen und föderalen Syriens werden. Ilham Ehmed, die Ko-Vorsitzende des Demokratischen Rates Syriens (SDC), brachte dies direkt nach Beginn der Kampagne für Raqqa auf den Punkt: »Eine solche Verwaltung könnte ein Beispiel für den demokratischen Wandel in Raqqa schaffen, insbesondere da die Stadt für Jahre die faktische Hauptstadt der terroristischen Gruppe IS gewesen ist. Diese Errungenschaft würde einen enormen Wandel der gesamten Situation in Syrien bedeuten und dem Land helfen, sich in Richtung Stabilität und demokratische Transformation zu bewegen. Raqqa wird ein Beispiel für das ganze Land sein.« (aranews.net, November 2016) Der im April 2017 von der SDC gegründete Zivile Rat von Raqqa besteht aus etwa 120 Menschen. An seiner Spitze steht eine feministische kurdische Ko-Vorsitzende und ihr arabischer männlicher Amtskollege. Der Rat repräsentiert die lokale Bevölkerung Raqqas und schließt alle ethnischen und religiösen Gruppen der Stadt sowie einige Mitglieder lokaler Stämme ein. Schon jetzt hat er damit begonnen, unermüdlich Zivilist*innen zu unterstützen, die vor dem IS gerettet wurden, und erstellt Pläne für den Wiederaufbau des Lebens in Raqqa nach dem IS. 

Beispielsweise diskutierten Delegierte bei einem Treffen mit Funktionären der US-geführten Koalition im Juli die Themen Entminung, Wiederaufbau, Aufarbeitung, Hilfsleistungen und humanitäre Arbeit. Die Koalition lässt dem Zivilen Rat eine politische Anerkennung und Unterstützung zuteil werden, die sie Rojava selbst bisher verweigert. Der Rat hat sich verpflichtet, schon im Mai 2018 demokratische Wahlen in Raqqa abzuhalten. Dann soll auch eine Entscheidung darüber gefällt werden, ob Raqqa sich der autonomen Region Rojava anschließen oder eine eigene autonome Region bilden wird. Erwartet wird, so offizielle Stellen, dass die Entscheidung zugunsten eines demokratischen föderalen Projekts ausfällt. Die Befreiung von Raqqa wird eine ähnliche strategische Bedeutung haben wie Mitte 2016 die von Minbic, einer ebenfalls kulturell diversen und historisch reichen Region, in der sich laut den vorliegenden Berichten das föderale Projekt und die Einführung lokaler Demokratie als großer Erfolg erwiesen haben. 

Mit seiner Geschichte, seiner Lage und seinen Ressourcen sowie seiner sozialen Wirklichkeit kann Raqqa zu einem weiteren Stützpfeiler eines föderalen, säkularen und demokratischen Syrien werden. Auf der Grundlage des zuerst von den kurdischen Revolutionär*innen Rojavas entworfenen Ansatzes können die verschiedenen Bevölkerungsteile Syriens und kann auch Raqqa Sicherheit erreichen und die Grundlagen für eine kommunale, von geschlechtergerechten und ökologischen Vorstellungen bestimmte Gesellschaftsordnung gelegt werden. So wie zuvor die Befreiung Rojavas von Assad-Regime und reaktionären Gruppen zur nun bevorstehenden Befreiung Raqqas und der ultimativen Niederlage des IS in Syrien führt, wird Raqqas Freiheit und Demokratisierung die Kurd*innen und Rojava vor künftigen Angriffen und Teile-und-herrsche-Politiken schützen und dabei die Perspektiven einer Lösung des Kriegs in Syrien stärken. Dies wird der größte Schlag gegen die Kräfte sein, die nur von Instabilität, Krieg und Zerstörung zehren: den IS selbst, und die reaktionären nationalistischen Haltungen der anderen Staaten und Gruppen in der Region. 

Dieser Artikel erschien im August bei The Region
Aus dem Englischen von Corinna Trogisch