Im Jahr 1917 rief die US-amerikanische National Tuberculosis Association (NTA) einen modernen Gesundheitskreuzzug aus. Die Modern Health Crusade mobilisierte Zehntausende Freiwillige und startete eine bis dahin beispiellose Kampagne. Ihr Ziel war es, neue Verhaltensnormen im Alltag durchzusetzen, um die als Infektionskrankheit erkannte Tuberkulose zu bekämpfen.Ausspucken in der Öffentlichkeit und gemeinsam genutzte Trinkbecher sollten ebenso der Vergangenheit angehören wie geteilte Betten (auch von Ehepartner*innen) und Mikroben beherbergende Männerbärte. Die Anti-TB-Kampagnen waren Teil einer Verhaltensrevolution, die von den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen des späten 19. Jahrhunderts angestoßen wurden. Die Entdeckung von Bakterien (und später Viren) als Krankheitserreger wurde, wie die Historikerin Nancy Tomes (1998) zeigt, in ein »Evangelium der Keime« übersetzt. Maßnahmen der öffentlichen Gesundheitsvorsorge zielten nicht länger nur auf öffentliche Räume, sondern verlagerten sich in die privaten Wohnungen, in denAlltag – vor allem der Frauen – und in die Konsumgewohnheiten. Die Verkündung des Evangeliums lässt sich als ein Zusammenspiel zivilgesellschaftlicher Initiativen, staatlicher Zwangsmaßnahmen und massenmedial beworbener Geschäftsmodelle beschreiben. Die im Namen der Gesundheit verkauften neuen Güter reichten vom Porzellan-WC über Mundwasser bis zum Staubsauger, die neuen Verhaltensweisen umfassten etwa das heute selbstverständliche Abkochen von Babyfläschchen oder die skurril anmutende Warnung, Kinder keinesfalls auf den Boden zu setzen.
Wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts verlangt uns die Covid-19-Pandemie heute den Verzicht auf alte Gewohnheiten und das Einüben neuer Routinen ab – von Social Distancing über Maskentragen im Alltag bis zu regelmäßigen Corona-Tests. Der Medizinhistoriker Robert Aronowitz wies jüngst auf diese historischen Parallelen hin und schloss eine Beobachtung an: »Einer der vielen verstörenden Aspekte der gegenwärtigen Situation ist, dass selbst Praktiken, die breite Unterstützung unter Mediziner*innen und Gesundheitsexpert*innen genießen, wie das Tragen von Gesichtsmasken, aufs Engste mit parteipolitischen Überzeugungen und Identitäten verknüpft werden.« Dies stehe im krassen Gegensatz zu den von Tomes beschriebenen Reformen der Lebensführung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die eine Art »public health citizenship« konstituiert und als »neutrale Grundlage zur Ausbildung eines Konsenses« in der Gesellschaft gedient hätten (Aronowitz 2020, 789).
Ablehnungskultur und Hegemoniekrise
Die Anti-Corona-Maßnahmen fügen sich in einen gesellschaftlichen Zustand ein, in dem es den politisch Herrschenden nur schlecht gelingt, Konsens unter den Beherrschten zu generieren. Mehr noch: Selbst jene gesellschaftlichen Institutionen, die lange weitgehend unbestritten als Autoritäten anerkannt waren, werden nun hinterfragt. Das betrifft den Staat und seine Institutionen, internationale Organisationen, etablierte Medien einschließlich der öffentlich-rechtlichen und selbst naturwissenschaftliche und technische Expertise. Relevante Bereiche der Gesellschaft werden von Haltungen des Misstrauens und der Ablehnung erfasst. Zugespitzt findet diese Dynamik Ausdruck in den Massenprotesten gegen die Anti-Corona-Maßnahmen, die seit Sommer 2020 teils in offener Missachtung behördlicher Verbote in fast allen Städten des deutschsprachigen Raums stattfinden. Auch im Alltag treffen die meisten von uns im Bekannten- oder Verwandtenkreis auf mehr oder weniger elaborierte Verschwörungserzählungen oder zumindest auf ein artikuliertes Bauchgefühl, wonach da irgendwas faul sei an der Corona-Sache.
