Inzwischen scheint sich das Weiße Haus fast beiläufig von seinem ohnehin schwachen Bekenntnis zu progressiver Politik verabschiedet zu haben. Eine Woche nach Erscheinen eines der bedrohlichsten Berichte in der Geschichte der Menschheit, der in gewisser Weise die bevorstehende Dezimierung der Armen auf dieser Welt ankündigte, hielt der Präsident eine Ansprache an die Nation ohne eine einzige Erwähnung des Klimawandels. (Dieser scheint gegenüber der transzendentalen Dringlichkeit, die NATO umzustrukturieren und auszubauen, plötzlich zu vernachlässigen zu sein.) Und Trayvon Martin und George Floyd sind jetzt nur noch so etwas wie bedauernswerte Unfallopfer, die rasch aus dem Sichtfeld des Rückspiegels der Präsidentenlimousine geraten sind, mit der sich Biden durch die Gegend kutschieren lässt und überall den Polizisten versichert, er stehe ganz und gar auf ihrer Seite.
Aber das Ganze ist nicht einfach ein Verrat an linken Idealen: Die Linke in den USA trägt nämlich Mitverantwortung für diese trostlose Lage. Denn kaum etwas von den Energien, die die Occupy-Bewegung, Black Lives Matter und die Wahlkampagnen von Bernie Sanders freigesetzt haben, hat sie genutzt, um neue Antworten auf globale Fragen zu finden oder um eine neue Politik der internationalen Solidarität zu entwickeln. Ähnlich düster sieht es bei der Expertise und den intellektuellen Vorbildern in Bezug auf die US-amerikanische Außenpolitik aus. Einst profitierte die Linke von radikalen Denkern und Kritikern wie I.F. Stone, Isaac Deutscher, William Appleman Williams, D.F. Fleming, John Gerassi, Gabriel Kolko oder Noam Chomsky, um nur einige zu nennen. Leider hat man hier den notwendig gewordenen Generationenwechsel versäumt.
Der Vorwurf, mit dem Verständnis und der Bewältigung der aktuellen epochalen geopolitischen Herausforderungen überfordert zu sein, trifft auch auf die Europäische Union zu. Vor allem in Deutschland, das sein wirtschaftliches Wohlergehen an den Handel mit China und das Erdgas aus Russland geknüpft hat, droht ein eklatanter Orientierungsverlust. Die Regierungskoalition in Berlin zeichnet sich durch Duckmäusertum aus und erweist sich, gelinde gesagt, als unfähig, einen alternativen Weg hin zu Wohlstand und mehr Schutz der Umwelt einzuschlagen. Ähnliches gilt für Brüssel: Selbst wenn die Gefahr, die von Russland ausgeht, den Laden zwischenzeitlich wieder belebt hat, bleibt es doch die Hauptstadt eines gescheiterten Superstaates, einer Union, die nicht in der Lage war, einen gemeinsamen Umgang mit der Migrationskrise, der Pandemie oder den gern den starken Mann markierenden Staatschefs in Warschau und Budapest zu finden. Eine erweiterte NATO, die sich hinter einem neuen Eisernen Vorhang verschanzt, wird wohl kaum die Lösung sein und könnte sich am Ende als schlimmer erweisen als die Krankheit, die sie vorgeblich heilen will.
Alle zitieren Gramsci und seine These von der großen Krise als Interregnum, aber dabei wird davon ausgegangen, dass automatisch etwas Neues entstehen wird oder entstehen könnte. Das jedoch bezweifle ich. Was wir meiner Meinung stattdessen diagnostizieren müssen, ist ein Gehirntumor der herrschenden Klasse, eine zunehmende Unfähigkeit, ein kohärentes Verständnis von dem weitreichenden Wandel zu entwickeln, dem die Welt derzeit unterliegt, und von diesem ausgehend zu definieren, was die gemeinsamen Interessen der Menschheit sind, und diese mit umfassenden und nachhaltigen Strategien zu verfolgen.