Die politischen Konflikte und Verwerfungen, die wir über das vergangene Jahr beobachten konnten, und die darin enthaltenen renitenten Haltungen sind nicht erst mit der Pandemie entstanden. Sie gründen auf bestehenden gesellschaftlichen Bruchlinien. Wir haben diese Phänomene schon vor Corona untersucht und für sie den Begriff der Ablehnungskulturen vorgeschlagen: alltägliche Haltungen und Sinnstrukturen, die sich über die Ablehnung von als machtvoll wahrgenommenen Institutionen und Eliten einerseits, von als minderwertig oder gefährlich wahrgenommenen »Anderen« andererseits definieren (Harder/Opratko 2021; Opratko 2020a). Mithilfe von Interviews, informellen Gesprächen und Beobachtungen erforschen wir, inwiefern in diesen Ablehnungskulturen die Verarbeitung von Veränderungen im Arbeits- und Alltagsleben zum Tragen kommt.[ref]Unsere Forschung beruht auf ethnografischen Studien und Interviews mit Beschäftigten im Einzel-handel sowie in der Logistikbranche in fünf europäischen Ländern. Wir beziehen uns im Folgenden auf Ergebnisse aus Deutschland und Österreich; vgl. Harder/Opratko 2021 und www.culturesofrejection.net.[/ref] Nun stellt sich die Frage, ob die in der Coronakrise neu aufgeladenen Ablehnungskulturen Hinweise auf einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Prozess geben, der das politische Terrain der Gegenwart prägt. Ist es angebracht, Corona-Demos, grassierende Verschwörungsmythen oder die Abwendung von etablierten Medien und Parteien als Symptome einer Hegemonie- oder Autoritätskrise zu lesen? Wenn ja, hätte das weitreichende Folgen für linke Politik.
Der Begriff der Hegemoniekrise geht auf den italienischen Marxisten Antonio Gramsci und dessen in den 1920er und 1930er Jahren verfasste »Gefängnishefte« zurück. Gramsci erklärt die Stabilität und Widerstandskraft bürgerlicher Herrschaft damit, dass es bestimmten Teilen des Bürgertums gelingt, ihre Interessen als Allgemeinwohl gelten zu lassen und durch selektive Zugeständnisse und die Ausbildung integrativer Institutionen den Konsens der Beherrschten zu organisieren. Gelingt es ihnen, eine »politisch-ethische Hegemonie« zu erlangen (Gramsci 1991, 1567), tragen die Massen sogar drastische Veränderungen ihres Alltags als vernünftig und notwendig mit. Unter diesem Gesichtspunkt kann die Geschichte vom »Evangelium der Keime« gramscianisch gelesen werden: als Epidemiepolitik unter Bedingungen gelingender Hegemonie. Umgekehrt sei die Hegemonie in der Krise, so Gramsci, wenn »die herrschende Klasse den Konsens verloren hat […], die großen Massen nicht mehr an das glauben, was sie zuvor glaubten«. Das passiere nicht mit einem Schlag, sondern in einem Prozess, der sich über Jahrzehnte erstrecken könne und den Gramsci als »Interregnum« bezeichnet, in dem »das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann« und in dem es »zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen« komme – eine in diesen Tagen dunkel hallende Metapher. Subjektiv drücke sich die Krise als verallgemeinerter »Skeptizismus« aus, der sich insbesondere auf Ökonomie und Politik beziehe: Als Motiv der Herrschenden werde deren individueller ökonomischer Vorteil angenommen, Politik als unehrliches, zynisches Geschäft verstanden. »Krise« in diesem hegemonietheoretischen Sinne bedeutet also im Kern »Autoritätskrise« (ebd., 354f). In unseren Begegnungen mit Arbeiter*innen, die zentraler Bestandteil unserer Untersuchung sind, treten Elemente einer solchen Autoritätskrise – im Misstrauen gegenüber Demokratie und Politik sowie Medien und Wissenschaft – immer wieder zutage.
Verschwindende Politik
Vor Ausbruch der Pandemie dominierte in den meisten Gesprächen die Wahrnehmung eines machtlosen Staates. Unsere Interviewpartner*innen berichten von Verschlechterungen des alltäglichen Lebens, von steigendem Arbeitsdruck und drohenden Kündigungen wie von Naturgewalten oder göttlichen Fügungen. Selbst jenen, die ›die Politik‹ formal in der Verantwortung sehen, etwa Einkommensungleichheiten vorzubeugen, erscheint diese weder als handlungsfähige Akteurin noch als etwas, worauf sie Einfluss nehmen könnten. Wahlen seien wichtig, beteuern viele, doch deren Konsequenzen bezweifeln die meisten. Die Möglichkeit demokratischer Einflussnahme gibt es in ihren Augen eigentlich nicht, oder sie sehen sie nicht als wünschenswert an (Opratko 2020b). Viele unserer Gesprächspartner*innen teilen ihr Leben in zwei Sphären: Hier die Arbeit, wo die harten Anforderungen, die hierarchischen Kommandostrukturen und der wachsende Druck zwar beklagt, aber als Schicksal hingenommen und nicht selten als Leistungsprinzip verinnerlicht werden. Dort das Privatleben, das als Sphäre der Erholung und Zerstreuung im überschaubaren Rahmen von Familie und engem Freundeskreis verbracht wird. Schon vor der Coronapandemie wurden soziale Kontakte freiwillig eingeschränkt, die Lebenswelt als erweiterte Privatsphäre gestaltet und sich von Gesellschaftlichkeit abgewandt.
Was aktiv abgelehnt wird, ist das Öffentliche, das, was liberalen Theoretiker*innen als Arena der Demokratie gilt. Politiker*innen erscheinen in unseren Gesprächen öfter als egomanische Medienpersönlichkeiten denn als Entscheidungsträger*innen. »Steckst die alle in ein’ Sack und haust drauf, triffst keinen Falschen«, spottet eine Einzelhandelskauffrau aus Nordbayern. ›Politik‹ ist ein Unwort. Die durchaus vorhandene Aktivität im Stadtteil oder im Ehrenamt soll als ›soziales Engagement‹, nur bitte nicht als ›politische Arbeit‹ verstanden werden. Mit einer Klarheit, die sich nur an der Kneipentheke entwickeln lässt, erklärt uns ein Interviewpartner diesen Zusammenhang: Er wähle eigentlich nicht und er sehe in der Politik keinerlei Konsequenzen für seinen Alltag. Wenn jetzt eine andere Partei käme, was würde sich großartig ändern? Klar, die große Ungleichheit zwischen den Menschen sei ein Problem. Aber das sei natürlich. »Das ist halt ein ganz normaler Kapitalismus, in dem wir leben«, sagt er zwischen den Zügen an seiner E-Zigarette.
Die Muskeln des Staates
Die Kneipe ist inzwischen pandemiebedingt geschlossen und ob unser Gesprächspartner auch nach dem letzten Jahr noch von Normalität sprechen würde, wissen wir nicht. Denn nun scheint der Staat Muskeln anzuspannen, die er lange nicht bewegt hat. Er sprengt Fesseln, nicht zuletzt als überwachende und strafende biopolitische Instanz. Der Staat »tritt wieder in die Mitte des Lebens«, so der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht im Frühjahr 2020 in der Neuen Zürcher Zeitung, die politische Regulierung des Alltags sei beispiellos. In typischer Manier hält der bürgerliche Intellektuelle seine Partikularerfahrung für das Allgemeine und übersieht, dass es von Klassen- und Diskriminierungsverhältnissen abhängt, welche Rolle der Staat im je eigenen Leben spielt. Neu ist tatsächlich, dass repressive Staatsapparate auch in den Alltag der oberen und mittleren Klassen eindringen, also jener Klassenfraktionen, die dem Staat bislang hauptsächlich in Gestalt lästiger Steuererklärungen und Radarfallen auf Bundesstraßen begegnet sind und die ihre eigene staatliche Privilegierung gar nicht wahrgenommen haben. Das mag ein erklärender Faktor für die Überpräsenz kleinbürgerlicher und freiberuflicher Milieus bei Protesten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen sein. Es wäre aber verfehlt, sie darauf zu reduzieren. Vieles spricht dafür, dass wir es (wie bei der Wähler*innenbasis rechtspopulistischer Parteien) mit einer klassenübergreifenden Allianz zu tun haben (Nachtwey et al. 2020).