Zum Teil zeigt sich hier der Siegeszug eines pathologischen Präsentismus, der alles kurzfristigen Überlegungen und Kalkülen unterstellt und vor allem dazu dient, es den Superreichen zu ermöglichen, innerhalb ihrer Lebenszeit alles Schöne und Gute auf dieser Erde zu genießen und durch ihren Hyperkonsum zu zerstören. (Michel Aglietta betont in seinem kürzlich erschienenen Buch „Capitalisme: Le temps des ruptures“ die Beispiellosigkeit dieser sich derzeit auftuenden Kluft, die den uns nachfolgenden Generationen enorme Opfer abverlangt). Die Gier hat sich soweit radikalisiert und verselbstständigt, dass sie keiner politischen Vordenker*innen oder organischen Intellektuellen mehr bedarf, sondern nur noch Fox News und einer ausreichenden Datenübertragungsrate. Wenn es hart auf hart kommt, wird Elon Musk eine Fluchtbewegung der Milliardär*innen anführen, die den Planeten Erde einfach hinter sich lässt.
Es kann auch sein, dass die Herrschenden deswegen so blind sind, weil ihnen der durchdringende Blick fehlt, den nur eine revolutionäre Situation oder Sichtweise, ob nun von bürgerlicher oder proletarischer Seite, erlaubt. Ein revolutionäres Zeitalter mag in Kostümen der Vergangenheit auftreten (wie Marx in „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ dargelegt hat). Es definiert sich aber dadurch, dass die Möglichkeiten einer gesellschaftlichen Neuordnung erkannt werden, die sich aus technologischen und wirtschaftlichen Innovationen sowie neuen Kräfteverhältnissenn ergeben. In Ermangelung eines externen revolutionären Bewusstseins und eines drohenden Aufstands bringen die alten Ordnungen keine eigenen (Alternativ-)Visionen mehr hervor.
An dieser Stelle möchte ich auf eine Kuriosität hinweisen: Am 16. Februar dieses Jahres hielt Thomas Piketty an der National Defense University des Pentagons einen Vortrag im Rahmen einer regulären Vorlesungsreihe mit dem Titel „Reaktionen auf China“. In diesem sprach der französische Wirtschaftswissenschaftler davon, dass die richtige Antwort „des Westens“ auf Pekings Hegemoniebestrebungen darin bestehe, sein „veraltetes hyperkapitalistisches Modell“ aufzugeben und stattdessen eine „neue emanzipatorische und egalitäre Perspektive für die ganze Welt“ einzunehmen. Ein eigenartiger Ort und Anlass, um für den demokratischen Sozialismus zu werben.
Mittlerweile hat die Natur wieder die Zügel der Geschichte in die Hand genommen, indem sie mit einer enormen Gewalt in einer Art Notwehr den Menschen und Mächten die Kontrolle über natürliche und technische Infrastrukturen raubt, die Imperien einst für sich beanspruchten. Vor diesem Hintergrund scheint das „Anthropozän“ mit seiner prometheischen Ausrichtung besonders schlecht zur Wirklichkeit des apokalyptischen Kapitalismus zu passen.
Man könnte meinem Pessimismus entgegenhalten, zumindest China sei hellsichtig, wo sich alle anderen als blind erweisen. Fraglos ist Chinas Vision eines vereinten Eurasiens, sein Projekt der neuen Seidenstraße, ein beeindruckender Zukunftsentwurf, vermutlich der weitreichendste, seitdem die Sonne des „Amerikanischen Jahrhunderts“ 1945 über der kriegszerrütteten Welt aufging. Doch das, was Chinas Genialität in den Jahren 1949 bis 1959 und 1979 bis 2013 ausmachte, war die „neo-mandarinistische“ Praxis der kollektiven Führung, zentralisiert, aber vielstimmig. Xi Jinping, der den Thron von Mao bestiegen hat, ist wie der Wurm im Apfel. Obwohl er Chinas wirtschaftlichen und militärischen Einfluss gestärkt hat, könnte er mit seiner fahrlässigen Entfesselung des Ultranationalismus am Ende eine nukleare Büchse der Pandora öffnen.
Wir erleben gerade die Albtraumversion von „Große Männer machen Geschichte“. Anders als in der Hochphase des Kalten Krieges, als Politbüros, Parlamente, Kabinette und Generalstäbe dem Größenwahn ganz oben noch etwas entgegensetzen konnten, gibt es heute nur noch wenige Sicherheitsschalter zwischen den politischen Machthaber*innen und Armageddon. Noch nie lag so viel geballte wirtschaftliche, mediale und militärische Macht in so wenigen Händen. Anlass genug, um solchen Helden wie Alexander Berkman, Alexander Iljitsch Uljanow und dem unvergleichlichen Scholom Schwartzbard in Ehren zu gedenken.
Dieser Beitrag erschien zuerst im New Left Review.
Aus dem Englischen übersetzt von Britta Grell