Grundlagen dieser Allianz sind rassistisch aufgeladene Leistungsideologien, antisozialistisches Ressentiment, Selfmademan-Mythen und ein ins Nihilistische drehender Hyperindividualismus. Diesen Phänomenen sind wir auch in unserer Forschung begegnet – selbst bei jenen, die als Arbeiter*innen und einfache Angestellte vom neoliberalen Kapitalismus überausgebeutet werden. Hinzu kommt, dass bestimmte Teile des Proletariats – vor allem rassistisch diskriminierte und von der Ökonomie überflüssig gemachte – renitent auf Anrufungen eines Staates reagieren, der sie nie als vollwertige Bürger*innen anerkannt hat. Wenn Bundes- und Landesregierungen, Stadt- und Gemeindeverwaltungen jetzt plötzlich »alle gemeinsam« zu einer großen antipandemischen Anstrengung mobilisieren wollen, verfängt das schlecht unter Menschen, die bislang kaum einmal ›mitgemeint‹ waren und im öffentlichen Diskurs sonst nur als Problem vorkommen.
Infodemie und Expertise
Mit der Pandemie greift auch die Sorge vor einer »Infodemie« um sich, die WHO diagnostiziert die Zunahme von Desinformation in den sozialen Medien und einen Verlust an Deutungshoheit. Zwei Dinge werden daran deutlich: Die essenzielle Stellung kalifornischer Technologieunternehmen und ein tiefes Unbehagen mit der neuen digitalen Öffentlichkeit.
Ohne Tech-Billionäre wie Mark Zuckerberg, Jack Dorsey oder Jeff Bezos ist globale Politik heute weder zu denken noch zu machen. Ihre Plattformen sind als privatwirtschaftliche Infrastrukturen nicht nur für politische Kommunikation, sondern für planetare Politik überhaupt essenziell. Die Gewinner des »Screen New Deal« (Klein 2020) stellen Forschungsdaten, Rechenkapazitäten und automatisierte Beratungsstellen bereit, schalten kostenlose Werbeanzeigen für Gesundheitsorganisationen und versprechen, die Bearbeitung der Pandemie so reibungslos wie möglich zu gestalten. Dass dabei essenzielle politische Aufgaben den privaten Infrastrukturen von Google, Amazon und Facebook übertragen werden, gerät oft aus dem Blick.
Gleichzeitig verweist die Rede von der Infodemie darauf, dass viele ein großes Unbehagen mit der Rolle etablierter Kommunikationskanäle in einer von sozialen Medien fragmentierten Öffentlichkeit verspüren. In Deutschland wurde darauf mit einer besonderen Konstellation aus etablierten Publikationen, neuen digitalen Formaten und virologischem Expertenwissen reagiert. Die mediale Großoffensive lief über die Kanäle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sowie über die großen Tages- und Wochenzeitungen. Begriffe wie Inzidenz, Reproduktionswert und Übersterblichkeit wurden zur Umgangssprache einer Pandemiepolitik, die versucht, sich fest auf die Grundlagen wissenschaftlicher Evidenz zu stellen. Spätestens seit dem Winter 2020 zeigt diese Konstellation jedoch Risse. Widersprüche zwischen epidemiologischen Einschätzungen und uneindeutigen Lockerungen schüren Misstrauen hinsichtlich der Regierungspolitik. In Form der »Querdenker« griffen die auf Politik und Medien fokussierten Ablehnungskulturen im letzten Jahr auf medizinisch-technisches Wissen über. Impfgegnerschaft, Esoterik, Kritik an Schulmedizin und profitgetriebener Pharmaindustrie, aber auch an den »Staatsmedien« oder der »Lügenpresse« riefen den alten Soundbite des britischen konservativen Michael Gove ins Gedächtnis. 2017 entgegnete dieser den Warnungen von Wissenschaftler*innen vor den Folgen eines EU-Austritts: »Die Leute haben genug von Experten!«
Dunkle Medien
»Ich habe seit sechs Jahren keinen Fernseher mehr – komplett weg«, berichtet uns eine Verkäuferin stolz, »und ich will ihn auch nicht mehr.« Erschöpfung und Skepsis hinsichtlich Expertentum und Massenmedien, aber auch Sorgen vor Zensur oder Wut über versteckte Motive oder Manipulationen der öffentlich-rechtlichen Medien kommen in unseren Begegnungen regelmäßig zur Sprache. Ein Netzwerk aus ›unabhängigen‹ Informationsquellen wirkt da attraktiver. Im Internet finde sie alle Neuigkeiten und beim Rest wisse man auch nicht, welche Interessen dahinterstünden. Vor allem auf Youtube könne sie sich besser und selbstständiger weiterbilden, lerne täglich Neues, über das wahre Durchschnittsalter des Menschen, über spirituelle Energien und richtige Ernährung.
Die Sorge um die Gesundheit ist verständlich, doch die tief sitzende Skepsis gegenüber etablierten Medien gibt zu denken. Denn dem vermeintlichen »Staatsfunk« steht inzwischen eine Ökologie aus Protestplattformen und alternativen Medien entgegen, die von der Abwesenheit redaktioneller Standards und der schnellen und reibungslosen Weiterverbreitung sensationeller Schlagzeilen profitiert. Besonders der Messengerdienst Telegram hat sich in der Pandemie zum Leitmedium der »Querdenker« entwickelt. Die deregulierten und klandestin anmutenden Gruppen und Kanäle bieten ein Gegenmodell nicht nur zu den klassischen öffentlich-rechtlichen Massenmedien, sondern auch zu der neu domestizierten Öffentlichkeit von Facebook und Twitter. Pausenlos mischen sich hier antisemitische Verschwörungstheorien mit Spendenaufrufen und Werbeanzeigen für Survival-Dosenfleisch. Die strengere Regulierung auf den etablierten sozialen Medien verstärkt eine Abwanderung hin zu »Dark Social Media« wie Telegram, in denen sich die Rhetorik deutlich verschärft und mit deren Hilfe ihre Imageträger*innen inzwischen ihren Lebensunterhalt finanzieren.
Unsere Gespräche deuten jedoch über die algorithmischen Besonderheiten der digitalen Infrastruktur, ihrer Tendenz zur Fragmentierung von Öffentlichkeit und zur Verstärkung sensationeller Inhalte hinaus. In ihnen zeigt sich, dass die Skepsis gegenüber etablierten Medien von dem Bedürfnis begleitet ist, lebensweltliche Zusammenhänge eigenständig zu verstehen. »Querdenken«, so argumentieren auch Quinn Slobodian und William Callison (2021), entspringt nicht nur der alten Idee der strategischen »Querfront«, sondern kombiniert Esoterik mit dem individualistischen Out-of-the-box-Denken der Start-up-Ideologie. Frei, selbstgerichtet und im Gestus antiautoritär bestätigt dieser Modus der Wahrheitsfindung allerdings die antisemitischen und rassistischen Ressentiments, die schon vorher als wahr gefühlt wurden. Versuche, durch Massenmedien im großen Stil virologische Wissenschaftskommunikation zu betreiben und die verschwörungsideologische Bewegung als »Covidioten« abzuwiegeln, laufen daher im besten Fall ins Leere und katalysieren im schlimmsten Fall die Situation. Denn das Bedürfnis, das dem Querdenken zugrunde liegt, speist sich aus der Notwendigkeit, die Realität der Pandemie und die Widersprüche ihrer politischen Bearbeitung in einen Sinnzusammenhang zu bringen. Dabei bedient es sich ideologischer Versatzstücke, die lange vor Corona gesellschaftlich verankert und teilweise sogar aufgewertet waren.
Kein Schaf sein
Dass die Geschichte vom »Evangelium der Keime« einem liberalen, von der Präsidentschaft Trumps posttraumatisch belasteten Historiker wie Aronowitz als Vergleichsfolie willkommen ist, verwundert nicht. Denn sie erzählt vom Segen bürgerlicher Hegemonie. Von aufgeklärten Eliten angeführt, verbindet sie wissenschaftlichen Fortschritt, staatliche Vernunft und Unternehmergeist zum Wohle eines einsichtigen Volkes. Die Verhaltensrevolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts fiel mit der Progressive Era in den Vereinigten Staaten zusammen, in der Sozialreformen mit Fortschrittsdenken, kapitalistische Wohlstands- mit wissenschaftlichen Effizienzversprechen zusammentrafen. Die neuen Verhaltensnormen wurden Teil einer liberal-kapitalistischen Hegemonie und zur kaum hinterfragten Selbstverständlichkeit. Dies durchaus zum medizinischen Wohl der Vielen: Der ›epidemiologische Übergang‹ gelang, Übertragungs- wie Todesraten der Infektionskrankheiten sanken drastisch, auch vor der Erfindung wirksamer Vakzine.
Doch die Geschichte kann auch anders erzählt werden. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts traten die ersten organisierten Impfgegner*innen auf: Eine populare – oder populistische? – Allianz aus Mittel- und Arbeiterklasse sowie urbanen Armen kämpfte im viktorianischen England gegen die verpflichtende Pockenimpfung (Durbach 2005). Auch in den USA der Progressive Era waren neue Maßnahmen zum Infektionsschutz nicht unumstritten. Widerstand kam von Kleinunternehmer*innen und Gewerbetreibenden, die sich gegen teure Hygieneauflagen wehrten. Aber auch arme Arbeiter*innen protestierten, als gemeinsam genutzte Trinkbecher neben öffentlichen Brunnen abgeschafft wurden und jene, die auf das kostenlose Trinkwasser angewiesen waren, sich nun eigene Becher kaufen mussten. Und ähnlich wie in der Coronapandemie richteten sich Repression und Disziplinierung vor allem gegen die unterdrückten Teile der lohnabhängigen Klassen. »Für viele amerikanische Arbeiter*innen«, schreibt Tomes, »trat die mit dem Evangelium der Keime verbundene Verhaltensrevolution in Form eines autoritären Regimes, eingesetzt von Arbeitgeber*innen oder Gesundheitsbehörden, in ihr Leben« (Tomes 1998, 182), wovon Migrant*innen und die Nachfahren Schwarzer Sklav*innen in besonderem Maße betroffen waren.
All das sprach damals und spricht heute nicht gegen Maßnahmen zum öffentlichen Gesundheitsschutz. Die Hinweise auf Widersprüche und Konfliktlinien sollen aber deutlich machen, dass linke Politik sich nicht einfach zum Trägermedium evidenzbasierter Epidemiologie machen darf, sondern die Realität einer von Patriarchat und Rassismus gespaltenen Klassengesellschaft in Rechnung stellen muss. Tut sie das nicht, besteht die Gefahr, dass linke Politik auf eine Stabilisatorenfunktion zusammendampft und sich in eine strukturkonservative, Macht, Ordnung und Vernunft verteidigende Allianz aus Konservativen, Liberalen und Linken eingliedert. Umgekehrt erlauben das pandemische Geschehen, die politische Dynamik und die soziokulturellen Tiefenströmungen aber auch nicht, sich einfach zum politischen Ausdruck der Ablehnungskultur zu machen. Die Linke findet sich also – darauf weisen auch Umfragen hin, die eine in Corona-Fragen tief gespaltene Wählerbasis ausweisen – in einer Zwickmühle wieder. Sie soll sich keinem Evangelium verschreiben, das im Namen einer angeblich vorpolitischen Instanz Wahrheiten verkündet. Sie hat aber auch nichts zu gewinnen, wenn sie sich an einer letztlich dystopischen Form der Politisierung als Infokrieg beteiligt, in der jede Aussage zur Meinung wird und jede Meinung zum Missile im Kulturkampf.
Die Herausforderung ergibt sich aus der zutiefst widersprüchlichen Natur der Ablehnungskulturen. Sie sind einerseits fest in eine autoritäre Dynamik eingespannt. Wer versucht, ihre Energien im Modus der Anbiederung anzuzapfen, reißt das eigene Projekt ins Verderben – und im schlimmsten Fall viele Menschen in den Tod. Zugleich aber gilt es anzuerkennen, dass die Ablehnungskulturen selbst Verarbeitungsformen von Widersprüchen des real existierenden Kapitalismus sind. In ihnen scheinen rebellische Traditionen, Herrschaftskritik und Selbstaktivierung auf. Die Skepsis gegenüber abgeschotteten Machteliten und profitorientierter Industrie ist schließlich wohlbegründet. Das Misstrauen gegenüber Massenmedien und die Skandalisierung ihrer Verstrickung mit Staat und Kapital war einst Urbestandteil linker Kritik. Der Wunsch, kein Schaf zu sein, das von wohlmeinenden Hirten geführt wird, ist ein im Kern autonom-plebejisches Begehren. Das Insistieren darauf, sich selbst ein Bild von den Zusammenhängen zu machen, und die in Verschwörungsideologien allgegenwärtige Aufforderung, »selbst zu recherchieren«, ist ein demokratisches Motiv. Wenn die Linke all dem entgegenhält, dass das Volk in der Ausnahmesituation einfach tun und glauben soll, was die Autoritäten anmahnen und die Auskenner*innen sagen, wenn sie sich nur als besserer Hirte anbietet, hat sie ihre historische Funktion aufgegeben.
Eine neue Hegemonie schaffen
Damit kehren wir zur These von der Hegemoniekrise zurück. Für Gramsci war die Krise bürgerlicher Hegemonie nicht nur das Gärbecken, aus dem das Gift des Faschismus emporstieg, sondern auch Möglichkeitsbedingung für den Sozialismus. Die Linke konnte scheitern, wie Gramsci selbst erfahren musste, aber was ihre Aufgabe war, schien ihm klar: »die Regierten von den Regierenden […] unabhängig zu machen, eine Hegemonie zu zerstören und eine andere zu schaffen« (Gramsci 1991, 1325). Er warnte die Linke davor, sich in die Hegemoniebestrebungen der bürgerlichen Gruppen einzupassen, für Konsens und gesellschaftlichen Zusammenhalt über Klassengrenzen hinweg zu agitieren:
»Die Philosophie der Praxis […] ist nicht das Regierungsinstrument herrschender Gruppen, um den Konsens zu haben und die Hegemonie über subalterne Klassen auszuüben; sie ist der Ausdruck dieser subalternen Klassen, die sich selbst zur Kunst des Regierens erziehen wollen und die daran interessiert sind, alle Wahrheiten zu kennen, auch die unerfreulichen, und die (unmöglichen) Betrügereien der Oberklasse und erst recht ihrer selbst zu vermeiden.« (ebd.)
Die »Philosophie der Praxis«, wie Gramsci den Marxismus nennt, ist demnach weder wissenschaftliche Erkenntnis noch Ausdruck eines Klasseninteresses, sondern Ergebnis eines Willens: Des Willens der Beherrschten, sich selbst zu regieren, und damit die menschheitsgeschichtliche Aufgabe zu schultern, die Gesellschaft vernünftig einzurichten. Was jedoch heute verloren gegangen ist, ist nicht nur das Vertrauen der Subalternen in die Herrschenden, sondern ihr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und der Wille, kollektiv Verantwortung zu übernehmen für das Gemeinsame. Der plebejische Wille zur Macht und das Selbstvertrauen in den Sozialismus, die Gramsci selbst im Kerker des italienischen Faschismus noch als Gegebenheiten annehmen konnte, wurden den Arbeiter*innen in Europa über Jahrzehnte erfolgreich ausgetrieben. Eine Linke, die aufhören will zu scheitern, müsste sich also langfristig ihrer Aufgabe im »Interregnum« vergewissern. Die sollte nicht darin bestehen, das Vertrauen in die Autoritäten wiederherzustellen, sondern darin, das Vertrauen der Massen in die Demokratie, in die Selbstregierung, in sich selbst – und die dafür notwendigen Infrastrukturen – aufzubauen.